Soweit das behördliche Auge reicht

Untersuchungsausschuss zum Mordfall Walter Lübcke

Nach drei Jahren schloss der Untersuchungsausschuss zum Mord an Walter Lübcke seine Arbeit im Juni 2023 ab. Der Ausschuss endete so unspektakulär wie er gearbeitet hat. Schließlich war das Erkenntnisinteresse einzig auf die behördlichen Vorgänge rund um Stephan Ernst und Markus H. beschränkt.

Schon mit dem Einsetzungsbeschluss war klar, dass der Untersuchungsausschuss nur einen sehr beschränkten Fokus haben würde: Einzig der formale behördliche Umgang mit den vorliegenden Informationen zur rechten Szene und ihren Aktivitäten war von Interesse. Weder die Analyse neonazistischer Strukturen und Vernetzungen noch die grundlegende Aufklärung rechter Gewalt waren damit Aufgabe der parlamentarischen Aufarbeitung. Wie um diese Limitierung zu unterstreichen, strukturierten die CDU und der von ihnen gestellte Ausschussvorsitzende die Sitzungen möglichst so, dass weder Zusammenhänge zwischen Themenkomplexen beleuchtet, noch externe Quellen für eine weiterführende Betrachtung herangezogen werden konnten.

Beschränkter Fokus

Beispielhaft für die Unzulänglichkeit eines derart beschränkten Blicks ist der Umgang mit den sogenannten „NSU-Akten“. In dem im Oktober 2022 von FragDenStaat und dem ZDF Magazin Royale geleakten Geheimbericht wurde das Wissen des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz zu möglichen Bezügen hessischer Neonazis zu den Morden des NSU zusammengetragen. Es zeigte sich erneut, dass es der Behörde nicht an Informationen fehlte: „So finden sich zahlreiche Meldungen über Schießtrainings, Waffen- und Sprengstoffbeschaffung und auch Bezüge ins Netzwerk des NSU. Doch kaum einer dieser Meldungen wurde auch nachgegangen. Der Geheimdienst sitzt faktisch auf einem Pulverfass an Informationen, aber unternimmt nichts“, so die antifaschistische Rechercheplattform EXIF, die eine detaillierte Auswertung des Berichts veröffentlichte. Die Behörde stellt im Bericht selbst fest, dass die Meldungen kaum bewertet werden könnten, da ihnen zum Erhebungszeitraum nicht nachgegangen worden sei. Dennoch kommt sie zu dem Schluss, dass trotz all der Informationen zu Waffen, Gewalt, Sprengstoff und möglichen Untergrundorganisationen „keine Hinweise auf oder Informationen zu einem terroristischen Verhalten von Rechtsextremisten“ festzustellen seien. EXIF resümiert: „Den Mitarbeitenden fehlt offensichtlich die Kompetenz, die Informationsbausteine zu einem Gesamtbild zusammen zu fügen, rechten Terror zu erkennen und dessen Netzwerke zu begreifen.“

Ebenso wenig wie sich aus dem Geheimbericht eine Analyse der extremen Rechten in Hessen ableiten lässt, war auch der Auftrag des Untersuchungsausschusses auf die Aufdeckung extrem rechter Aktivitäten rund um den Mord an Walter Lübcke ausgelegt. Von Interesse war lediglich die formale Richtigkeit der Behördenvorgänge. Dementsprechend lieferte der Untersuchungsausschuss wenig neue Erkenntnisse. Eine qualitative Analyse der extrem rechten Aktivitäten und Vernetzungen rund um den Mord an Walter Lübcke war weder gewünscht noch zu erwarten.

Erweiterung der Perspektive notwendig

Um zu Erkenntnissen zu gelangen, die über eine Kritik der Arbeitsabläufe hinausgeht, und um eine Beurteilungsgrundlage für die Analysen der Sicherheitsbehörden zu haben, sind behördenexterne Erkenntnisse von zivilgesellschaftlichen, antifaschistischen Initiativen und Recherchegruppen grundlegend. Sie ermöglichen die Kontrastierung der behördlichen Perspektive, so dass Akteninhalte zum Gegenstand einer kritischen Beurteilung werden können, wie etwa die Auswertung von EXIF zum Geheimbericht zeigt. Ohne zusätzliche Informationen bieten sich kaum Möglichkeiten, die in Akten gegossenen behördlichen Wahrheiten zu hinterfragen. Sie sind notwendig, um die Narrative der Sicherheitsbehörden kritisch einzuordnen. Ohne diese Informationen basiert die Untersuchung behördlichen Handelns lediglich auf dem Wissen eben jener Behörden und führt sich damit selbst ad absurdum. Im Untersuchungsausschuss zum Mord an Walter Lübcke wurden zwar stellenweise externe Informationen herangezogen, jedoch unterband der Vorsitzende (CDU) dies meist auf Grundlage des Einsetzungsbeschlusses, da die Informationen über den Untersuchungsgegenstand des behördlichen Handelns hinausgingen — sie hatten ja nicht vorgelegen.

Auch in der Befragung von Beamt:innen im Untersuchungsausschuss nützt der Einbezug externen Wissens nicht zwangsläufig etwas. Beispielhaft lässt sich das an der Aufarbeitung von Gewalttaten zeigen, für die in der Rückschau ein rechtes Motiv nahegelegt werden kann, wie im Fall der Schüsse auf den Kassler Wagenplatz 2001, den NSU Watch in dem Text „Alte Fälle, neue Fragen“ öffentlich machte. Lässt sich in den Akten der Behörden dazu nichts finden, ist die Frage von behördlicher Seite aus erledigt. Keine:r der Mitarbeitenden hat Erkenntnisse über den Fall, keine Frage kann beantwortet werden. Aussagen wie „Keine Erkenntnisse“, „noch nie gehört“, „weiß ich nicht“ bilden das Mantra des Antwortverhaltens der Mitarbeitenden der Sicherheitsbehörden. Die Aufklärung ist somit beendet, bevor sie angefangen hat, da weitere Nachfragen auf Spekulation abzielen würden, was bei Befragungen im Ausschuss zu unterbleiben hat.

Betroffenenperspektiven fehlen

In dem Maße, wie die Aufklärungsarbeit sich auf behördliche Unterlagen bezieht, blendet sie gleichermaßen marginalisierte Perspektiven aus. Dabei ist beispielsweise der Einbezug der Betroffenenperspektive ein gewinnbringender Ansatz, der rechte Gewalt nicht nur hinsichtlich ihrer Erscheinungsform, sondern insbesondere hinsichtlich ihrer Wirkungsweise beurteilbar macht. Beratungsstrukturen, antifaschistische Gruppen und Solidaritäts-Strukturen betonen seit Langem, dass die Perspektiven von Betroffenen rechter Gewalt eine ausgeprägte Expertise beinhalten, und sie die Botschaften der Taten häufig besser deuten können als die Ermittelnden der Polizei. Trotz der Europäischen Opferschutzrichtlinie, der Reform des Definitionssystems für politisch motivierte Kriminalität und den Handlungsempfehlungen des NSU-Bundestagsuntersuchungsausschusses, die als Lehre aus den rassistischen Ermittlungen zum NSU den Einbezug der Betroffenenperspektive einfordern, weisen behördliches Handeln und somit auch die Akten hier zumeist eine Leerstelle auf.

Den Akten zum versuchten Mord an Ahmed I. lässt sich beispielsweise entnehmen, dass sich dieser aufgrund anhaltender rechter Vorkommnisse an seinem Wohnort bedroht fühlte. Die Polizei unterließ es jedoch, sich um Opferschutz und die Wiederherstellung des Sicherheitsgefühls von Ahmed I. zu kümmern, da seine Erzählungen schlicht abgetan wurden. Bis heute ist unbekannt, wer die Hakenkreuze ein gutes halbes Jahr nach dem Mordversuch vor seine Unterkunft auf die Straße sprühte. Eine Theorie der Polizeikräfte war, dass der Betroffene die Vorgänge selbst inszenierte, um sich Vorteile zu verschaffen. Im Untersuchungsausschuss konnte diesem Narrativ in den Befragungen der Beamt:innen kaum etwas entgegengesetzt werden, da das Argument, es habe sonst keine Hinweise gegeben, schwer zu widerlegen war. Dabei bleibt festzuhalten, dass es auch keine Hinweise auf eine Inszenierung durch Ahmed I. gab. Es ist zu vermuten, dass hier das strukturell rassistisch gefärbte „Erfahrungswissen“ der Polizeikräfte für die Beurteilung ausschlaggebend war.

Das Potenzial der Leerstelle

Ein Potential von Aufklärungsarbeit im Untersuchungsausschuss liegt auch in der Betrachtung des Nicht-Handelns von Behörden, das viel über die Prioritätensetzung und Analysefähigkeit der Sicherheitsbehörden aussagen kann. Es konnte beispielsweise im Rahmen des Untersuchungsausschusses herausgearbeitet werden, dass den Sicherheitsbehörden der strukturelle Wandel der extremen Rechten von „Kameradschaften“ und Parteien hin zur rassistischen Protestbewegung ab 2014 entging. Der nordhessische PEGIDA-Ableger KAGIDA wurde als Sammlung „besorgter Bürger“ verstanden, was die Beteiligung bekannter Neonazi-Kader, NPD-Parteifunktionäre und Vertreter:innen der „Neuen Rechten“ fahrlässig ignorierte. Wer bei KAGIDA aufmarschierte, wer sich dort vernetzte, war zwar bereits früh Teil der Analyse antifaschistischer Initiativen. Die Sicherheitsbehörden entschieden sich hingegen, die inhaltliche Anschlussfähigkeit von KAGIDA an rassistische Narrative und rechte Diskurse in ihrer Analyse auszublenden und die rassistische Mobilisierung als „bürgerlich“ zu verharmlosen. Somit nahmen sie sich selbst die Grundlage für eine Beobachtung. Mitarbeitende von Polizei und Verfassungsschutz versicherten bei Befragungen im Ausschuss wiederholt, es habe eine Analyse zu KAGIDA gegeben. Eine Einstufung als „rechtsextremistisch“ sei seitens des Verfassungsschutzes aber nicht möglich gewesen. Ein Beweisantrag, der explizit die Akten zu KAGIDA anforderte, erbrachte, dass lediglich Einsatzberichte vorlagen. Die angebliche Analyse entpuppte sich so als Farce und legte die desaströse Arbeit der Sicherheitsbehörden offen. Das Versagen bezüglich der Einschätzung von KAGIDA hatte Folgen für die formalen Vorgänge in den Behörden. Ohne eine Beobachtung der Gruppierung fielen auch die Teilnehmenden aus der Beobachtung. Neonazis, Parteikader und Vertreter der „Neuen Rechten“ tummeln sich in den Leerstellen der Behördenakten, die sich nur vor dem Hintergrund antifaschistischer Recherche erkennen lassen. Keine Erkenntnisse bedeuten in der Logik des Verfassungsschutzes auch keine Aktivitäten. Die Nicht-Beobachtung von KAGIDA wurde also zum Schlupfloch für Teile der extremen Rechten, die ihre menschenverachtenden Inhalte aufgrund der mangelhaften Analyse der Sicherheitsbehörden nun völlig unbehelligt auf die Straße tragen konnten. Diese Verharmlosung einer rassistischen Protestbewegung lässt sich durch ein einfaches Sichten der Akten nicht erkennen — weil es keine Vorgänge, keine Analysen, keine Protokolle zu einer rassistischen Protestbewegung gibt. In den Akten der Sicherheitsbehörden existiert KAGIDA nur als angemeldete Kundgebung. Im gleichen Zeitraum nahm der Verfassungsschutz 1.345 Personendatensätze aus dem Bereich „Rechtsextremismus“ aus der Bearbeitung, da keine neuen Erkenntnisse generiert werden konnten.

Den Behörden in die Karten schauen

Der Untersuchungsausschuss zum Mord an Walter Lübcke war durch seinen Auftrag und durch seinen Fokus auf die Betrachtung behördlichen (Nicht-)Handelns von vorn herein begrenzt. Es ging nicht um die umfassende Aufklärung rechter Gewalt und auch nicht um die grundlegende Aufklärung der Frage, unter welchen Voraussetzungen die verhandelten Gewalttaten begangen werden konnten — oder gar hätten verhindert werden können. Dennoch mussten sich die Behörden durch den Ausschuss erneut in die Karten blicken lassen, und die Einblicke sind gewinnbringend. Weniger weil neues Wissen über die extreme Rechte zutage getreten wäre, sondern weil der Ausschuss die Möglichkeit bot, die antifaschistische Analyse des Behördenhandels zu schärfen.

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