Wahrheit, Gerechtigkeit und der NSU-Komplex

Institutioneller Rassismus als Herausforderung

Die Aufarbeitung des NSU-Komplexes offenbart die Existenz eines institutionellen Rassismus, eine notwendige Diskussion darüber findet in Deutschland nicht statt. In Großbritannien musste die Polizei nach langen Auseinandersetzungen das Problem des institutionellen Rassismus anerkennen. Ein Kommentar aus britischer Perspektive.

Die Aufarbeitung des NSU-Komplexes offenbart die Existenz eines institutionellen Rassismus, eine notwendige Diskussion darüber findet in Deutschland nicht statt. In Großbritannien musste die Polizei nach langen Auseinandersetzungen das Problem des institutionellen Rassismus anerkennen. Ein Kommentar aus britischer Perspektive.

Auf der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit gibt es Momente, die so bedeutsam sind, dass man sie nicht vergeuden darf. Der Skandal rund um den NSU-Komplex hat eine Strahlkraft weit über Deutschland hinaus, ebenso der Versuch, die ungezählten und ungelösten Morde an Menschen mit Migrationshintergrund aufzuklären, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten ereignet haben. Hier ergibt sich nun eine Situation, die ungeahnte Möglichkeiten eröffnet. Kann die Zivilgesellschaft den „Staat im Staat“ freilegen, ihn mit dem demokratischen Defizit der verdeckten Überwachung (jene, die man eben nicht wahrnimmt) konfrontieren? Keine Demokratie hat das Recht das Leben von Dritten zu gefährden, indem ein System von Neonazi-Spitzeln geschaffen wird, das nicht nur außer Kontrolle geraten scheint, sondern sogar kriminelle Züge annimmt. Rassismus äußert sich am deutlichsten, wenn das Recht auf Leben verweigert wird. Menschen mit Migrationshintergrund darf nie wieder das Gefühl vermittelt werden, ihre Leben seien billig und entbehrlich.

Es gibt ein altes Sprichwort: „Wahrheit ist wie Öl im Wasser, egal wie viel Wasser man hinzugibt, das Öl wird immer an die Oberfläche kommen.“ Wir wissen aus den Erfahrungen in Großbritannien, dass es einen langen Atem braucht, dass Staaten nicht einfach strukturelle Reformen in Angriff nehmen oder sich der Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen stellen. Im Gegenteil, vielmehr wird versucht, Skandalen wie dem NSU durch Kontrolle der öffentlichen Diskussion beizukommen, entweder durch Unterdrückung oder zumindest durch Zurückhalten der Wahrheit. Wir wissen auch, dass Europa noch sehr weit davon entfernt ist, den strukturellen Rassismus als solchen anzuerkennen. Hier bewegen sich alle Teile Europas eher in die entgegengesetzte Richtung – hin zur Verleugnung.

Die Macpherson-Untersuchung

Erfahrungen aus Großbritannien können Ansätze aufzeigen, wie sich auf die Geschehnisse im Zusammenhang mit dem NSU reagieren ließe, was sich auf die Begründungsversuche für das Fehlverhalten von Polizei und Geheimdiensten – vermeintlich grobe Fehler, Inkompetenz, fehlende Absprache zwischen den Behörden, Kompetenzgerangel, etc. – aber keinesfalls Rassismus (weder in der Struktur noch im Verhalten) – antworten ließe.

1998 gab es eine öffentliche Untersuchung zum Mord an Stephen Lawrence, einem 18-jährigen jungen Mann afrikanisch-karibischer Herkunft, der 1993 in London von einer Gruppe weißer Rassisten erstochen wurde. Die Polizei versagte bei der Aufklärung des Mordes auf ganzer Linie, es dauerte 18 Jahre bis es zu einem Urteilsspruch kam. Die Eltern des Ermordeten kämpften hart und lange für eine Untersuchung der Polizeiermittlung, erst 1997 ordnete der Innenminister eine öffentliche Untersuchung unter dem Vorsitz des Richters Sir William Macpherson an. Der Abschlussbericht wurde 1999 veröffentlicht.

Das Vorgehen dieser Untersuchung unterschied sich stark von dem des parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Bundestags. Die öffentliche Untersuchung hatte eher die Form einer Gerichtsverhandlung, es gab eine offizielle Überprüfung von Geschehnissen, die von der Regierung in Auftrag gegeben und unterstützt wurden, mit öffentlichen Anhörungen und Einladungen an Organisationen und Einzelpersonen, die schriftliche und mündliche Beweise bereitstellen sollten. Im Abschlussbericht wurden siebzig eindeutige Empfehlungen ausgesprochen, wie mit polizeilichem Rassismus, der Untersuchung und strafrechtlichen Verfolgung von rassistischen Vorfällen, der Behandlung der Opferfamilien und der anti-rassistischen Bildung von jungen Menschen umzugehen sei. Der größte Unterschied ergibt sich jedoch aus der Tatsache, dass im Gegensatz zum Abschlussbericht des NSU-Ausschusses der „institutionelle Rassismus“ innerhalb der Londoner Polizei und darüber hinaus in anderen Organisationen festgestellt wurde. Der Innenminister akzeptierte die Folgerungen, die sich aus dem Macpherson-Bericht ergaben, umgehend, die britische Regierung erließ daraufhin den „Race Relations Amendment Act“ (Gesetz zur Verbesserung der Rassenbeziehungen). Dieses Gesetz zwang zum ersten Mal nicht nur die Polizei, sondern alle öffentlichen Einrichtungen und Ämter, sich an Anti-Diskriminierungsgesetze zu halten und forderte die Gleichbehandlung unabhängig von der Herkunft.

Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit

Aber das Entscheidende für deutsche Kampagnen ist, dass diese Anerkennung des „institutionellen Rassismus“ nicht aus einer vermeintlichen Freigiebigkeit der Regierung oder eines Einknickens der Polizei entstand. Vielmehr setzte die Polizei alles daran, dies zu verhindern. Erst in diesem Jahr wurde von einem ehemaligen verdeckten Ermittler der Polizei enthüllt, dass er in den Jahren 1993 bis 1997 die Anweisung hatte, die Familie Lawrence und antirassistische Organisationen zu beobachten und Informationen zusammenzutragen, die zu einer Diskreditierung der Familie führen und eine Ausweitung der Kampagne gegen institutionellen Rassismus verhindern sollten. Nun wurde eine weitere richterlich geführte Untersuchungskommission eingesetzt, um wichtigen Beweisen über Korruption und geheimen „Black Justice“ (Selbstjustiz)-Kampagnen innerhalb der Polizei nachzugehen. Damit wird deutlich, dass eine Aufklärung nie vollständig geschieht. Vierzehn Jahre nach der Veröffentlichung des Macpherson-Berichts mussten die britischen Volksvertreter_innen nun feststellen, dass das wahre Ziel der verdeckten Polizeioperationen die Diskreditierung des Antirassismus war.

Die britische Regierung hatte keine andere Wahl als die Tatsache des institutionellen Rassismus anzuerkennen. Diese „Alternativlosigkeit“ der Anerkennung ist unsere Stärke, nicht die der Regierung. Das Innenministerium wie auch die Polizei hätte nur zu gern den Verlauf der Untersuchung kontrolliert. Doch die Stephen Lawrence-Kampagne organisierte im ganzen Land öffentliche Anhörungen, in denen die Untersuchungskommission mit den überwältigenden Aussagen der Opfer über deren „gelebte Erfahrung“ des polizeilichen Rassismus konfrontiert wurde. Meiner Meinung nach ist dies eine wichtige Lehre für die NSU-Aufklärung: Wenn man den polizeilichen Rassismus und das Fehlverhalten der Geheimdienste als dauerhaftes Thema in der öffentlichen Diskussion verankern will, ist es entscheidend, den NSU-Skandal dazu zu nutzen, dass die Ermittlungen in allen bislang ungeklärten Mordfällen mit einem möglichen extrem rechten Hintergrund wieder aufgenommen werden. Darüber hinaus muss eine starke Allianz mit den Opferfamilien aufgebaut werden, die dazu beizutragen versucht, dass deren Leiden gemindert und ihre Stimmen gehört und respektiert werden. Gerichte sind kein Ort der Wahrheit. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse allein sorgen nicht für Gerechtigkeit. Gerechtigkeit kommt von unten. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie ist etwas, für das man jeden Tag kämpfen muss.

Der Artikel wurde von der LOTTA-Redaktion übersetzt und leicht bearbeitet.