Etwa seit der Jahrtausendwende lässt sich von einer „Zivilisierung der Kurven“ sprechen, die mit der Durchsetzung antirassistischer Mindeststandards sowie einer relativ klaren Abgrenzung von extrem rechten Erscheinungsformen verbunden war. Dies kann in einem Zusammenhang mit dem Aufkommen der Ultrabewegung und der Erlangung der Kurvenhegemonie durch diese, einer starken soziodemografischen Verschiebung innerhalb des Stadionpublikums sowie einem verstärkten zivilgesellschaftlichen Engagement von Vereinen und Verbänden gesehen werden. In den letzten zwei Jahren ist allerdings eine gewisse Renaissance des extrem rechten Flügels der Fankultur zu beobachten.
Ein Verein, der dabei in den vergangenen Monaten immer wieder in die Schlagzeilen geriet, ist Eintracht Braunschweig. Das mag zum einen daran liegen, dass der Verein durch seine ungeahnten sportlichen Höhenflüge in der 2. Bundesliga derzeit ohnehin verstärkt im Fokus der Medien steht. Es lässt sich aber ebenso gut damit erklären, dass der Fall Braunschweig in hohem Maße beispielhaft ist für fast alles, was beim Umgang mit extrem rechten Umtrieben im Fußball falsch gemacht werden kann. So wird in der dortigen Fanszene die offenkundige Präsenz von Neonazis weitgehend als unproblematisch angesehen, „solange diese Leute uns nichts tun“, wie Vorsänger Thilo Götz es gegenüber der Zeitschrift 11 Freunde unfreiwillig deutlich auf den Punkt bringt. Ein Großteil des Unmuts des Braunschweiger Anhangs richtet sich nicht gegen Neonazis, rechte Hooligans und Rassist_innen in den eigenen Reihen – selbst Holger Apfel, Vorsitzender der NPD und bekennender Fan der Eintracht, kann mehr oder minder ungestört das Stadion besuchen. Ins Visier rücken vielmehr diejenigen, die den Finger in die Wunde legen und das Problem offen ansprechen. Das sind in Braunschweig vor allem die Ultras Braunschweig und die Initiative gegen rechte (Hooligan-)Strukturen.
Letztere hat im Oktober vergangenen Jahres die Broschüre kurvenlage herausgegeben, in der detailliert die Verflechtungen von Einzelpersonen und Gruppen wie den Alten Kameraden oder Kategorie Braunschweig mit der Neonazi-Szene nachgewiesen werden. Während ein Sprecher der Polizei gegenüber dem NDR von 20 bis 30 Neonazis in der Braunschweiger Kurve sprach, wollte Soeren Oliver Voigt, der Geschäftsführer der Eintracht, nur von „maximal fünf, sechs, sieben Personen“ wissen. Dieses Verschließen der Augen vor den wahren Dimensionen ist leider auch sehr repräsentativ für den Umgang vieler Vereine mit Neonazis im eigenen Umfeld.
In der Vergangenheit wurde das Problem mit neonazistischen und extrem rechten Fußballfans oft als ein „Ostproblem“ abgestempelt. Die bekannt gewordenen Vorfälle der letzten Zeit verdeutlichen aber, dass es auch im Westen der Republik vielerorts Probleme mit Neonazis, Rassist_innen und rechten Hooligans im Fußball gibt. Bei Werder Bremen zum Beispiel existieren seit nunmehr Jahrzehnten und allen progressiven Tendenzen in der dortigen Ultraszene zum Trotz etablierte extrem rechte Hooliganstrukturen. Bereits seit langem aktiv ist die Gruppe Standarte 88. Angehörige der Vereinigung wurden 2011 vom Amtsgericht Bremen für schuldig befunden, 2007 eine Feier der Bremer Ultragruppe Racaille Verte angegriffen zu haben. Bei einem Überfall auf das alternative Kulturprojekt Wohnwelt in Wunstorf nahe Hannover im Mai 2012 trugen einige der Angreifer_innen ebenfalls Insignien der Gruppe. Zuletzt sorgte Nordsturm Brema, die Nachwuchsgruppe der Standarte, für Schlagzeilen, nachdem Spiegel TV ein Video gesendet hatte, in dem Mitglieder der Gruppe bei einer offensichtlich verabredeten Hooliganschlägerei mit Hakenkreuz-T-Shirts zu sehen waren.
Eindeutiger Schwerpunkt extrem rechter Umtriebe im westdeutschen Fußball ist jedoch NRW. In keinem anderen der alten Bundesländer ist die Zahl von Vereinen, die ein veritables Problem mit extrem rechten Anhänger_innen haben vergleichbar hoch, und auch die Ausmaße der Probleme sind hier mancherorts wahrhaft erschreckend.
Insbesondere gilt dies für Alemannia Aachen. Über Jahre hinweg kam es dort immer wieder zu Vorfällen mit extrem rechtem Hintergrund. Vor allem die antirassistische Gruppe Aachen Ultras (ACU) war beständiges Ziel von Anfeindungen, Bedrohungen, „Hausbesuchen“ und körperlichen Angriffen (vgl. Lotta #50, S. 46). Während sich die Aachen Ultras aktiv gegen Rassismus, Homophobie und andere Formen der Diskriminierung positionierten, kannte die Karlsbande Ultras (KBU), die zweite und größte Ultragruppe in Aachen keinerlei Berührungsängste zur aktiven Neonaziszene. Neben Teilen der KBU verfügen auch die beiden Hooligangruppierungen Westwall und Alemannia Supporters über persönliche Kontakte zu Gruppen wie der mittlerweile verbotenen Kameradschaft Aachener Land oder der Kameradschaft Alsdorf-Eupen. Allerdings will nahezu niemand in Aachen die Dimensionen des hauseigenen Naziproblems wahrhaben. Als die Aachen Ultras Anfang Januar ein allerletztes Mal im Pokal bei Viktoria Köln ein Spiel der Alemannia besuchten, wurden sie wiederum von anderen Fans angegriffen und von der Mannschaft bei der Dankesrunde nach dem Spiel demonstrativ ausgelassen. Auch Aachens Trainer René van Eck relativierte das Nazi-Problem indem er den Auseinandersetzungen bescheinigte, dass diese nichts mit Fußball zu tun hätten. Eck laut reviersport: „Wir haben gewonnen, ich fühle mich hervorragend. Alles andere hat nichts mit Fußball zu tun. Diese „Keine-Politik-im Stadion“-Haltung scheinen viele in Aachen zu teilen.
Bei Borussia Dortmund dagegen scheint langsam ein Bewusstseinswandel einzusetzen. Schon in den 80er Jahren trieb dort die teilweise offen neonazistische Borussenfront um Siegfried Borchardt alias „SS-Siggi“ ihr Unwesen. Doch fielen die Neonazis, die es im Dortmunder Stadion immer gegeben hat, in den Zeiten der damaligen großen Erfolge der Borussia in den neunziger Jahren und dem damit in Zusammenhang stehenden massiven Zuschauer_innenzuwachs nicht mehr so sehr auf. In den vergangenen Jahren, in denen es in Dortmund auch abseits des Fußballs zu einem Erstarken der Neonaziszene kam, häuften sich die Vorfälle, bei denen immer wieder auch Mitglieder der rechtsoffenen Ultragruppe Desperados beteiligt waren. Dies veranlasste den Verein schließlich zum Handeln. Gegen mehrere Neonazis wurden Stadionverbote verhängt. Beim Champions-League-Auswärtsspiel im ukrainischen Donezk im Februar 2013 kam es jedoch erneut zu einem Vorfall, als Thilo D., ein Sozialarbeiter des Dortmunder Fanprojekts, von mehreren Neonazis angegriffen wurde.
Anders stellt sich die Situation in Duisburg dar. Bei den im Vergleich zu Dortmund deutlich niedrigeren Zuschauer_innenzahlen – vor allem bei Auswärtsspielen – fallen die „Dutzenden gewalttätigen Neonazis“ (taz) viel stärker auf. Dort hat sich die Situation enorm verschärft, nachdem sich im Sommer 2012 ein Teil der Mitglieder von der Ultragruppe Kohorte abgespalten hat, weil sie deren antirassistischen Konsens nicht mittragen wollten. Dies führte zu einer Verschiebung der kurveninternen Kräfteverhältnisse zugunsten rechter oder rechtsoffener Gruppen wie der Division Duisburg. So fielen im August 2012 bei einem DFB-Pokalspiel in Halle an der Saale mehrere Duisburger Fans durch antisemitische und rassistische Parolen, eine „Good Night Left Side“-Fahne sowie das Zeigen des Hitlergrußes auf.
So unvollständig diese Liste ist, so deutet sie doch an, dass es bei nahezu jedem Verein, der über eine Fanszene verfügt, auch rechte oder zumindest rechtsoffene Fans gibt. Eine direkte Verbindung zwischen Gewalt oder Gewaltbereitschaft und rechten Tendenzen in der Kurve ist nicht zu übersehen. Gewaltaffinität ist ein integraler Bestandteil rechter Weltbilder. Die Ultraisierung der Kurven hat in den letzten Jahren zu einer Veränderung der soziodemographischen Zusammensetzung der Fankurven hin zu einer stärkeren Präsenz der Mittelschicht geführt. Ultragruppen verlangen in hohem Maße Fertig- und Fähigkeiten, die dort weit häufiger zu finden sind als in den unteren Schichten, die noch bis in die 90er Jahre das Bild der Kurve prägten. Ultragruppen gleichen in ihrer Struktur mehr oder weniger demokratisch verfassten Vereinen, während sich Hooligans meist anhand des Rechts des Stärkeren oder des Senioritätsprinzips organisieren – was an sich bereits einem rechten Ideologem entspricht.
Somit spielen in Ultragruppen kommunikative Fähigkeiten und gewaltarme Konfliktlösungsstrategien eine weit größere Rolle, was nicht zuletzt auch in Bündnissen wie Pro Fans seinen Ausdruck findet. In der jüngeren Vergangenheit gerieten diese moderaten, auf gewaltarme Konfliktlösungsstrategien setzenden Teile der Fanszene in eine argumentative Sackgasse, weil sie bei Vereinen und Verbänden zunehmend auf taube Ohren stießen. Als Resultat kam es in vielen Kurven zu einem von einer Art „Jetzt erst recht“ getragenen Wiederaufleben von gewaltaffinen Handlungsweisen. Plötzlich waren die Hooligans mit ihren archaischen Fertigkeiten wieder gefragt und konnten ihre Machtbasis innerhalb der Kurven festigen und oft, da sie aufgrund ihrer neu gewonnenen Attraktivität regen Zulauf von meist jüngeren Männern haben, sogar ausbauen.
Viele Hooligangruppen waren und sind zumindest rechtsoffen, wenn nicht gar explizit rechts bis neonazistisch. Zumindest aber beteiligen sie sich für gewöhnlich nicht an Kampagnen gegen Diskriminierung und haben auch sonst wenig Interesse an „Gelaber“ und Diskussionen. Ein stärkerer Einfluss von Hooligans in Fankurven führt somit fast automatisch zu einer Veränderung des Kurvenklimas hin zu einem Zustand, in dem Rechte, Rassist_innen und Neonazis auf wenig bis keine Gegenwehr stoßen. Die wachsende Repression von Verbänden, Vereinen und Polizei spielt ihnen dabei in die Hände, weil Gewalt nun einmal für gewöhnlich eher Gegengewalt als Selbstreflexion erzeugt. Gerade letzteres wäre jedoch nach wie vor von Nöten. Es liegt also in der Verantwortung der Vereine und Verbände, aber auch der anderen Fans, sich dem Einfluss rechter bis neonazistischer Gruppen und Einzelpersonen aktiv entgegenzustellen, anstatt sie (weil sie ja auch für denselben Verein sind) schalten und walten zu lassen. Wer ihnen nicht rechtzeitig Einhalt gebietet, wird sich früher oder später mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Duisburger, Dortmunder oder Aachener Zuständen konfrontiert sehen.