Gegen das Vergessen

Ein Gespräch über antifaschistische Erinnerungsarbeit an wohnunglose Opfer rechter Gewalt

Im öffentlichen Gedenkdiskurs über Opfer rechter Gewalt tauchen Wohnungslose nur am Rande auf. Aber auch in antifaschistischen Zusammenhängen scheint diese Betroffenengruppe wenig Beachtung zu finden. Wir sprachen mit Vertreter\_innen des „Polit-Cafés Azzoncao“ aus Bochum und der Koblenzer „Initiative ‘Kein Vergessen’“ über konkrete Erfahrungen in der lokalen Erinnerungsarbeit.

Im öffentlichen Gedenkdiskurs über Opfer rechter Gewalt tauchen Wohnungslose nur am Rande auf. Aber auch in antifaschistischen Zusammenhängen scheint diese Betroffenengruppe wenig Beachtung zu finden. Wir sprachen mit Vertreter_innen des „Polit-Cafés Azzoncao“ aus Bochum und der Koblenzer „Initiative ‘Kein Vergessen’“ über konkrete Erfahrungen in der lokalen Erinnerungsarbeit.

Könnt ihr kurz schildern, wie es dazu kam, dass ihr euch mit der Thematik „Soziale Ausgrenzung“ und Gewalt ge­gen Wohnungslose beschäftigt?

Polit-Café Azzoncao (A): Dies kam über ei­ne generelle Auseinandersetzung mit Opfern rechter Gewalt, die Ende 2007 mit einer Bochumer Demonstration zur Er­mordung des spanischen Antifaschisten Carlos Palomino begann. Dieser Mord in Madrid und weitere in Tschechien und Russland animierten uns, uns generell mit Morden an Anti­fa­schis­t_in­nen in Europa auseinanderzusetzen und Demonstrationen und Graffitis dazu zu machen. Parallel begannen wir uns zu fra­gen, wie in Bochum Erinnerungsarbeit zu Opfern rechter Gewalt aussehen könnte. Es existierte keine Form der Er­in­nerungskultur jenseits des Gedenkens der Opfer der NS-Zeit von 1933 bis 1945. Zu faschistischen Überfällen, Brandanschlägen und Gewaltakten gab es keine öffentliche Erinnerung. Nicht einmal das Wissen, dass es Tote gab.
Den Mord an dem Frührentner Josef Gera im Oktober 1997 in Bochum zu thematisieren, lag da nahe. Mitglieder unserer Gruppe hatten damals Recherchen zu Josef Gera gemacht, und so verfügten wir über die nötigen Erkenntnisse für ein solches Vorhaben. Das Gedenken wur­de dann von der Antifaschistischen Jugend Bochum (AJB) und unserer Gruppe initiiert. Die erste Demonstration fand im Oktober 2008 statt und rückte selbst­verständlich Homophobie und Gewalt gegen sogenannte gesellschaftliche Rand­gruppen in den Fokus. So kam eins zum Anderen.

Kein Vergessen (KV): Im Dezember 2010 organisierten wir einen Bus nach Ha­chen­burg im Westerwald. Dort fand eine Gedenkdemo für Nihad Yusufoglu statt, der am 28. Dezember 1990 von einer Gruppe Neonazis vor seinem Elternhaus abgefangen und erstochen wurde. Das war für uns der Anlass, uns mit dem Mord an Frank Bönisch in Koblenz intensiv zu beschäftigen, der am 24. August 1992 auf dem Koblenzer Zentral­platz von einem Neonazi erschossen wur­de. Der Zentralplatz war zu dieser Zeit ein Treffpunkt für Punks, Woh­nungs­lose, Drug-User_innen und weitere Menschen. In der Öffentlichkeit wur­de der große Teil dieser Menschen als wohnungslos wahrgenommen. Auch im Gerichtsurteil wurde das Motiv des Tä­ters als „Hass auf Obdachlose/Sozial Randständige“ bezeichnet. Es gab 1992 noch einen weiteren Mord an einem Woh­nungslosen in der Region. In der Nacht des 31. August 1992 wurde Dieter Klaus Klein im Stadtpark von Bad Breisig von zwei betrunkenen Naziskins umgebracht.

Bei dem Mord an Josef Anton Gera in Bochum handelte es sich um ein homophobes Tatmotiv. Bei den antifaschistischen Gedenkdemonstrationen lässt sich feststellen, dass der inhaltliche Fokus von Homophobie hin zu „Soziale Ausgrenzung“ bzw. Gewalt gegen Wohnungslose erweitert wurde...

A: Als wir 2008 mit der ersten Demonstration begannen, wollten wir keine ein­malige Kundgebung machen, sondern hatten vor, eine jährliche Demo zu etablieren und diese mit Veranstaltungen zu begleiten. Einerseits sollten die jährlichen Demos als strukturierendes Element zum Aufbau von antifaschisti­schen Strukturen beitragen. Andererseits war es uns wichtig, das Thema rechte Gewalt und die Solidarität mit den Op­fern in der politischen Szene zu veran­kern und über eine kontinuierliche Arbeit zu einem Bestandteil der Stadtge­schich­te zu machen. Das Einbeziehen wei­terer Gruppen und Menschen, die von rechter Gewalt betroffen sind, verstand sich dabei von selbst. Wir wollten Menschen verschiedener Spektren zu­sam­menführen. Natürlich auch woh­nungs­lose Menschen und Leute, die sich hier sozial engagieren. Der Mord an ei­nem vietnamesischen Obdachlosen in Neuss im März 2011 führte allen die Aktualität des Themas vor Augen.

Welche Rolle hat in der Erinnerungsarbeit an Josef Gera die Tatsache gespielt, dass die neonazistischen Täter selbst Wohnungslose waren?

A: 1997 hatte Josef Gera bei seinem Auf­­finden von „rechtsradikalen Skinheads“ berichtet. Als er drei Tage später im Krankenhaus verstarb, war der Mord ein großes Thema in der lokalen Presse. Dies änderte sich schlagartig, als der so­zia­le und ökonomische Hintergrund der Täter und deren homophobe Motive be­kannt wurden. Dazu kam die Strategie der Staatsanwaltschaft, die Tat zu entpolitisieren und von einer vermeint­li­chen Exzesstat zu sprechen. Hier griffen Vorbehalte gegen das Milieu wohnungs­loser Menschen, Vorurteile gegen Schwule und Opportunismus – staatli­chen Organen wurde die Definitionsgewalt überlassen – ineinander. Die Bochu­mer Provinzblätter spielten natürlich mit. Auf der Kundgebung für Josef Gera waren 1997 nur zirka 40 Wohnungslose, sozial Engagierte und Antifas. Vertreter_innen oder Anhänger_innen linker Organisationen hast du nicht gesehen. Sie reden halt ger­ne von Ausgrenzung und Marginalisierung, aber halten sich fern. Es ist be­zei­chnend, wie schwer sich linke Organisationen mit dem Gedenken tun. Bis heu­te kämpft das Erinnern an Josef Gera mit diesen gesellschaftlichen Stereoty­pen. Allein der damaligen Recherche und dem Gedenken der letzten Jahre ist zu verdanken, dass Josef Gera nicht ver­gessen wurde.

Welche Reaktionen gab es in Koblenz von Seiten der Politik und Stadtgesellschaft auf die Arbeit eurer Initiative?

KV: Bevor wir uns mit dem Mord an Frank beschäftigten, gab es kein öffent­liches Gedenken in Koblenz. Viele Menschen konnten sich nicht mehr erinnern oder hatten noch nie etwas von dem Mord gehört. So etwa auch der Oberbür­ger­meister, den wir bei einem Treffen über unsere Arbeit und unser Anliegen informierten. Von ihm bekamen wir Unterstützung, ebenso von vielen weiteren Einzelpersonen und Gruppen, mit denen wir über den Zentralplatzmord spra­chen. Ähnliche Erfahrungen machten wir mit den Medien. Die einzige offene Absage kam vom AStA der Uni Koblenz.
In der Initiative arbeiten Einzelpersonen mit verschiedenen Hintergründen zu­sam­men, unterstützt von Gruppen der Koblenzer Zivilgesellschaft. Das Spektrum reicht von Antifa und linken Gruppen über Gewerkschaften und Jugendverbände bis zu sozialkritischen christ­li­chen Organisationen. Besonders am Her­zen liegt uns die Zusammenarbeit mit Jugendlichen aus einem städtischen Jugendzentrum. Die Parteipolitik spielt bei uns in der Initiative keine Rolle, da wir bewusst darauf achten, überpar­tei­lich zu arbeiten. Wir wollen mit unserer Arbeit nicht vereinnahmt werden.

In der Diskussion um ein angemessenes Gedenken an die rassistischen Gewalttaten Anfang der 1990er Jahre wurde die Kritik geäußert, dass in der Erin­ne­rungs­arbeit oft über die Betroffenen gesprochen wird statt mit ihnen. Nur selten wird den Forderungen, Vorstellungen und Perspektiven der Betroffenen Raum gegeben. Wie ist das in eurer Arbeit?

A: Wir hatten früher sehr viel und heute relativ viel Kontakt mit Betroffenen rech­ter Gewalt. Das liegt daran, dass wir uns an die Betroffenen selber wenden. In den 1990er Jahren sind wir in die Flücht­lingswohnheime, zu den Roma und den Migrant_innen, den Wohnungslosen oder zu Punks gegangen. Heute gehen wir zu den bedrohten Migrant_innen im Bochumer Stadtteil Langendreer. Bei Veröffentlichungen ach­ten wir darauf, dass die Interessen der Betroffenen und Verwandten gewahrt werden. Dennoch ist fast jeder Kontakt temporär, weil sich unsere Realitäten an diesem gemeinsamen Punkt rechter Ge­walt treffen und es an einem gemeinsa­men Alltag mangelt.

KV: In unserer Initiative arbeiten meh­re­re Menschen mit, die mit Frank be­freun­det waren. Wir haben versucht, mit al­len, die 1992 angeschossen wurden, Kontakt aufzunehmen. Es war uns wich­tig, dass sie mit unserem Vorgehen und der Forderung nach einer Gedenktafel am Ort der Tat einverstanden waren. Wir haben gezielt Projekte aus Koblenz ein­gebunden, die mit Obdachlosen und sozial Ausgegrenzten arbeiten. Neben Re­debeiträgen auf der Kundgebung 2011 und der Demo 2012 haben wir ge­mein­sam eine Veranstaltung zu den Mor­den und der heutigen Ausgrenzung von Obdachlosen organi­siert, um die Ver­bindungen zwischen Nazigewalt und gesellschaftlicher Ausgrenzung zu thematisieren.

In der antifaschistischen Linken werden Opfer rechter Gewalt, die nicht zum ei­ge­nen Milieu gehören, oft wenig be­achtet. Während zur jährlichen Silvio-Meier-Demo aus dem ganzen Bundesgebiet Antifas anreisen, waren die Ge­denk­aktionen an wohnungslose Opfer rechter Gewalt deutlich kleiner und fanden selten überregionale Beachtung. Teilt ihr diese Wahrnehmung?

A: Ja, das ist leider so. Die politische Lin­ke und große Teile der Antifa drehen sich um sich selbst. Das macht sie un­glaub­würdig und unattraktiv.

KV: Wir haben unterschiedliche Erfah­rungen gemacht. Frank verstand sich selbst als Alternativer und Antifaschist, er beteiligte sich an Anti-Nazi-Aktionen. Diese Selbstdefinition spielte für die Öffentlichkeit bisher nie eine Rolle. Er wur­de stets als Wohnungsloser wahr­ge­nom­men und dargestellt. Mit der Betei­li­gung aus Koblenz und Umgebung an der Kundgebung 2011 und der Demo mit Abschlusskonzert 2012 sind wir ganz zu­frie­den. Auswärtige Antifagruppen ha­ben kaum bis gar nicht reagiert, einige waren wegen der großen Demo zu „20 Jahren Lichtenhagen“ in Rostock am nä­chsten Tag verhindert. Im Vergleich da­zu war die Beteiligung an der Ge­denk­de­mo für Nihad im Westerwald im Dezember 2010 mit mehr als 300 Menschen gut besucht, es waren mehrere Busse von au­ßerhalb angereist. Bei der klar anti­fa­schis­tischen Gedenkkundgebung für Die­­ter Klaus Klein in Bad Breisig im Som­mer 2012 war die Beteiligung gering, auch von unserer Seite. Die gute Zug­­anbindung in die Kleinstadt konnte daran nichts ändern. Es spielt also auch die Art und die Zielgruppe der Mobilisierung eine Rolle.

Im letzten Jahr fand keine Demo in Erinnerung an Josef Gera statt. Wie geht es mit der Erinnerungsarbeit in Bochum weiter?

A: 2012 gab es seitens der AJB eine Flugblattaktion im Umfeld des ehemaligen Kruppgeländes, dem heutigen Westpark. Wir machten ein Graffito für Josef Gera mit dem Titel „Kaltland – Der Tod bleibt ein Meister aus Deutschland“. Darin gedachten wir auch anderer Opfer rechter Gewalt. Wir haben noch ein weiteres Erinnerungsprojekt vor. Aber wir müssen sehen, ob sich das umsetzen lässt. Nach fünf Jahren ist unser Elan etwas erschöpft. Die mangelnde Resonanz, das oftmals identitäre Auftreten von Antifas innerhalb dieses Themenbereiches und die Arbeit zu anderen Themenkomplexen zeigen ihre Wirkung. Aber wir werden dennoch am Ball bleiben.

Und in Koblenz? Wie geht es bei euch weiter?

KV: Auch wir machen weiter. Die Stadt hat unserer Forderung nach einem Gedenkstein entsprochen, der Ende April verlegt werden soll. Wir stehen in Kontakt mit der Stadt, werden an der offiziellen Verlegung beteiligt sein und eine Aktion machen. Derzeit wird ein Workshop erarbeitet, der mit Jugendlichen aus Koblenz in Schulen und Jugendzentren durchgeführt werden soll. Ebenso ist eine Broschüre geplant, die den Mord an Frank und den anderen Betroffenen rechter Gewalt dokumentieren soll.

Wir danken euch für das Gespräch!