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„Die Zerstörung der Vernunft“

Im Gespräch mit Rüdiger Dannemann über das Werk des marxistischen Antifaschisten Georg Lukács

Mit seinem erstmals 1954 veröffentlichten Werk „Die Zerstörung der Vernunft“ rekonstruierte Georg Lukács die Entwicklung eines irrationalistischen Denkens in Deutschland auf dem Weg in den Faschismus (siehe auch die Rezension auf S. 61). Das Buch war wohl die erste grundlegende Auseinandersetzung mit der philosophischen Hinwendung zum Faschismus.

Was macht diese Schrift so besonders, dass sie eine Wiederauflage rechtfertigt?

Rüdiger Dannemann (R.D.): Es gibt auch andere Philosophen, die sich mit dem Irrationalismus kritisch beschäftigt haben (etwa Ernst Cassirer, Cohen oder Hartmann), aber Lukács‘ Werk unterscheidet sich deutlich von ihnen. Es ist die Schrift eines marxistischen Antifaschisten, der nicht zuletzt „bürgerliche“ (heute würde man vielleicht sagen linksliberale) Intellektuelle aufrütteln will. Lukács hat sich gleich nach der Machtergreifung Hitlers daran gemacht, deren ideologische Vorgeschichte als Geschichte des Irrationalismus zu fassen. Im Exil in der Sowjetunion verfasste er in einem Abstand von etwa zehn Jahren zwei umfangreiche Studien unter den Titeln „Wie ist die faschistische Philosophie in Deutschland entstanden?“ und „Wie ist Deutschland zum Zentrum der reaktionären Ideologie geworden?“. Das waren Schriften eines Kombattanten im Kampf mit der faschistischen Barbarei und Vorarbeiten zu dem monumentalen Werk, das 1954 unter dem Titel „Die Zerstörung der Vernunft“ („ZdV“) erschien und für Furore sorgte. Diese Entstehungsgeschichte macht die polemischen Zuspitzungen und Engführungen verständlich, die später immer wieder für Kritik gesorgt haben.

Besonders Nietzsche und Heidegger, auch Karl Jaspers werden von Lukács schonungslos der faschistischen Philosophie zugeordnet. Welche Hauptargumente führt Lukács für diese Wertung auf und trafen diese Einschätzungen in den damaligen Kreisen marxistischer Philosophie auf Zustimmung?

R.D.: Lukács geht von der These aus, es gebe keine „unschuldige Weltanschauung“. Bei seinen Untersuchungen von deren sozialer Genesis und Funktion geht er von einem in den Traditionen von Aufklärung und klassischer deutscher Philosophie mit der Gipfelgestalt Hegel stehenden, aber politisch-marxistisch zugespitzten Vernunftbegriff aus: Für ihn ist Vernunft nicht etwas „über der gesellschaftlichen Entwicklung Schwebendes, parteilos Neutrales“, vielmehr „stets die konkrete Vernünftigkeit (oder Unvernünftigkeit) einer gesellschaftlichen Lage“. So formuliert er es in „Die Zerstörung der Vernunft“. Heidegger, Jaspers und zumal Nietzsche rechnet Lukács zum Lager der Irrationalisten, insofern auch für sie essenzielle Merkmale von Lukács‘ Irrationalismusbegriff zutreffen: „Herabsetzung von Verstand und Vernunft, kritiklose Verherrlichung der Intuition, aristokratische Erkenntnistheorie, Ablehnung des gesellschaftlich-geschichtlichen Fortschritts, Schaffen von Mythen“. Paradigmatisch ist für Lukács der Fall Nietzsche: Er zeichnet das Bild eines hochbegabten Aphoristikers und Kulturkritikers, der das Verfahren der „indirekten Apologetik“ des Bestehenden (also der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft) meisterlich beherrscht hat: Er verbindet Kritik an der herrschenden Moral, Religiosität, den dominanten Denk- und Lebensformen mit einer Ablehnung sozialistischer Gegenbewegungen aus der Perspektive einer aristokratischen Erkenntnistheorie und des Verächtlichmachens des Ideals der Gleichheit. Lukács macht in einer brieflichen Auseinandersetzung mit Ernst Bloch deutlich, dass er Nietzsche nicht für einen Faschisten hält: Das zu tun, wäre „ein historischer Unsinn“, denn „1890 konnte noch niemand aus sozialhistorischen Gründen eine faschistische Ideologie haben“. Er ist in seinen Augen „aber der bedeutendste Denker einer historischen Etappe der ideologischen Entwicklung Deutschlands, der die ideologische Entwicklung“ in Richtung Faschismus befördert hat.

Der französische Philosoph Lucien Goldmann meinte gar, Verbindungslinien zwischen Heideggers Werk „Sein und Zeit“ und der „Zerstörung der Vernunft“ entdeckt zu haben. Wie ist das denn zu verstehen?

R.D.: Tatsächlich hat Goldmann Verbindungslinien zwischen Lukács und Heidegger gesehen. Diese beziehen sich aber auf Ähnlichkeiten zwischen „Geschichte und Klassenbewußtsein“ („GuK“) und „Sein und Zeit“, das er in gewisser Weise als Reaktion auf Lukács‘ frühes Meisterwerk gesehen hat. Die Ähnlichkeiten betreffen beider Kritik an überholten dualistischen Subjekt-Objekt-Konzeptionen, wie sie seit Descartes in der neuzeitlichen Philosophie üblich waren. Axel Honneth hat davon gesprochen, dass Lukács „auf Augenhöhe“ mit Heidegger zu betrachten sei, was die Wirksamkeit ihrer Zeitdiagnosen betrifft. Das Heidegger-Bild der „ZdV“ ist aber durchwegs negativ, es betrifft nicht nur das heute noch vieldiskutierte Engagement Heideggers für Hitler in seiner Freiburger Zeit, sondern seine im Konzept der „Geworfenheit“ ins Dasein implizierte Ontologisierung von Entfremdungsphänomenen insgesamt. In seiner „Ontologie“, die auch als Gegenentwurf zu Heidegger verstanden werden kann, geht der späte Lukács viel unpolemischer, aber in der Sache unverändert kritisch mit Heidegger um. Dort zollt er auch dem existentialistischen Marxisten Sartre seinen Respekt.

Besonders Theodor W. Adorno empörte sich über die Urteile von Lukács: Augenscheinlich so empört über die Aburteilung von Nietzsche ließ er sich zu der Bemerkung hinreißen, Lukács habe mit diesem Werk eher die Zerstörung seiner eigenen Vernunft betrieben. Wie erklärt sich dieser scharfe Ton und wie sind die unterschiedlichen Einschätzungen von Adorno und Lukács zur philosophischen Wegbereitung des Faschismus zu verstehen?

R. D.: Für Adorno war Nietzsche ein zentraler Bezugspunkt bei der Ausarbeitung seiner pessimistischen Geschichtsphilosophie, die er in seiner „Dialektik der Aufklärung“ entwickelt hat, der sowohl inhaltlich als auch methodisch-stilistisch Vorbild war. Als Adorno dann Mitte der fünfziger Jahre die Vorwürfe gegen Lukács erhob, war er ein etablierter Vordenker der Bundesrepublik, dem der im „realsozialistischen“ Ungarn lebende Lukács als gedankenarmer Vertreter des orthodoxen Marxismus-Leninismus erschien. Auch das Faktum, dass Lukács sich 1956 im antistalinistischen Ungarn-Aufstand engagierte (und sein Leben riskierte), konnte Adorno nicht zu einer historisch-gerechteren Einschätzung bewegen. Vergleicht man Lukács‘ und Adornos Erklärungen der Genese des Faschismus, so ist ein Bündel von Aspekten zu berücksichtigen. Lukács schreibt aus der Perspektive des marxistischen Antifaschisten, für den klassenkampfanalytische Kapitalismus- und Faschismuskritik identisch sind und für den es eine sozialistische Alternative zum Faschismus gibt; er betont aber auch — und das steht in der Tradition seines die Rolle von Bewusstsein und Subjektivität betonenden Klassikers „GuK“ — die Bedeutung von philosophischen Weltanschauungen. Adorno wählt eine von Marx nur noch wenig beeinflusste eher psychoanalytische Perspektive, die in den Rahmen einer politisches Engagement kaum zulassenden (Total-) Kritik an der abendländischen Aufklärungs- und Rationalitätstradition eingebettet ist.

Adorno hatte doch früher Lukács bewundert und aus dessen Werk „Geschichte und Klassenbewusstsein“ wesentliche Gedankenanregungen übernommen. Da sind doch eher Parallelen zu erkennen. Der Lukács-Biograf Fritz J. Raddatz bezeichnete ihn gar mal als „Adorno des Ostens“. Wie lässt sich dieses komplizierte, gestörte Verhältnis beider Philosophen erklären?

R. D.: Tatsächlich war der junge Adorno ein großer Bewunderer von Lukács‘ Frühwerken „Die Theorie des Romans“ und „GuK“. Die Romantheorie soll Adorno erst bewogen haben, Philosoph statt Musiker/Komponist in Schönbergs Fußstapfen zu werden. Lukács‘ Verdinglichungstheorie hat Adornos Denken lebenslang beeinflusst, wobei jeder selbst beurteilen soll, ob seine Fortschreibung als Weiterentwicklung zu einer umfassenden Rationalitätskritik zu betrachten oder als auf Praxisferne hinauslaufende Entradikalisierung/Domestizierung zu verstehen ist. Dass Lukács als „Adorno des Ostens“ bezeichnet worden ist, hat mit der Relevanz zu tun, die Adorno in der Bundesrepublik und Lukács bis zu seiner Teilnahme am Ungarnaufstand in den „realsozialistischen“ Ländern hatte.

Nun wieder zurück zu „Die Zerstörung der Vernunft“: Die Abrechnung mit rechter Philosophie bleibt nicht bei Nietzsche und Heidegger stehen. Lukács polemisiert auch etwa gegen ihm früher nahestehende Geistesgrößen wie Max Weber, Karl Mannheim oder Georg Simmel. Beim Lesen kann der Eindruck entstehen, Lukács sehe den Irrationalismus bei nahezu allen, die nicht marxistisch argumentieren. Wie ist dieser radikale Rundumschlag zu erklären — muss das Werk im Kontext seiner Entstehung gelesen und verstanden werden?

R.D.: Bereits der junge Lukács der Zeit des Ersten Weltkriegs war von der nationalistischen Euphorie seiner Lehrer Weber und Simmel abgestoßen, er sah dann im Marxismus die einzige Möglichkeit, konsequent die soziale Basis des Faschismus zu überwinden. Sicher muss das Buch in seinem historischen Kontext gelesen werden. Lukács‘ Nietzsche-Kritik z.B. ist sicher zu total, aber sie sensibilisiert für die — vorsichtig ausgedrückt — politisch fragwürdigen Aspekte seines Werks, die, wie Jan Rehmann letzthin gezeigt hat, z.B. von seinen „poststrukturalistischen“ Bewunderern einfach ignoriert werden. In seinem Spätwerk hat Lukács sich übrigens wie schon in „GuK“ nicht selten positiv auf Einsichten Webers und Simmels bezogen.

Lukács war ja kurz vor dem Machtantritt der Nazis selbst noch organisatorisch und publizistisch in Deutschland in der marxistischen Bewegung tätig. Inwiefern fließt dieses antifaschistische Engagement ein in den Inhalt des Buches?

R.D.: Lukács, damals Mitglied der KPD, war 1933 in Berlin unter dem Pseudonym Dr. Keller aktiv tätig im SDS (Schutzverband deutscher Schriftsteller) und versuchte ein Bündnis aller irgendwie kritischen Schriftsteller und Intellektuellen gegen die heraufziehende Barbarei zustande zu bringen, was angesichts eines verbreiteten Sektierertums nicht einfach war. Anders als etwa Adorno musste Lukács, dessen Werk dann auch Opfer der Bücherverbrennungen wurde, sofort nach der Machtergreifung aus Deutschland emigrieren. Seine Enttäuschung über die Schwäche des deutschen Antifaschismus auch in intellektuell-akademischen Kreisen hat sein Bild der deutschen Ideologiegeschichte zweifellos mitgeprägt und erklärt auch zum Teil die verbalen und inhaltlichen Zuspitzungen in der „ZdV“. Die Zeit des Kampfes gegen die Naziherrschaft war keine gute Zeit für Differenzierungen oder Reinwaschungen, wie sie später etwa im Fall Heideggers Usus waren.

Was kann die Lektüre der Neuauflage heute antifaschistisch interessierten und aktiven jungen Menschen bieten?

R.D.: Die „ZDV“ ist das Produkt eines aktiven Antifaschisten, geprägt durch die Zeitgenossenschaft mit der nationalsozialistischen Herrschaft, auch durch die Atmosphäre des Kalten Krieges, als in Politik, Wirtschaft und Kultur, auch unter allzu vielen Intellektuellen bei uns, die Aufarbeitung der Nazi-Zeit tabuisiert war. Die „ZdV“ bricht pointiert, bisweilen überpointiert, mit solch unseliger Tradition, kennt keine heiligen Kühe, selbst nicht unter den Größen der deutschen Geistesgeschichte, firmiert also zu Recht als „A classic and controversial work of Western Marxism“. Lukács war stets misstrauisch gegenüber der Validität der deutschen Demokratie, der er gerne die französische Tradition „von Voltaire, Diderot und Rousseau über Zola und Anatol France in der Dreyfusaffäre bis zu J. P. Sartre zur Zeit des Befreiungskriegs in Algerien“ gegenüberstellte, so etwa in seinem Buch „Von Nietzsche zu Hitler oder Der Irrationalismus und die deutsche Politik“. Die Frage nach der Qualität der Demokratie hierzulande bleibt auch heute aktuell, wenn schon wieder Rufe nach „Deutschland als Führungsmacht“ laut werden. Die „ZdV“ kann immer noch junge Menschen anregen, heutige „Großdenker“, die Entstehung ihres Denkens und dessen Funktion zu untersuchen. An hyperradikalen Denkangeboten besteht ja gegenwärtig kein Mangel. Sie vermögen aber wie ihre historischen Vorläufer kaum, gegen moderne Formen von Nationalismus und Rassismus, irrationalen Narrativen und fake-news Mythen zu immunisieren. Sie provozieren nicht selten nur einen apolitischen Fatalismus, die ihre theoretische Radikalität ins Leere laufen lässt. Im Nachwort „Über den Irrationalismus der Nachkriegszeit“ hebt Lukács auf die überragende damalige Bedeutung der Friedensbewegung ab. Eine in den Zeiten des Ukrainekriegs mehr als nur zum Nachdenken anregende Positionierung.

Das Buch ist umfangreich und ohne philosophische Vorkenntnis schwer zu lesen — welche kürzeren Texte von Lukács könnten hierzu den Einstieg erleichtern?

R.D.: In dem 2021 bei Suhrkamp erschienen Lukács-Reader „Ästhetik, Marxismus, Ontologie“ findet sich eine ganze Reihe von kürzeren Texten Lukács‘ aus seiner mittleren, vom Kampf gegen den Faschismus geprägten Periode. Etwa sein berühmter Essay „Grand Hotel Abgrund“ oder „Warum sind Demokratien den Autokratien überlegen?“ sowie das Spiegel-Interview aus dem Jahr 1970. Regelmäßig gibt es im Lukács-Jahrbuch aktuelle Aufsätze der internationalen Lukács-Forschung. Im Mittelpunkt des neuen Jahrbuchs, das im Frühjahr 2023 erscheinen wird, steht das hundertjährige Jubiläum der Veröffentlichung von „Geschichte und Klassenbewußtsein“. Ich gehe davon aus, dass im folgenden Jahrbuch die „ZdV“, das vor einem Jahr auch eine englischsprachige Neuauflage erlebt hat, einen Schwerpunkt bilden wird.

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Georg Lukács (1895—1971) war ein ungarischer Philosoph und Literaturwissenschaftler. Seine Schriften gelten als wegweisend für eine marxistische Philosophie sowie für die Herausbildung eines ‚westlichen Marxismus‘. Auch der Lebensweg von Georg Lukács ist geprägt von der Geschichte der kommunistischen Bewegung und des Antifaschismus: Geboren in einem wohlhabenden jüdischen Elternhaus in Budapest knüpfte der hochbegabte junge Mann zunächst Kontakte mit bekannten Geistesgrößen wie Max Weber oder Georg Simmel und wurde in Diskussionszirkeln Inspirator für Mitdiskutanten wie etwa den Soziologen Karl Mannheim. Kurz nach seinem Eintritt in die kommunistische Partei Ende 1918 wurde er Volkskommissar in der ungarischen Räterepublik, deren Sturz er fast mit dem Tod bezahlte. Auch danach vollzog er ein intellektuelles Leben innerhalb der kommunistischen Bewegung mit bewegenden Ereignissen: Wiederholt dem Tod von der Schippe gesprungen (Horthy, Nazis, Stalinismus…) verfasste er eine Vielzahl von Schriften. Die „Zerstörung der Vernunft“ ist Referenz seines antifaschistischen Fühlens und Denkens und zugleich sein umstrittenstes Werk.


Rüdiger Dannemann ist Philosoph, Mitbegründer und Vorsitzender der Internationalen Georg Lukács-Gesellschaft sowie Herausgeber des Lukács-Jahrbuchs. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u.a. Kritische Theorie und westlicher Marxismus, ästhetische Theorie und ästhetische Probleme der populären Musik. Gemeinsam mit Bálint Gusztáv Mosóczi und Zoltán Mosóczi ist er zudem Herausgeber einer Faksimile-Ausgabe von „Geschichte und Klassenbewusstsein“, dem einflussreichsten Werk von Lukács, die Anfang 2023 beim Aisthesis Verlag Bielefeld erscheinen wird.


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  • Alexander Häusler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungschwerpunkt Rechtsextremismus/Neonazismus (FORENA) an der FH Düsseldorf. Einige Veröffentlichungen zur AfD, zuletzt gemeinsam mit Rainer Roeser „Die rechten 'Mut'-Bürger“ (VSA-Verlag Hamburg 2015).