Mark Mühlhaus / attenzione

Gedenken nach deutschen Bedingungen

Zum 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus

Die Absage der Bundeskanzlerin, der Einladung von Russlands Präsident Wladimir Putin zu den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus am 9. Mai 2015 in Moskau zu folgen, macht unmissverständlich deutlich, in welchem Maße das Gedenken an die NS-Vergangenheit unter der Maßgabe der neuen Spannungen in Europa - basierend auf den Ereignissen in der Ukraine seit 2013/2014, der Eingliederung der Krim durch Russland und dem Bürgerkrieg im Osten der Ukraine - steht.

Die Absage der Bundeskanzlerin, der Einladung von Russlands Präsident Wladimir Putin zu den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus am 9. Mai 2015 in Moskau zu folgen, macht unmissverständlich deutlich, in welchem Maße das Gedenken an die NS-Vergangenheit unter der Maßgabe der neuen Spannungen in Europa - basierend auf den Ereignissen in der Ukraine seit 2013/2014, der Eingliederung der Krim durch Russland und dem Bürgerkrieg im Osten der Ukraine - steht.

Angela Merkel sagt als Vertreterin des Nachfolgestaates des historischen Aggressors dem Vertreter eines Nachfolgestaates des Staates ab, der die meisten Opfer der faschistischen Kriegs- und Vernichtungspolitik zu beklagen hat – mit Verweis auf die vermeintlich aggressive Rolle Russlands im Konflikt in der Ukraine. Jenseits aller gegenwärtigen politischen Bewertungen zeigt sich hier, wie weit sich Deutschland seit 1990 von der NS-Vergangenheit „befreit“ hat. Die offizielle Ehrbezeugung gegenüber den zirka 27 Millionen Toten der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg muss aufgrund der politischen Spannung zwischen dem Westen und Russland zurück- stehen. Deutschland will als europäische Führungsmacht demonstrieren, dass es sich nicht länger aufgrund der spezifischen deutschen Vergangenheit anders verhält als die westlichen Verbündeten. Erinnerung, Verantwortung und Geschichte haben, so kann man die Botschaft deuten, keine Auswirkungen mehr auf unsere gegenwärtige Politik, die sich davon vollständig befreit hat.

Doch die Spezifik dieses „selbstbewussten“ Umgangs mit der Vergangenheit erschließt sich erst vollständig, wenn man den von der Kanzlerin mit Putin vereinbarten Termin am 10. Mai 2015 in Moskau berücksichtigt. Hier will die Bundeskanzlerin am Grabmal des unbekannten Soldaten zusammen mit Putin einen Kranz ablegen. Putin habe, so heißt es, diesem Vorschlag von Merkel zugestimmt. Während es 2005 in den deutschen Medien und von der Politik noch positiv hervorgehoben wurde, dass der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder zu den Erinnerungsfeiern der alliierten Siegermächte nach Moskau eingeladen wurde und somit die historisch begründete Außenseiterrolle an diesen Tagen überwinden konnte, ist es heute also die Bundeskanzlerin, die die Bedingungen für das Gedenken an deutsche Verbrechen diktiert. Inhaltlich geschieht das nicht aggressiv oder fordernd, sondern als bescheiden ausgestaltetes Zeichen, dass man auch weiterhin bereit ist, die Erinnerung an die NS-Verbrechen aufrechtzuerhalten, man aber inzwischen in der Position ist, die Bedingungen dafür zu bestimmen. Es hat sich damit ein fundamentaler Wandel im Umgang Deutschlands mit der NS-Vergangenheit, aber auch der Bedeutung dieser Vergangenheit für die Handlungsmöglichkeiten der Bundesrepublik ergeben, der im Ergebnis genau den rechten und konservativen geschichtspolitischen Vorstellungen entspricht, die bereits in den 1980er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt wurden, der jedoch im Gestus ganz anders als von dort gefordert erscheint.

Weizsäcker-Rede: Durchbruch oder Kontrapunkt?

Mit dem Tod des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Januar 2015 wurde vielfach an dessen wegweisende Rede zum 8. Mai 1985 erinnert. Als erster Bundespräsident nannte Weizsäcker den 8. Mai trotz aller Abwägungen unmissverständlich einen „Tag der Befreiung“ und mahnte – genauso wichtig –, der 8. Mai 1945 dürfe nicht vom 30. Januar 1933 getrennt werden. Weizsäcker verdeutlichte damit die Kausalität zwischen der damals häufig dominierenden Erfahrung des Leides und der Trauer vieler Deutscher angesichts des 8. Mai 1945 – verbunden mit Erinnerungen an Bombenkrieg, Verlust der Heimat, Tod von Angehörigen etc. – mit den am 30. Januar 1933 seinen Ausgang nehmenden Verbrechen, die eben von jenen Deutschen mehrheitlich getragen worden waren.

Während auf konservativer Seite der 8. Mai als Niederlage begriffen wurde und die Erinnerung vor allem um die eigenen Opfer kreiste, deutete Weizsäcker den Tag objektiv als Befreiung vom Faschismus, unabhängig von der Gefühlswelt der Einzelnen. Doch die heute als historisch empfundene Rede des Bundespräsidenten war damals keineswegs ein Durchbruch, sondern eher ein Kontrapunkt zu einer geschichtspolitischen Debatte, die vor allem von konservativer Seite befeuert wurde und zum Ziel hatte, die negative Herausgehobenheit der NS-Vergangenheit in der deutschen Geschichte zu beseitigen, um darüber wieder zu einem positiven Geschichtsbild und von hier zu einer Neubestimmung der Rolle der Bundesrepublik auf der internationalen Bühne zu gelangen. Vor dem Hintergrund des alles dominierenden Kalten Krieges und der klaren Führung der beiden konträren Supermächte USA und UdSSR ging es darum, Stück für Stück machtpolitische Eigenständigkeit zurück zu erlangen. Die NS-Vergangenheit galt als größtes Hindernis auf diesem Weg. Der Historikerstreit von 1986 war die geschichtspolitische Begleitmusik der von Bundeskanzler Helmut Kohl ausgerufenen „geistig-moralischen Wende“.

Deutsche Vereinigung und „selbstbewusste Nation“

Der Zusammenbruch des Realsozialismus und die unverhoffte Einheit der beiden deutschen Staaten 1990 bedeutete faktisch das Ende der Nachkriegsordnung, womit aus Sicht der konservativen Eliten die subalterne Rolle der Bundesrepublik seit 1949 zu überwinden sei und Deutschland zur neuen Führungsmacht in Europa werden sollte. Geschichtspolitisch galt es für diese Kreise um so mehr, die Bedeutung der NS-Vergangenheit zu minimieren, um historisch unbelastet als „selbstbewusste Nation“ an ein altes Rollenverständnis als Hegemonialmacht Europas anknüpfen zu können. In den sich damals verstärkenden Zirkeln einer „Neuen Rechten“ wurde die deutsche Rolle sogar jenseits der dort nie akzeptierten Westbindung gefordert. Um den 8. Mai gab es zum 50. Jahrestag 1995 eine heftige Debatte. In großformatigen Zeitungsanzeigen wurde von dieser Rechten dafür geworben, den Tag als Niederlage zu begreifen. Einerseits sollten die „Schatten der Vergangenheit“ (so ein wichtiges geschichtspolitisches Buch aus diesem Spektrum) überwunden werden, andererseits wollte man aber an konservativ-nationalen Deutungen dieser Vergangenheit festhalten.

Nach nur wenigen Schwankungen stand für den etablierten Konservatismus jedoch fest, dass die neue deutsche Hegemonialrolle nicht im nationalen Alleingang, sondern nur im Rahmen der Westbindung umzusetzen sei. Trotz dieser Richtungsentscheidung blieb das von der Erfahrung des Faschismus und seiner Verbrechen dominierte Geschichtsbild weiterhin ein Punkt der geschichtspolitischen Auseinandersetzung, die in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre noch einmal eine enorme Zuspitzung erfuhr. Die Debatten um den Vernichtungskrieg der Wehrmacht im Osten, ausgelöst durch die von Hannes Heer geleitete erste Wehrmachtsausstellung, die Debatte um die Beteiligung der deutschen Bevölkerung am Holocaust (Daniel Goldhagen), der heftige Streit zwischen Martin Walser und dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, um das in Berlin geplante Holocaustmahnmal (das Walser in rechtskonservativer Manier als „Auschwitzkeule“ bezeichnete) – all diese Debatten zeigten, dass Deutschland trotz der Vereinigung und des Endes der Nachkriegszeit die NS-Vergangenheit nicht einfach abstreifen konnte.

Funktionalisierung und Befriedung der NS-Vergangenheit

Waren die Jahre 1990 bis zirka 2005 durch heftige geschichtspolitische Auseinandersetzungen gekennzeichnet, setzte danach ein anderer Umgang mit dieser NS-Vergangenheit ein, der bis heute bestimmend ist. Den neokonservativen und „neurechten“ Protagonisten war es seit den 1980er Jahren vor allem um eine Relativierung dieser Vergangenheit für das Selbstverständnis und das Geschichtsbild der Bundesrepublik gegangen. Dies änderte sich mit einer Erkenntnis, die ausgerechnet die auf dieser Seite so verhasste rot-grüne Bundesregierung ab 1998 hervorbrachte. Gerade der offensive Bezug auf die Schrecken dieser Vergangenheit konnte genutzt werden, um die außen- und machtpolitische Bewegungsfreiheit Deutschlands entscheidend auszuweiten. Die Beteiligung Deutschlands am Kosovokrieg 1998 wurde von Rot-Grün mit dem Hinweis auf Auschwitz moralisch gerechtfertigt. Gerade Deutschland dürfe sich als Lehre aus dieser Vergangenheit nicht länger der Verantwortung für die weltweite Durchsetzung von Menschenrechten entziehen. Vor dem Hintergrund der seitdem geführten „Menschenrechtskriege“ war damit ein Durchbruch gelungen, der der Bundesrepublik die Bewegungsfreiheit brachte, die mit der Strategie der Relativierung der Vergangenheit gerade nicht gelungen war. Denn schnell wurde den Eliten aus Wirtschaft und Politik deutlich, dass die Schrecken der Verbrechen des Faschismus nach wie vor gegen das aufstrebende neue Deutschland in Stellung gebracht werden konnten. Die Zwangsarbeiterentschädigung, die auch durch enormen Druck auf deutsche Firmen in den USA durchgesetzt wurde, war ein eindringliches Beispiel dafür.

Seither hat sich der klare Kurs der Anerkennung dieser Vergangenheit und ihrer Pazifizierung durch Sakralisierung durchgesetzt. Die Verbrechen des Faschismus gehören zur nicht zu leugnenden (negativen) Identität der Bundesrepublik und werden von den RepräsentantInnen des Staates nicht länger relativiert. Mit dieser auch öffentlichen Anerkennung der Verbrechen (Holocaustmahnmal, Zwangsarbeiterentschädigung) verband sich gleichzeitig die Legitimation, auch stärker die deutschen Opfer von Krieg und Faschismus ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Die Debatten zum Thema Bombenkrieg und die schließlich vom Bund der Vertriebenen durchgesetzte Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung sind Wegmarken einer Geschichtspolitik, die alle Opfer der Vergangenheit gleichermaßen anerkennen will und damit jede Frage nach Schuld, Verantwortung, Kausalität aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden lässt.

Die Kehrseite dieser vermeintlich befriedeten Vergangenheit wird deutlich, wenn sich auch heute noch Forderungen gegen Deutschland richten, die nicht als bescheidene Bitten, sondern als Einforderung von Ansprüchen auftreten. Griechenlands Forderung nach Rückzahlung einer von den Nazis dem Land auferlegten Zwangsanleihe, verbunden mit dem Anspruch auf Reparationen für das unermessliche Leid, das die Nazis dem Land zugefügt haben, führen gegenwärtig zu Reaktionen, die verdeutlichen, wie dünn die Firnis der Anerkennung der Verantwortung für die Verbrechen des Faschismus bei Teilen der Eliten immer noch oder wieder ist. Anerkannt wird diese Vergangenheit nämlich widerspruchslos nur dann, wenn sie nichts kostet. Nichts im Sinne außenpolitischer Beschränkung und nichts im Sinne der Anerkennung weiterer finanzieller Ansprüche aus dieser Vergangenheit. Insofern wird es der Bundeskanzlerin am 10. Mai in Moskau darum gehen, das Bild der geläuterten Deutschen zu zeigen und gleichzeitig deutlich zu machen, dass über die Bedingungen und die Inszenierung dieses Bildes zukünftig in Berlin und nirgends sonst entschieden wird.

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