Ein rassistisch motivierter Mordversuch

Zum Angriff in Schlüchtern

Erneut wurde ein Mensch, der als vermeintlich nicht-deutsch kategorisiert wurde, Opfer eines rassistischen Anschlags. Es ist nicht der erste Vorfall dieser Art in der Region Osthessen. Die stets wiederholte Behauptung, es gäbe keinen Platz für Rassismus, bleibt ohne Konsequenzen. Eine grundsätzliche und notwendige Debatte über Rassismus findet in weiten Teilen der Gesellschaft nicht statt.

Erneut wurde ein Mensch, der als vermeintlich nicht-deutsch kategorisiert wurde, Opfer eines rassistischen Anschlags. Es ist nicht der erste Vorfall dieser Art in der Region Osthessen. Die stets wiederholte Behauptung, es gäbe keinen Platz für Rassismus, bleibt ohne Konsequenzen. Eine grundsätzliche und notwendige Debatte über Rassismus findet in weiten Teilen der Gesellschaft nicht statt.

Am 19. Mai 2021 wurde in der Schlüchterner Innenstadt, gelegen im Main-Kinzing-Kreis, das Auto eines 57-Jährigen gestoppt. Er wurde rassistisch beleidigt, angegriffen und mit dem Tode bedroht. Dieser Vorfall ereignete sich nur wenige Wochen vor dem zweiten Jahrestag des rassistischen Mordversuchs an Bilal M. im nahegelegenen Wächtersbach. Am 22. Juli 2019 wurde dort aus einem Auto heraus mehrfach auf den heute 28-Jährigen geschossen, während dieser gerade Mittagspause machte. Er musste notoperiert werden und überlebte (vgl. LOTTA #76, S. 6 ff). Später berichtete Bilal M., dass er bereits vor der Tat rassistischen Anfeindungen ausgesetzt war.

Der Angriff in Schlüchtern steht darüber hinaus unter dem Eindruck des rechtsterroristischen Anschlags in Hanau am 19. Februar 2020, bei dem neun Personen aus rassistischen Motiven ermordet wurden (vgl. LOTTA #78, S. 6 ff). Hanau ist 50 Kilometer von Schlüchtern entfernt und die nächstgrößere Stadt. Erinnerungen an den selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) kamen während einer Kundgebung nach dem Angriff in Schlüchtern hoch, als einige Redner*innen daran erinnerten, dass Enver Şimşek in Schlüchtern lebte. Şimşek wurde am 9. September 2000 in Nürnberg an seinem Blumenstand erschossen und erlag zwei Tage später im Krankenhaus seinen Verletzungen. Er ist das erste bekannte Todesopfer des NSU.

Angstraum?

Nach dem Angriff in Schlüchtern sagte der 57-jährige Betroffene gegenüber der Frankfurter Rundschau: „Ich wurde lange gewürgt, kriegte keine Luft mehr. Es hätte schlimm ausgehen können. Ich hatte Todesangst.“ Er war am 19. Mai auf dem Heimweg, als ihn eine dreiköpfige Personengruppe zum Anhalten zwang. Über Minuten wurde er rassistisch beleidigt. Auf die Frage, was das solle, entgegnete ihm einer der angreifenden Männer: „Ich will dich umbringen [..] Weil du Ausländer bist und schwarz“. Anschließend stießen die Eltern von einem der Angreifer hinzu. Der Vater habe den Betroffenen direkt körperlich attackiert und begonnen, ihn in den Sitz zu drücken und zu würgen. Außerdem habe eine Angreiferin versucht, mit einer Jacke die Tat gegen Blicke von Außenstehenden Tat abzuschirmen. Erst als eine Passantin einschritt und behauptete, sie sei Polizistin und rufe jetzt ihre Kollegen an, habe der Angreifer von seinem Opfer abgelassen.

Etwa einen Monat später wandte sich die Tochter des Betroffenen mit einem offenen Brief an die Öffentlichkeit und bezeichnete den Angriff erstmals als rassistischen Mordversuch. In dem Statement beschreibt sie, wie Rassismus auch ihren Alltag immer wieder bestimmt — etwa bei der Wohnungssuche, in der Schule oder beim Sportverein. Ihr Vater berichtete ebenfalls, schon mehrfach Opfer rassistischer Beschimpfungen geworden zu sein. Die Schlüchternerin fühlte sich bereits in ihrer Jugend ausgegrenzt und wurde später mit ihren beiden Kindern auf offener Straße rassistisch beleidigt. Einem solchen Angriff in Gegenwart ihres Kleinkinds sowie ihres Neugeborenen ausgesetzt zu sein, habe bei ihr Depressionen und Traumata ausgelöst, welche sie bis heute belasten. Sie schließt den Brief mit den Worten: „Unsere Würde ist in Deutschland, in Schlüchtern, antastbar geworden“.

Enttäuschung und Angst

Die Familie des Betroffenen ist enttäuscht über die Reaktionen vor Ort — sowohl während des Angriffs als auch im Nachgang. Am Abend des Angriffs waren mehrere Zeug*innen anwesend, die nur wenige Meter entfernt saßen. Zunächst griff niemand ein oder rief die Polizei. „Das tat weh“, sagte der 57-Jährige, „auch weil ich schon so lange hier bin […].

Und dann werde ich bedroht und angebrüllt: raus aus Deutschland!“ Auch den fehlenden Aufschrei in der Gesellschaft bemängelt die Tochter. Erst nachdem ihr Brief in der Zeitung erschien, fand am 15. Juli eine Kundgebung in Schlüchtern statt, an der etwa 180 Personen teilnahmen. Die Ähnlichkeiten zur Kundgebung in Wächtersbach nach dem Mordanschlag 2019 sind bemerkenswert. Mehrheitlich weiße Menschen reden darüber, dass es „keinen Platz für Rassismus und Hass“ geben dürfe. Die vorgetragenen Ausführungen sind dabei weitestgehend von einer Externalisierung geprägt: rassistisch seien die anderen.

Eine Person hält während der Kundgebung in Schlüchtern ein Schild mit der Aufschrift: „Wen kümmert meine Angst vor diesem Hass?“  Auch in Hanau haben seit dem Anschlag im Februar 2020 viele Menschen Angst. Nur zwei Monate danach wurde ein Schaufenster der Arena Bar & Café in Hanau mit einem Pflasterstein eingeworfen. Die Shisha-Bar — einer der Tatorte vom 19. Februar — war zwischenzeitlich als Gedenkstätte für die Opfer und Treffpunkt ihrer Familien und Freund*innen genutzt worden. Auch dass der Vater des Täters von Hanau in der Nachbarschaft vieler Betroffenenfamilien wohnt, sorgt für Angst, Wut und Fassungslosigkeit. Ende 2020 wurde bekannt, dass dieser die Tatwaffe sowie die verbliebene Munition des Anschlags zurückforderte. Darüber hinaus stellte er mehrere rassistische Anzeigen, die ähnliche Verschwörungsmythen enthielten, wie sein Sohn sie verbreitete. Zudem forderte er die Entfernung sämtlicher Gedenkstätten, die an Kaloyan Velkov, Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu und Gökhan Gültekin erinnern sollen.

Erinnern

Durch das kontinuierliche Engagement der Angehörigen und anderen Aktiven der Initiative 19. Februar wird deutlich, wie wichtig es ist, Anschläge und Angriffe nicht nur als ein Datum und eine einzelne Tat zu verstehen. Es wird aufgezeigt, welche Ausmaße und Auswirkungen rechter Terror in all seinen Dimensionen auch nach solchen Taten auf Betroffene hat und dass er nicht erst bei einem Anschlag beginnt. Die Angehörigen und Betroffenen betonen vehement, dass sie nicht auf den nächsten Anschlag warten und daher politisch aktiv sind. Auch hierfür hat die Initiative am Heumarkt — einem der Tatorte — im Sommer 2020 „einen Ort geschaffen, einen Raum des Vertrauens und der Solidarität“, in dem sie aktiv die Erinnerung aufrechterhalten wollen. Der Laden der Initiative soll der Vernetzung und dem Austausch dienen. (vgl. LOTTA #79, S. 13 ff)

In Wächtersbach erinnert bisher nichts an den Anschlag von 2019, Bilal M. ist mittlerweile weggezogen. In Schlüchtern hat sich die Familie nach dem offenen Brief aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Indes laufen die Auseinandersetzung mit den beiden Taten und der Diskurs über Rassismus schleppend. Es zeigen sich nur wenige Menschen interessiert an einem Austausch über den rassistischen Normalzustand in der Region.

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