LOTTA Antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen https://www.lotta-magazin.de/ de http://www.lotta-magazin.de/sites/all/themes/lotta/images/favicon.gif LOTTA https://www.lotta-magazin.de/ Antifaschistische Zeitung aus NRW, RLP und Hessen LOTTA lotta-redaktion@no-log.org (LOTTA Magazin) Mon, 13 Feb 2023 13:25:12 +0100 Wed, 15 Mar 2023 14:28:15 +0100 Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken | https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/89/j-dinnen-und-juden-der-internationalen-linken „Gemessen am Bevölkerungsanteil waren Jüdinnen und Juden im ausgehenden 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überproportional in den revolutionären und reformistischen Bewegungen aktiv“, schreiben die Herausgeber in der Einleitung des ersten Bandes der bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) erscheinenden Publikationsreihe zum „Wirken von Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken“. Damit widmet sich die RLS einem Teil linker Geschichte, der lange Zeit trotz der „einstmals so intensive[n] […] Verbindung von jüdischen und nicht-jüdischen Linken“ kaum thematisiert wurde. Im ersten der bisher zwei erschienenen Bände werden in mehreren Beiträgen Strukturen, Aktivitäten und das Verhältnis von Jüdinnen_Juden in verschiedenen internationalen, linken Bewegungen dargestellt. Der zweite Band versammelt vor allem biographische Beiträge. Die Auseinandersetzung mit der Symbiose jüdischer Emanzipationsbewegung und der internationalen Linken trägt nicht nur zu einem kritischen und differenzierten Blick auch auf die eigene linke Geschichte bei, sondern kann auch als Impuls für den Umgang mit heutigem Antisemitismus und dem Verhältnis Linker zu Jüdinnen_Juden und ebenso als Anregung für die Auseinandersetzung mit aktuellen Fragestellungen wie der Bedeutung von Herkunft und Identität dienen. Zwei weitere Bände sind für Sommer 2023 und 2024 angekündigt.Riccardo Altieri, Bernd Hüttner, Florian Weis (Hg.):«Die jüdische mit der allgemeinen proletarischen Bewegung zu vereinen» — Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2021122 SeitenRiccardo Altieri, Bernd Hüttner, Florian Weis (Hg.):«Wenn du ausgegrenzt wirst, gehst  du zu anderen Ausgegrenzten» — Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken (Band 2).Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2022, 137 SeitenBeide Publikationen können kostenlos bei der RLS bestellt werden und stehen auch als PDF unter www.rosalux.de/ Rezension 7807 Mon, 13 Feb 2023 13:25:12 +0100 LOTTA Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken Johannes Hartwig „Gemessen am Bevölkerungsanteil waren Jüdinnen und Juden im ausgehenden 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überproportional in den revolutionären und reformistischen Bewegungen aktiv“, schreiben die Herausgeber in der Einleitung des ersten Bandes der bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) erscheinenden Publikationsreihe zum „Wirken von Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken“. Damit widmet sich die RLS einem Teil linker Geschichte, der lange Zeit trotz der „einstmals so intensive[n] […] Verbindung von jüdischen und nicht-jüdischen Linken“ kaum thematisiert wurde. Im ersten der bisher zwei erschienenen Bände werden in mehreren Beiträgen Strukturen, Aktivitäten und das Verhältnis von Jüdinnen_Juden in verschiedenen internationalen, linken Bewegungen dargestellt. Der zweite Band versammelt vor allem biographische Beiträge. Die Auseinandersetzung mit der Symbiose jüdischer Emanzipationsbewegung und der internationalen Linken trägt nicht nur zu einem kritischen und differenzierten Blick auch auf die eigene linke Geschichte bei, sondern kann auch als Impuls für den Umgang mit heutigem Antisemitismus und dem Verhältnis Linker zu Jüdinnen_Juden und ebenso als Anregung für die Auseinandersetzung mit aktuellen Fragestellungen wie der Bedeutung von Herkunft und Identität dienen. Zwei weitere Bände sind für Sommer 2023 und 2024 angekündigt.Riccardo Altieri, Bernd Hüttner, Florian Weis (Hg.):«Die jüdische mit der allgemeinen proletarischen Bewegung zu vereinen» — Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2021122 SeitenRiccardo Altieri, Bernd Hüttner, Florian Weis (Hg.):«Wenn du ausgegrenzt wirst, gehst  du zu anderen Ausgegrenzten» — Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken (Band 2).Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2022, 137 SeitenBeide Publikationen können kostenlos bei der RLS bestellt werden und stehen auch als PDF unter www.rosalux.de/ 2023-02-13T13:25:12+01:00 Ein antisemitischer Doppelmord | https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/89/ein-antisemitischer-doppelmord Am 19. Dezember 1980 wurden in Erlangen der Verleger und ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Nürnberg, Shlomo Lewin, und seine Lebensgefährtin Frida Poesche ermordet.Mit Lewin starb „ein erklärter Gegner der Rechten, der Neonazis und der Wehrsportgruppe Hoffmann (WSG). Mit ihm und Frida Poeschke werden zudem zwei exponierte Vertreter der christlich-jüdischen Aussöhnung ermordet“, schreibt der Historiker Uffa Jensen, der sich umfassend mit diesem ersten tödlichen in der Bundesrepublik von Rechten verübten Mordanschlag auf einen Juden befasst hat. Trotzdem wurde der Doppelmord, wie Jensen anhand von Ermittlungsakten und Medienberichterstattung zeigt, weder von der Polizei noch der breiten Öffentlichkeit als antisemitische Tat gedeutet. Auch im Prozess gegen den Chef der WSG, der wegen Mittäterschaft angeklagt, aber freigesprochen wurde, spielte Antisemitismus nur eine untergeordnete Rolle. Als alleiniger Täter gilt der Justiz ein im Libanon verstorbenes WSG-Mitglied. Indizien lassen aber vermuten, dass Hoffmanns Tatbeitrag größer war, als die von ihm selbst eingeräumte Hilfe beim Spurenverwischen und der Flucht des Täters.Jensens Buch ist nicht die erste Rekonstruktion des Doppelmords. So hat Ulrich Chaussy, ausgehend von seinen Recherchen zum Oktoberfestattentat, die Verbindungen zur WSG ausführlich dargestellt, und Ronen Steinke hat in seinem hervorragenden Buch „Terror gegen Juden“ gezeigt, wie sich die vorurteilsgeprägten Ermittlungen auf die Biografie des Opfers Lewin konzentrierten. Die Lektüre von Jensens Werk lohnt aber nicht nur, weil es gut erzählt ist. Aufschlussreich sind auch die Einordnungen zum damaligen gesellschaftlichen Umgang mit Antisemitismus, die Gedanken zur Rechtsterrorismus-Diskussion sowie die Kapitel zur Kooperation der WSG mit den militanten Palästinen­ser*innen der PLO. Fazit: lesenswert.Uffa JensenEin antisemitischer Doppelmord. Die vergessene Geschichte des Rechtsterrorismus in der BundesrepublikSuhrkamp Verlag, Berlin 2022316 Seiten, 24 Euro Rezension 7806 Mon, 13 Feb 2023 13:22:59 +0100 LOTTA Ein antisemitischer Doppelmord Torben Heine Am 19. Dezember 1980 wurden in Erlangen der Verleger und ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Nürnberg, Shlomo Lewin, und seine Lebensgefährtin Frida Poesche ermordet.Mit Lewin starb „ein erklärter Gegner der Rechten, der Neonazis und der Wehrsportgruppe Hoffmann (WSG). Mit ihm und Frida Poeschke werden zudem zwei exponierte Vertreter der christlich-jüdischen Aussöhnung ermordet“, schreibt der Historiker Uffa Jensen, der sich umfassend mit diesem ersten tödlichen in der Bundesrepublik von Rechten verübten Mordanschlag auf einen Juden befasst hat. Trotzdem wurde der Doppelmord, wie Jensen anhand von Ermittlungsakten und Medienberichterstattung zeigt, weder von der Polizei noch der breiten Öffentlichkeit als antisemitische Tat gedeutet. Auch im Prozess gegen den Chef der WSG, der wegen Mittäterschaft angeklagt, aber freigesprochen wurde, spielte Antisemitismus nur eine untergeordnete Rolle. Als alleiniger Täter gilt der Justiz ein im Libanon verstorbenes WSG-Mitglied. Indizien lassen aber vermuten, dass Hoffmanns Tatbeitrag größer war, als die von ihm selbst eingeräumte Hilfe beim Spurenverwischen und der Flucht des Täters.Jensens Buch ist nicht die erste Rekonstruktion des Doppelmords. So hat Ulrich Chaussy, ausgehend von seinen Recherchen zum Oktoberfestattentat, die Verbindungen zur WSG ausführlich dargestellt, und Ronen Steinke hat in seinem hervorragenden Buch „Terror gegen Juden“ gezeigt, wie sich die vorurteilsgeprägten Ermittlungen auf die Biografie des Opfers Lewin konzentrierten. Die Lektüre von Jensens Werk lohnt aber nicht nur, weil es gut erzählt ist. Aufschlussreich sind auch die Einordnungen zum damaligen gesellschaftlichen Umgang mit Antisemitismus, die Gedanken zur Rechtsterrorismus-Diskussion sowie die Kapitel zur Kooperation der WSG mit den militanten Palästinen­ser*innen der PLO. Fazit: lesenswert.Uffa JensenEin antisemitischer Doppelmord. Die vergessene Geschichte des Rechtsterrorismus in der BundesrepublikSuhrkamp Verlag, Berlin 2022316 Seiten, 24 Euro 2023-02-13T13:22:59+01:00 Die Zerstörung der Vernunft | https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/89/die-zerst-rung-der-vernunft-0 Die Unterzeile des Titels dieses erstmals 1952 erschienenen und nun erneut aufgelegten Werkes des ungarischen Marxisten Georg Lukács — „Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler“ — weist auf den Inhalt hin: eine antifaschistische und zugleich marxistische Abrechnung mit der idealistischen sowie reaktionären Philosophie in der (weit gefassten) Vorzeit des deutschen Faschismus. Lukács entdeckt rückblickend die Niederlage der 1848er Revolution als Ausgangspunkt eines philosophischen Irrationalismus in Deutschland, der zum geistigen Wegbereiter des Faschismus kulminierte. Das Motto von Lukács lautet: Es gibt keine unschuldige Philosophie! Entweder dafür oder dagegen! Mit belesener Brachialgewalt deutet der Autor den Weg der Philosophie zu Adolf Hitler. Das Buch ist das am meisten angefeindete Werk des marxistischen Philosophen und Literaturwissenschaftlers. Nicht nur Friedrich Nietzsche wird dort als Reaktionär gebrandmarkt: Auch die Philosophie Martin Heideggers wird in diesem Werk wohl zum ersten Mal radikal sowie analytisch begründet der faschistischen Türöffnung beschuldigt. Der Furor der Aburteilung macht dort nicht Halt: Friedrich Schelling, Arthur Schopenhauer, Søren Kierkegaard, Wilhelm Dilthey, Karl Jaspers… Sie alle werden schonungslos der irrationalistischen Wegbereitung zugeordnet — der Autor macht sogar nicht halt bei seinen Aburteilungen gegenüber früheren Lehrern und Gesprächspartnern wie Max Weber oder Georg Simmel. Einige dieser Urteile erscheinen nicht nur als maßlos überzogen, sondern geradezu bösartig. Doch dies verweist zugleich auf den Charakter dieses Werkes: Es ist eben nicht nur eine tiefgehende Philosophiekritik eines geschichtlich und philosophisch hochgebildeten Marxisten, sondern zugleich auch eine großteils schon während des Krieges entwickelte antifaschistische Kampfschrift. Lukács war auch Literaturkritiker und glühender Verehrer der Schriften von Johann Wolfgang Goethe, Heinrich Heine und Thomas Mann, er verzweifelte daher am Irrationalismus und an antiaufklärerischem Denken. Sicherlich ist das Werk ein Produkt seiner Zeit, geprägt von Polarisierungen und Formulierungen, die heute aus der Zeit gefallen scheinen — sogar stalinistisch verharmlosend wirkende Formulierungen sind dort zu finden — und irritierend erscheint auch aus heutigem Wissensstand eine fehlende tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. Doch das tut der Faszination gegenüber der Breite und Kraft dieser philosophisch-historisch-politischen Streitschrift keinen Abbruch. Sie muss vielmehr in den Kontext ihrer zeitlichen Entstehung gesetzt werden: Ein Großteil der textlichen Vorarbeiten verfasste Lukács schon in den dreißiger und vierziger Jahren. Der aktive Antifaschist war schier verzweifelt über die faschistischen Erfolge und die geringe Gegenwehr der bürgerlichen Intelligenz. In den dreißiger Jahren war er in Deutschland noch aktiv im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Kurz nach dem Reichstagsbrand 1933 emigrierte Lukács mit seiner Familie in die Sowjetunion. Aus Moskau wiederum musste er vor dem Angriff der Nazis erneut fliehen und schrieb unter elenden Bedingungen, mit seiner Familie in einer Lehmhütte im usbekischen Taschkent lebend, fieberhaft weiter gegen den Faschismus an. Er verlor nicht nur viele Mitstrei­ter:innen; auch sein Bruder wurde von den Nazis im KZ ermordet. In Budapest kam er nach langen Unterbrechungen endlich Anfang der 1950er Jahre dazu, die Schrift zur Veröffentlichung fertigzustellen. Diese umfangreiche Auseinandersetzung mit dem philosophischen Irrationalismus ist laut Lukács daher zugleich auch eine Aufforderung nach der Devise „Discite moniti, ein ‚Lernet, die ihr gewarnt seid!‘ an die denkenden Menschen aller Völker. Eine Warnung, dass es keine ‚unschuldige‘, keine bloß akademische Philosophie gibt, dass immer und überall objektiv die Gefahr vorhanden ist, dass irgendein Weltbrandstifter aus dem philosophischen Gehalt ‚unschuldiger‘ Salongespräche, Kaffeehausunterhaltungen, Kathedervorträge, Feuilletons, Essays usw. wieder ein verzehrendes Feuer à la Hitler entfacht.“Ein Leseerlebnis für eine  philosophische Tour de Force!Georg Lukács:Die Zerstörung der VernunftAisthesis Verlag, Bielefeld 2022 (Neuauflage)775 Seiten, 45 Euro Rezension 7805 Mon, 13 Feb 2023 13:21:31 +0100 LOTTA Die Zerstörung der Vernunft Alexander Häusler Die Unterzeile des Titels dieses erstmals 1952 erschienenen und nun erneut aufgelegten Werkes des ungarischen Marxisten Georg Lukács — „Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler“ — weist auf den Inhalt hin: eine antifaschistische und zugleich marxistische Abrechnung mit der idealistischen sowie reaktionären Philosophie in der (weit gefassten) Vorzeit des deutschen Faschismus. Lukács entdeckt rückblickend die Niederlage der 1848er Revolution als Ausgangspunkt eines philosophischen Irrationalismus in Deutschland, der zum geistigen Wegbereiter des Faschismus kulminierte. Das Motto von Lukács lautet: Es gibt keine unschuldige Philosophie! Entweder dafür oder dagegen! Mit belesener Brachialgewalt deutet der Autor den Weg der Philosophie zu Adolf Hitler. Das Buch ist das am meisten angefeindete Werk des marxistischen Philosophen und Literaturwissenschaftlers. Nicht nur Friedrich Nietzsche wird dort als Reaktionär gebrandmarkt: Auch die Philosophie Martin Heideggers wird in diesem Werk wohl zum ersten Mal radikal sowie analytisch begründet der faschistischen Türöffnung beschuldigt. Der Furor der Aburteilung macht dort nicht Halt: Friedrich Schelling, Arthur Schopenhauer, Søren Kierkegaard, Wilhelm Dilthey, Karl Jaspers… Sie alle werden schonungslos der irrationalistischen Wegbereitung zugeordnet — der Autor macht sogar nicht halt bei seinen Aburteilungen gegenüber früheren Lehrern und Gesprächspartnern wie Max Weber oder Georg Simmel. Einige dieser Urteile erscheinen nicht nur als maßlos überzogen, sondern geradezu bösartig. Doch dies verweist zugleich auf den Charakter dieses Werkes: Es ist eben nicht nur eine tiefgehende Philosophiekritik eines geschichtlich und philosophisch hochgebildeten Marxisten, sondern zugleich auch eine großteils schon während des Krieges entwickelte antifaschistische Kampfschrift. Lukács war auch Literaturkritiker und glühender Verehrer der Schriften von Johann Wolfgang Goethe, Heinrich Heine und Thomas Mann, er verzweifelte daher am Irrationalismus und an antiaufklärerischem Denken. Sicherlich ist das Werk ein Produkt seiner Zeit, geprägt von Polarisierungen und Formulierungen, die heute aus der Zeit gefallen scheinen — sogar stalinistisch verharmlosend wirkende Formulierungen sind dort zu finden — und irritierend erscheint auch aus heutigem Wissensstand eine fehlende tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. Doch das tut der Faszination gegenüber der Breite und Kraft dieser philosophisch-historisch-politischen Streitschrift keinen Abbruch. Sie muss vielmehr in den Kontext ihrer zeitlichen Entstehung gesetzt werden: Ein Großteil der textlichen Vorarbeiten verfasste Lukács schon in den dreißiger und vierziger Jahren. Der aktive Antifaschist war schier verzweifelt über die faschistischen Erfolge und die geringe Gegenwehr der bürgerlichen Intelligenz. In den dreißiger Jahren war er in Deutschland noch aktiv im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Kurz nach dem Reichstagsbrand 1933 emigrierte Lukács mit seiner Familie in die Sowjetunion. Aus Moskau wiederum musste er vor dem Angriff der Nazis erneut fliehen und schrieb unter elenden Bedingungen, mit seiner Familie in einer Lehmhütte im usbekischen Taschkent lebend, fieberhaft weiter gegen den Faschismus an. Er verlor nicht nur viele Mitstrei­ter:innen; auch sein Bruder wurde von den Nazis im KZ ermordet. In Budapest kam er nach langen Unterbrechungen endlich Anfang der 1950er Jahre dazu, die Schrift zur Veröffentlichung fertigzustellen. Diese umfangreiche Auseinandersetzung mit dem philosophischen Irrationalismus ist laut Lukács daher zugleich auch eine Aufforderung nach der Devise „Discite moniti, ein ‚Lernet, die ihr gewarnt seid!‘ an die denkenden Menschen aller Völker. Eine Warnung, dass es keine ‚unschuldige‘, keine bloß akademische Philosophie gibt, dass immer und überall objektiv die Gefahr vorhanden ist, dass irgendein Weltbrandstifter aus dem philosophischen Gehalt ‚unschuldiger‘ Salongespräche, Kaffeehausunterhaltungen, Kathedervorträge, Feuilletons, Essays usw. wieder ein verzehrendes Feuer à la Hitler entfacht.“Ein Leseerlebnis für eine  philosophische Tour de Force!Georg Lukács:Die Zerstörung der VernunftAisthesis Verlag, Bielefeld 2022 (Neuauflage)775 Seiten, 45 Euro 2023-02-13T13:21:31+01:00 „Die Regierung quält Kinder…“ | Verschwörungsmythen zwischen Wahn und Faschismus https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/89/die-regierung-qu-lt-kinder Verschwörungsideen treiben seit mehr als zwei Jahren eine große Zahl von Menschen auf die Demos und in die Netzwerke der Pandemieleugner*innen. Viele meinen, solche Ideen seien nur etwas für Esoter­iker*innen, Rechte oder für psychisch instabile Menschen. Aber so einfach ist es nicht. Als Donald Trump am 15. November 2022 in einer wirren Rede seine erneute Kandidatur für das Amt des Präsidenten der USA ankündigte, machte er eine erstaunliche Bemerkung: „Wir müssen die eiternde Fäulnis in Washington D.C. säubern und werden den Staat im Staate (im Original „Deep State“) auseinandernehmen.“ Das war nicht das erste Mal, dass er das Vokabular von Verschwörungsideolog*innen verwendete. Der „Deep State“ meint dabei die angeblich pervertierten und korrupten Eliten, mit denen abgerechnet werden müsse. Trump trifft damit einen Ton, der Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten anzusprechen scheint.Verschwörungen? Purer Unsinn!In unsicheren Zeiten sind Esoterik und Verschwörungsideen populär, weil Menschen nach möglichst widerspruchsarmen Erklärungen für Krisenerscheinungen suchen. Vermeintlich „Eingeweihte“ stehen dann „Schlafschafen“ und der „Lügenpresse“ gegenüber. Fakten, Recherche und Wissensvermittlung sind verpönt, ob es nun um Globuli, Ufos oder Geheimgesellschaften geht. Und all das polarisiert. Viele Demokrat*innen neigen dazu, jede Idee der Existenz von Verschwörungen als Unsinn abzutun. Doch das greift zu kurz. Denn ein Blick in die Geschichte zeigt: Natürlich gab und gibt es Verschwörungen. Und die hatten immer wieder auch Erfolg. Von Julius Cäsar bis zu Abraham Lincoln fielen ihnen beispielsweise hochgestellte Persönlichkeiten zum Opfer.Ein Beispiel für eine erfolgreiche Verschwörung ist der Ku-Klux-Klan in den Vereinigten Staaten. Er wurde nach dem für den Süden verlorenen Bürgerkrieg 1865 gegründet und hatte in den ehemaligen Sklavenhalterstaaten enormen Einfluss. Dabei entwickelte er in seinen besten Zeiten eine für eine Verschwörergruppe typische Struktur. Interessierte konnten nicht einfach auf den Klan zugehen, um mitzumachen. Geeignete Kandidat*innen wurden stattdessen von Mitgliedern angeworben. Die Mehrheit hatte keine Ahnung, wer den Klan wirklich leitete. Der Anführer, der sogenannte „Grand Wizard“, war kaum jemanden bekannt. Dazu kamen Auswahlkriterien, die die meisten Menschen ausschlossen: Kandidaten waren Weiße und durften zumeist nicht jüdisch oder katholisch sein, Arme blieben draußen und Frauen waren nicht zugelassen. Letzteres änderte sich in den 1920er Jahren. Rassistische Gesellschaftsstrukturen wurden durch den Klan bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg gefestigt. Für manche ist er die erste faschistische Gruppe der Geschichte.Auch deutlich früher gab es in der Geschichte Beispiele für Komplotte. Beispielsweise das Vorgehen des französischen Königs Philipp des Schönen gegen den Templerorden im 14. Jahrhundert. Das Motiv war simpel: Die Templer hatten Geld — der König brauchte es. Die Begründung für sein Vorgehen aber war erstaunlich. Dem Orden wurden geheime Riten vorgeworfen, die sowohl an ihrer Heterosexualität als auch an ihrem Christentum zweifeln ließen. So wurde ihnen Dämonenverehrung angelastet. Ein Götze namens Baphomet war angeblich Objekt der Anbetung. Es existieren keine zeitgenössischen Darstellungen dieses Wesens. In einer Illustration aus dem 19.Jahrhundert hat er allerdings eindeutig androgyne, antisemitische und antichristliche Bestandteile, die bis heute in Verschwörungskreisen immer wieder auftauchen — sei es im klassischen Antisemitismus der „Protokolle der Weisen von Zion“ oder aktuell auf Querdenken-Demos.Das Attentat auf JFK — Die Mutter aller VerschwörungsideenAm 22. November 1963 schoss Lee Harvey Oswald in Dallas innerhalb von sieben Sekunden drei Mal auf Präsident John F. Kennedy und tötete ihn. Viele Menschen zweifelten daran, dass ein Einzeltäter den mächtigsten Menschen der Welt einfach so von der Bildfläche verschwinden lassen konnte. Wenn Oswald jedoch Komplizen hatte, war es eine Verschwörung. Und genau hier steigen Conspiracy-Fans ein.Verschwörungsideen offenbaren ein Dilemma. Denn natürlich ist es grundsätzlich sinnvoll, das Handeln von Regierenden oder von Medien kritisch zu hinterfragen. Oswald wurde zwei Tage nach dem Attentat von Jack Ruby, einem Mafia-Mitglied, während der Verlegung in ein anderes Gefängnis erschossen — ein unfassbarer Vorgang. Viele Bürgerinnen und Bürger wurden misstrauisch, am Ende sprudelten aber nur Verschwörungsideen: Die Mafia sei es gewesen, der KGB, die CIA, Kubaner um Fidel Castro, andere Kubaner, die Castro und Kennedy loswerden wollten, die Ölindustrie, der Vizepräsident oder alle zusammen. Solche Geschichten klingen spannend. Beweise liegen allerdings keine vor. Was bis heute von diesem Fall bleibt, ist die offizielle Sicht, dass Oswald allein gehandelt hat — und ein Haufen Verschwörungserzählungen.„Truther“ und die extreme Rechte in den USAEin zentrales Ereignis, das dazu beitrug, dass heute eine Welle von „Alternativvorstellungen“ zu Politik und Gesellschaft wächst, war der Anschlag auf das World Trade Center 2001. Wie beim Kennedy-Attentat passierte etwas Undenkbares: Von Islamisten gekaperte Flugzeuge drangen in den Luftraum der USA ein, zerstörten eines der mächtigsten Symbole der westlichen Welt und ermordeten Tausende. Auch hier fing alles mit erst einmal naheliegenden Fragen an: Warum stürzten die Türme so schnell ein? Wo war die Luftabwehr der USA? Gab es keine Hinweise im Vorfeld? Doch schnell wurde in der nach 2001 entstehenden sogenannten „Truther“-Szene — Menschen, die die „Wahrheit“ aufdecken wollen — behauptet: Die Regierung lügt! Und wieder explodierten die Verschwörungs-Storys: George W. Bush habe den Terrorakt initiiert, um einen Grund für den Irakkrieg zu haben oder der Mossad sei schuldig, denn es waren angeblich keine Jüdinnen und Juden unter den Opfern — was nicht stimmt. Beweise für diese Ideen gab es keine.In den folgenden Jahren entwickelte sich die Szene der Verschwörungsgläubigen vor allem in den USA rasant weiter. Die Ideologie der extremen Rechten vermischte sich mit deren Ideen. Große Teile dieses Spektrums machten sich später stark für Donald Trump. Leitfiguren wie der rechte Verschwörungsfan Alex Jones waren am 6. Januar 2021 bei der Erstürmung des Kapitols dabei. Aber schon lange vorher stellte er in seiner Sendung „Infowars“ etwa das Schulmassaker von Sandy Hook als Fake dar. 2012 waren dort 27 Menschen — die Mehrheit Kinder — von einem Amokläufer erschossen worden. Schauspieler hätten aber laut Jones das Drama nur vorgetäuscht, damit der damalige Präsident Barack Obama das Waffenrecht verschärfen könne. Jones wurde mittlerweile in mehreren Verfahren, zuletzt im November 2022, für seine Lügen zu enormen Geldstrafen verurteilt — seine Ideen bleiben virulent.„Pizzagate“Donald Trump führte 2016 einen schmutzigen Wahlkampf gegen Hillary Clinton. Während der Kampagne wurden die E-Mails von Clintons Wahlkampfmanager John Podesta gehackt. Der Mann hatte in der Washingtoner Pizzeria Comet Ping Pong, unweit vom Hauptquartier der Demokraten, regelmäßig Pizza bestellt. Dies wurde von Trump-Anhängern zum Betreiben eines Kinderschänderrings erklärt — und damit der politische Gegner denunziert. So wurde die Pasta- und Pizzaorder als Bestellung von Mädchen und Jungen zu Missbrauchszwecken umgedeutet. Und es gab genug Leute, die das glaubten. Ein junger Mann stieg sogar am 4. Dezember 2016 in seinen Van, schulterte ein Sturmgewehr und fuhr nach Washington, um die Kinder zu befreien. Er rannte in die Pizzeria und schoss um sich. Zum Glück tötete er niemanden. Er musste ins Gefängnis.„QAnon“ — faschistoid und verschwörungsorientiertIm Anschluss an die „Pizzagate“-These tauchte 2017 ein neuer Prophet der rechten Verschwörungsszene auf und wandte sich an all diejenigen, die an die Idee einer satanischen Elite glaubten: „Q“ — der Erzählung nach ein enger Mitarbeiter von Donald Trump, der den Präsidenten bei seinem Kampf gegen den „Deep State“ unterstütze. Verschwörungserzählungen und vermeintliche Geheiminformationen aus Regierungskreisen wurden in sogenannten Q-Drops medial verbreitet, oft viele Meldungen am Tag. Trump hat sich wohlwollend über die QAnon-Bewegung geäußert. Sie hat die Irrationalität in der extremen Rechten der USA vergrößert und ihr zugleich Zulauf beschert. Darüber hinaus hat sie die konservativen Republikaner immer mehr mit Verschwörungsfans durchsetzt.Auch in Deutschland hat sich in den Jahren der Pandemie die Anhänger*innenschaft des QAnon-Verschwörungsmythos’ vergrößert. Die Kernerzählung besteht in der Behauptung, dass die Eliten in unterirdischen Lagern Kinder quälten, um das Jugend bringende Hormon Adrenochrom zu erzeugen. Als prominenter Anhänger dieses Verschwörungsmythos erlangte im April 2020 der Pop-Star Xavier Naidoo Aufsehen, der in einem Video weinend auf diese angeblichen Vorgänge verwies. In der erratischen Szene der Pandemieleugner*innen hierzulande hat die QAnon-Bewegung in den letzten Jahren einen Fuß in die Tür bekommen und ist aus dem Erscheinungsbild vieler Demonstrationen nicht mehr wegzudenken.Machtmissbrauch als RealitätEs liegt auf der Hand, Verschwörungsideen als Spinnereien zu betrachten. Gleichzeitig gibt es Beispiele aus der Realität, die die Monstrosität der Gewalt etwa in der QAnon-Erzählung für einige Menschen als glaubhaft erscheinen lassen können. Der Schwerkriminelle Marc Dutroux hat in Belgien in den frühen 1990er Jahren Kinder entführt, missbraucht und ermordet. Das Besondere an diesem Fall war, dass der Täter wohl Verbindungen bis in die höchsten politischen Kreise des Landes hatte und teilweise, etwa durch das Versetzen von Ermittlern, verhindert wurde, dass der Fall restlos aufgeklärt wurde. Auch Personen wie der Filmmogul Harvey Weinstein scheinen ein Beweis zu sein, dass das „Establishment“ böse und verdorben ist. Viele in Weinsteins Umfeld haben weggeschaut, wussten aber Bescheid. Sie taten das, um Geld und Einfluss in der Filmindustrie zu bewahren — auf Kosten der Opfer. Davon ausgehend wittern Menschen eine Verschwörung von Politik und Medienwelt.Im Fall von Jeffrey Epstein und Ghislaine Maxwell tun sich Abgründe auf. Epstein war ein erfolgreicher Investmentbanker und mit Prominenten wie Donald Trump, Bill Clinton, Bill Gates oder dem Bruder des britischen Königs Charles III – Prinz Andrew – befreundet. Epstein wurde 2019 wegen des Betreibens eines Rings zum sexuellen Missbrauch von Minderjährigen angeklagt. Bill Clinton war mehrfach in dessen Privatjet geflogen, der intern in zynischer Anlehnung an die Verbrechen „Lolita-Express“ genannt wurde. Epstein kam in Haft — und wurde in seiner Zelle erhängt gefunden. Die Todesumstände lösten Spekulationen aus, Epstein sei umgebracht worden, um zu verhindern, dass er im Prozess aussagt. Seine Komplizin Maxwell wurde im Dezember 2021 zu 20 Jahren Haft verurteilt.Solche realen Fälle von Machtmissbrauch und Verbrechen bieten Anknüpfungspunkte für die pauschale Annahme, das „Establishment“ sei korrupt und habe sich zum Zweck der Ausbeutung von Menschen und sogar Minderjährigen verschworen.Für eine erfolgreiche Verschwörungsidee scheinen solche Bezüge zur Realität notwendig. Verschwörungsmythen wie etwa die Annahme, die Erde sei eine Scheibe oder Angela Merkel ein Reptiloid, existieren zwar, jedoch mobilisieren sie weitaus weniger Menschen als etwa der Mythos, das Corona-Virus sei eine Erfindung von profitorientierten Pharmaunternehmen, um daraus Milliarden zu generieren.Verschwörungsideen vom Nationalsozialismus bis heuteViele Vordenker des Nationalsozialismus bedienten schon im 19. Jahrhundert die Schnittstelle von Esoterik, Verschwörungsgedanken und Faschismus, die heute wieder erkennbar ist. Etwa Eugen Dühring, der 1881 in „Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage. Mit einer weltgeschichtlichen Antwort“ Impfungen gegen Pocken als Geldmacherei von jüdischen Ärzten denunzierte. Die sogenannten Ariosophen — Ariosophie ist die Lehre von der Überlegenheit der Arier — zu denen Autoren wie Guido von List oder Adolf Joseph Lanz alias Jörg Lanz von Liebenfels zählten, verbreiteten extremen Antisemitismus in Kombination mit Naturverehrung, Spiritualität, Antifeminismus und Esoterik. Sie waren die radikalsten Vertreter des Befreiungskampfs der imaginierten arischen Rasse und formierten sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg unter dem Symbol des Hakenkreuzes. Auch inspiriert von solchen Vorbildern drehten die Nazis 1939 etwa den Film „Germanen gegen Pharaonen“, in dem behauptet wurde, das alte Ägypten sei stark von Germanen beeinflusst worden. Angebliche Funde von Holz aus dem Ostseeraum in ägyptischen Gräbern sollten dies ebenso belegen wie die Behauptung, dass Stonehenge älter als die Pyramiden und ein Vorbild für die Ägypter gewesen sei. Vor allem in der SS fand sich völkermörderisches Gedankengut zusammen mit Esoterik. So schickte Heinrich Himmler im Rahmen der Suche nach dem vermeintlichen Ursprungsort der Arier Expeditionen in den südamerikanischen Regenwald, nach Tibet sowie nach Island. Das Zusammengehen von heutigen esoterischen Szenen mit der extremen Rechten, am sichtbarsten aktuell in den Kreisen der Pandemieleugner*innen, erscheint durch solche historischen ideologischen Kontinuitäten daher durchaus plausibel.Der Mythos der „jüdischen Weltverschwörung“Der nachhaltig erfolgreichste all dieser Mythen ist wohl die angebliche Verschwörung von Jüdinnen und Juden zur Erringung der Weltherrschaft. Dieser Mythos fand zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den berühmt-berüchtigten „Protokollen der Weisen von Zion“ Verbreitung. Dieses antisemitische Pamphlet erschien zuerst 1903 in Russland und wurde angeblich von dem Mönch Sergej Nilus verfasst. In Wahrheit haben es zaristische Geheimagenten entworfen, unter anderem unter Nutzung des Abenteuerromans „Biarritz“ des unter dem Pseudonym John Retcliffe schreibenden Hermann Goedsche. Im Roman versammeln sich Rabbiner auf dem Prager jüdischen Friedhof, um die Weltherrschaft zu planen. Die „Protokolle“ wurden ein Teil der konterrevolutionären Propaganda im russischen Bürgerkrieg nach 1917, trugen zu Pogromen in den Jahren darauf bei und wurden auch von den Nationalsozialisten immer wieder aufgegriffen. Dieser antisemitische Mythos dient bis heute weltweit als Blaupause für die allermeisten Verschwörungserzählungen.Denken „Querdenker“ quer?Früher wurden unter Querdenkern Menschen verstanden, die nonkonform auftraten und „gegen den Strich“ dachten. Heute definieren sich unter diesem Etikett oft rechte oder esoterische Akteure. Sie sind geeint in ihrer pauschalen Verachtung von Politik, Wissenschaft und Medien sowie deren Repräsentant*innen und tragen zusammen mit faschistischen Gruppen das auf die Straße, was sie für die „Wahrheit“ etwa über Corona-Impfungen halten. Das Zusammengehen von Esoterik und Faschismus, aber auch das Überleben antisemitischer Erzählungen — so erinnern die Kindermordvorwürfe an die Eliten heute stark an alte Ritualmordvorwürfe gegenüber Rabbinern — prägen die aktuelle verschwörungsideologische Protestbewegung. Sie ist der deutsch-völkisch protofaschistischen Szenerie aus der Zeit vor 1914 oft erstaunlich nah. Diese Entwicklungen zeigen, dass eine Auseinandersetzung mit Esoterik und Verschwörungsideen geboten ist. Nicht zuletzt gilt es dabei, den notwendigen kritischen Blick auf Macht oder Regierungshandeln eben nicht zu verwechseln mit dem Glauben an von „bösen Mächten“ angetriebene allumfassende globale Verschwörungen. Braunzone 7804 Mon, 13 Feb 2023 13:20:11 +0100 LOTTA „Die Regierung quält Kinder…“ Michael Fehrin Verschwörungsideen treiben seit mehr als zwei Jahren eine große Zahl von Menschen auf die Demos und in die Netzwerke der Pandemieleugner*innen. Viele meinen, solche Ideen seien nur etwas für Esoter­iker*innen, Rechte oder für psychisch instabile Menschen. Aber so einfach ist es nicht. Als Donald Trump am 15. November 2022 in einer wirren Rede seine erneute Kandidatur für das Amt des Präsidenten der USA ankündigte, machte er eine erstaunliche Bemerkung: „Wir müssen die eiternde Fäulnis in Washington D.C. säubern und werden den Staat im Staate (im Original „Deep State“) auseinandernehmen.“ Das war nicht das erste Mal, dass er das Vokabular von Verschwörungsideolog*innen verwendete. Der „Deep State“ meint dabei die angeblich pervertierten und korrupten Eliten, mit denen abgerechnet werden müsse. Trump trifft damit einen Ton, der Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten anzusprechen scheint.Verschwörungen? Purer Unsinn!In unsicheren Zeiten sind Esoterik und Verschwörungsideen populär, weil Menschen nach möglichst widerspruchsarmen Erklärungen für Krisenerscheinungen suchen. Vermeintlich „Eingeweihte“ stehen dann „Schlafschafen“ und der „Lügenpresse“ gegenüber. Fakten, Recherche und Wissensvermittlung sind verpönt, ob es nun um Globuli, Ufos oder Geheimgesellschaften geht. Und all das polarisiert. Viele Demokrat*innen neigen dazu, jede Idee der Existenz von Verschwörungen als Unsinn abzutun. Doch das greift zu kurz. Denn ein Blick in die Geschichte zeigt: Natürlich gab und gibt es Verschwörungen. Und die hatten immer wieder auch Erfolg. Von Julius Cäsar bis zu Abraham Lincoln fielen ihnen beispielsweise hochgestellte Persönlichkeiten zum Opfer.Ein Beispiel für eine erfolgreiche Verschwörung ist der Ku-Klux-Klan in den Vereinigten Staaten. Er wurde nach dem für den Süden verlorenen Bürgerkrieg 1865 gegründet und hatte in den ehemaligen Sklavenhalterstaaten enormen Einfluss. Dabei entwickelte er in seinen besten Zeiten eine für eine Verschwörergruppe typische Struktur. Interessierte konnten nicht einfach auf den Klan zugehen, um mitzumachen. Geeignete Kandidat*innen wurden stattdessen von Mitgliedern angeworben. Die Mehrheit hatte keine Ahnung, wer den Klan wirklich leitete. Der Anführer, der sogenannte „Grand Wizard“, war kaum jemanden bekannt. Dazu kamen Auswahlkriterien, die die meisten Menschen ausschlossen: Kandidaten waren Weiße und durften zumeist nicht jüdisch oder katholisch sein, Arme blieben draußen und Frauen waren nicht zugelassen. Letzteres änderte sich in den 1920er Jahren. Rassistische Gesellschaftsstrukturen wurden durch den Klan bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg gefestigt. Für manche ist er die erste faschistische Gruppe der Geschichte.Auch deutlich früher gab es in der Geschichte Beispiele für Komplotte. Beispielsweise das Vorgehen des französischen Königs Philipp des Schönen gegen den Templerorden im 14. Jahrhundert. Das Motiv war simpel: Die Templer hatten Geld — der König brauchte es. Die Begründung für sein Vorgehen aber war erstaunlich. Dem Orden wurden geheime Riten vorgeworfen, die sowohl an ihrer Heterosexualität als auch an ihrem Christentum zweifeln ließen. So wurde ihnen Dämonenverehrung angelastet. Ein Götze namens Baphomet war angeblich Objekt der Anbetung. Es existieren keine zeitgenössischen Darstellungen dieses Wesens. In einer Illustration aus dem 19.Jahrhundert hat er allerdings eindeutig androgyne, antisemitische und antichristliche Bestandteile, die bis heute in Verschwörungskreisen immer wieder auftauchen — sei es im klassischen Antisemitismus der „Protokolle der Weisen von Zion“ oder aktuell auf Querdenken-Demos.Das Attentat auf JFK — Die Mutter aller VerschwörungsideenAm 22. November 1963 schoss Lee Harvey Oswald in Dallas innerhalb von sieben Sekunden drei Mal auf Präsident John F. Kennedy und tötete ihn. Viele Menschen zweifelten daran, dass ein Einzeltäter den mächtigsten Menschen der Welt einfach so von der Bildfläche verschwinden lassen konnte. Wenn Oswald jedoch Komplizen hatte, war es eine Verschwörung. Und genau hier steigen Conspiracy-Fans ein.Verschwörungsideen offenbaren ein Dilemma. Denn natürlich ist es grundsätzlich sinnvoll, das Handeln von Regierenden oder von Medien kritisch zu hinterfragen. Oswald wurde zwei Tage nach dem Attentat von Jack Ruby, einem Mafia-Mitglied, während der Verlegung in ein anderes Gefängnis erschossen — ein unfassbarer Vorgang. Viele Bürgerinnen und Bürger wurden misstrauisch, am Ende sprudelten aber nur Verschwörungsideen: Die Mafia sei es gewesen, der KGB, die CIA, Kubaner um Fidel Castro, andere Kubaner, die Castro und Kennedy loswerden wollten, die Ölindustrie, der Vizepräsident oder alle zusammen. Solche Geschichten klingen spannend. Beweise liegen allerdings keine vor. Was bis heute von diesem Fall bleibt, ist die offizielle Sicht, dass Oswald allein gehandelt hat — und ein Haufen Verschwörungserzählungen.„Truther“ und die extreme Rechte in den USAEin zentrales Ereignis, das dazu beitrug, dass heute eine Welle von „Alternativvorstellungen“ zu Politik und Gesellschaft wächst, war der Anschlag auf das World Trade Center 2001. Wie beim Kennedy-Attentat passierte etwas Undenkbares: Von Islamisten gekaperte Flugzeuge drangen in den Luftraum der USA ein, zerstörten eines der mächtigsten Symbole der westlichen Welt und ermordeten Tausende. Auch hier fing alles mit erst einmal naheliegenden Fragen an: Warum stürzten die Türme so schnell ein? Wo war die Luftabwehr der USA? Gab es keine Hinweise im Vorfeld? Doch schnell wurde in der nach 2001 entstehenden sogenannten „Truther“-Szene — Menschen, die die „Wahrheit“ aufdecken wollen — behauptet: Die Regierung lügt! Und wieder explodierten die Verschwörungs-Storys: George W. Bush habe den Terrorakt initiiert, um einen Grund für den Irakkrieg zu haben oder der Mossad sei schuldig, denn es waren angeblich keine Jüdinnen und Juden unter den Opfern — was nicht stimmt. Beweise für diese Ideen gab es keine.In den folgenden Jahren entwickelte sich die Szene der Verschwörungsgläubigen vor allem in den USA rasant weiter. Die Ideologie der extremen Rechten vermischte sich mit deren Ideen. Große Teile dieses Spektrums machten sich später stark für Donald Trump. Leitfiguren wie der rechte Verschwörungsfan Alex Jones waren am 6. Januar 2021 bei der Erstürmung des Kapitols dabei. Aber schon lange vorher stellte er in seiner Sendung „Infowars“ etwa das Schulmassaker von Sandy Hook als Fake dar. 2012 waren dort 27 Menschen — die Mehrheit Kinder — von einem Amokläufer erschossen worden. Schauspieler hätten aber laut Jones das Drama nur vorgetäuscht, damit der damalige Präsident Barack Obama das Waffenrecht verschärfen könne. Jones wurde mittlerweile in mehreren Verfahren, zuletzt im November 2022, für seine Lügen zu enormen Geldstrafen verurteilt — seine Ideen bleiben virulent.„Pizzagate“Donald Trump führte 2016 einen schmutzigen Wahlkampf gegen Hillary Clinton. Während der Kampagne wurden die E-Mails von Clintons Wahlkampfmanager John Podesta gehackt. Der Mann hatte in der Washingtoner Pizzeria Comet Ping Pong, unweit vom Hauptquartier der Demokraten, regelmäßig Pizza bestellt. Dies wurde von Trump-Anhängern zum Betreiben eines Kinderschänderrings erklärt — und damit der politische Gegner denunziert. So wurde die Pasta- und Pizzaorder als Bestellung von Mädchen und Jungen zu Missbrauchszwecken umgedeutet. Und es gab genug Leute, die das glaubten. Ein junger Mann stieg sogar am 4. Dezember 2016 in seinen Van, schulterte ein Sturmgewehr und fuhr nach Washington, um die Kinder zu befreien. Er rannte in die Pizzeria und schoss um sich. Zum Glück tötete er niemanden. Er musste ins Gefängnis.„QAnon“ — faschistoid und verschwörungsorientiertIm Anschluss an die „Pizzagate“-These tauchte 2017 ein neuer Prophet der rechten Verschwörungsszene auf und wandte sich an all diejenigen, die an die Idee einer satanischen Elite glaubten: „Q“ — der Erzählung nach ein enger Mitarbeiter von Donald Trump, der den Präsidenten bei seinem Kampf gegen den „Deep State“ unterstütze. Verschwörungserzählungen und vermeintliche Geheiminformationen aus Regierungskreisen wurden in sogenannten Q-Drops medial verbreitet, oft viele Meldungen am Tag. Trump hat sich wohlwollend über die QAnon-Bewegung geäußert. Sie hat die Irrationalität in der extremen Rechten der USA vergrößert und ihr zugleich Zulauf beschert. Darüber hinaus hat sie die konservativen Republikaner immer mehr mit Verschwörungsfans durchsetzt.Auch in Deutschland hat sich in den Jahren der Pandemie die Anhänger*innenschaft des QAnon-Verschwörungsmythos’ vergrößert. Die Kernerzählung besteht in der Behauptung, dass die Eliten in unterirdischen Lagern Kinder quälten, um das Jugend bringende Hormon Adrenochrom zu erzeugen. Als prominenter Anhänger dieses Verschwörungsmythos erlangte im April 2020 der Pop-Star Xavier Naidoo Aufsehen, der in einem Video weinend auf diese angeblichen Vorgänge verwies. In der erratischen Szene der Pandemieleugner*innen hierzulande hat die QAnon-Bewegung in den letzten Jahren einen Fuß in die Tür bekommen und ist aus dem Erscheinungsbild vieler Demonstrationen nicht mehr wegzudenken.Machtmissbrauch als RealitätEs liegt auf der Hand, Verschwörungsideen als Spinnereien zu betrachten. Gleichzeitig gibt es Beispiele aus der Realität, die die Monstrosität der Gewalt etwa in der QAnon-Erzählung für einige Menschen als glaubhaft erscheinen lassen können. Der Schwerkriminelle Marc Dutroux hat in Belgien in den frühen 1990er Jahren Kinder entführt, missbraucht und ermordet. Das Besondere an diesem Fall war, dass der Täter wohl Verbindungen bis in die höchsten politischen Kreise des Landes hatte und teilweise, etwa durch das Versetzen von Ermittlern, verhindert wurde, dass der Fall restlos aufgeklärt wurde. Auch Personen wie der Filmmogul Harvey Weinstein scheinen ein Beweis zu sein, dass das „Establishment“ böse und verdorben ist. Viele in Weinsteins Umfeld haben weggeschaut, wussten aber Bescheid. Sie taten das, um Geld und Einfluss in der Filmindustrie zu bewahren — auf Kosten der Opfer. Davon ausgehend wittern Menschen eine Verschwörung von Politik und Medienwelt.Im Fall von Jeffrey Epstein und Ghislaine Maxwell tun sich Abgründe auf. Epstein war ein erfolgreicher Investmentbanker und mit Prominenten wie Donald Trump, Bill Clinton, Bill Gates oder dem Bruder des britischen Königs Charles III – Prinz Andrew – befreundet. Epstein wurde 2019 wegen des Betreibens eines Rings zum sexuellen Missbrauch von Minderjährigen angeklagt. Bill Clinton war mehrfach in dessen Privatjet geflogen, der intern in zynischer Anlehnung an die Verbrechen „Lolita-Express“ genannt wurde. Epstein kam in Haft — und wurde in seiner Zelle erhängt gefunden. Die Todesumstände lösten Spekulationen aus, Epstein sei umgebracht worden, um zu verhindern, dass er im Prozess aussagt. Seine Komplizin Maxwell wurde im Dezember 2021 zu 20 Jahren Haft verurteilt.Solche realen Fälle von Machtmissbrauch und Verbrechen bieten Anknüpfungspunkte für die pauschale Annahme, das „Establishment“ sei korrupt und habe sich zum Zweck der Ausbeutung von Menschen und sogar Minderjährigen verschworen.Für eine erfolgreiche Verschwörungsidee scheinen solche Bezüge zur Realität notwendig. Verschwörungsmythen wie etwa die Annahme, die Erde sei eine Scheibe oder Angela Merkel ein Reptiloid, existieren zwar, jedoch mobilisieren sie weitaus weniger Menschen als etwa der Mythos, das Corona-Virus sei eine Erfindung von profitorientierten Pharmaunternehmen, um daraus Milliarden zu generieren.Verschwörungsideen vom Nationalsozialismus bis heuteViele Vordenker des Nationalsozialismus bedienten schon im 19. Jahrhundert die Schnittstelle von Esoterik, Verschwörungsgedanken und Faschismus, die heute wieder erkennbar ist. Etwa Eugen Dühring, der 1881 in „Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage. Mit einer weltgeschichtlichen Antwort“ Impfungen gegen Pocken als Geldmacherei von jüdischen Ärzten denunzierte. Die sogenannten Ariosophen — Ariosophie ist die Lehre von der Überlegenheit der Arier — zu denen Autoren wie Guido von List oder Adolf Joseph Lanz alias Jörg Lanz von Liebenfels zählten, verbreiteten extremen Antisemitismus in Kombination mit Naturverehrung, Spiritualität, Antifeminismus und Esoterik. Sie waren die radikalsten Vertreter des Befreiungskampfs der imaginierten arischen Rasse und formierten sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg unter dem Symbol des Hakenkreuzes. Auch inspiriert von solchen Vorbildern drehten die Nazis 1939 etwa den Film „Germanen gegen Pharaonen“, in dem behauptet wurde, das alte Ägypten sei stark von Germanen beeinflusst worden. Angebliche Funde von Holz aus dem Ostseeraum in ägyptischen Gräbern sollten dies ebenso belegen wie die Behauptung, dass Stonehenge älter als die Pyramiden und ein Vorbild für die Ägypter gewesen sei. Vor allem in der SS fand sich völkermörderisches Gedankengut zusammen mit Esoterik. So schickte Heinrich Himmler im Rahmen der Suche nach dem vermeintlichen Ursprungsort der Arier Expeditionen in den südamerikanischen Regenwald, nach Tibet sowie nach Island. Das Zusammengehen von heutigen esoterischen Szenen mit der extremen Rechten, am sichtbarsten aktuell in den Kreisen der Pandemieleugner*innen, erscheint durch solche historischen ideologischen Kontinuitäten daher durchaus plausibel.Der Mythos der „jüdischen Weltverschwörung“Der nachhaltig erfolgreichste all dieser Mythen ist wohl die angebliche Verschwörung von Jüdinnen und Juden zur Erringung der Weltherrschaft. Dieser Mythos fand zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den berühmt-berüchtigten „Protokollen der Weisen von Zion“ Verbreitung. Dieses antisemitische Pamphlet erschien zuerst 1903 in Russland und wurde angeblich von dem Mönch Sergej Nilus verfasst. In Wahrheit haben es zaristische Geheimagenten entworfen, unter anderem unter Nutzung des Abenteuerromans „Biarritz“ des unter dem Pseudonym John Retcliffe schreibenden Hermann Goedsche. Im Roman versammeln sich Rabbiner auf dem Prager jüdischen Friedhof, um die Weltherrschaft zu planen. Die „Protokolle“ wurden ein Teil der konterrevolutionären Propaganda im russischen Bürgerkrieg nach 1917, trugen zu Pogromen in den Jahren darauf bei und wurden auch von den Nationalsozialisten immer wieder aufgegriffen. Dieser antisemitische Mythos dient bis heute weltweit als Blaupause für die allermeisten Verschwörungserzählungen.Denken „Querdenker“ quer?Früher wurden unter Querdenkern Menschen verstanden, die nonkonform auftraten und „gegen den Strich“ dachten. Heute definieren sich unter diesem Etikett oft rechte oder esoterische Akteure. Sie sind geeint in ihrer pauschalen Verachtung von Politik, Wissenschaft und Medien sowie deren Repräsentant*innen und tragen zusammen mit faschistischen Gruppen das auf die Straße, was sie für die „Wahrheit“ etwa über Corona-Impfungen halten. Das Zusammengehen von Esoterik und Faschismus, aber auch das Überleben antisemitischer Erzählungen — so erinnern die Kindermordvorwürfe an die Eliten heute stark an alte Ritualmordvorwürfe gegenüber Rabbinern — prägen die aktuelle verschwörungsideologische Protestbewegung. Sie ist der deutsch-völkisch protofaschistischen Szenerie aus der Zeit vor 1914 oft erstaunlich nah. Diese Entwicklungen zeigen, dass eine Auseinandersetzung mit Esoterik und Verschwörungsideen geboten ist. Nicht zuletzt gilt es dabei, den notwendigen kritischen Blick auf Macht oder Regierungshandeln eben nicht zu verwechseln mit dem Glauben an von „bösen Mächten“ angetriebene allumfassende globale Verschwörungen. 2023-02-13T13:20:11+01:00 „Die Zerstörung der Vernunft“ | Im Gespräch mit Rüdiger Dannemann über das Werk des marxistischen Antifaschisten Georg Lukács https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/89/die-zerst-rung-der-vernunft Mit seinem erstmals 1954 veröffentlichten Werk „Die Zerstörung der Vernunft“ rekonstruierte Georg Lukács die Entwicklung eines irrationalistischen Denkens in Deutschland auf dem Weg in den Faschismus (siehe auch die Rezension auf S. 61). Das Buch war wohl die erste grundlegende Auseinandersetzung mit der philosophischen Hinwendung zum Faschismus.Was macht diese Schrift so besonders, dass sie eine Wiederauflage rechtfertigt?Rüdiger Dannemann (R.D.): Es gibt auch andere Philosophen, die sich mit dem Irrationalismus kritisch beschäftigt haben (etwa Ernst Cassirer, Cohen oder Hartmann), aber Lukács‘ Werk unterscheidet sich deutlich von ihnen. Es ist die Schrift eines marxistischen Antifaschisten, der nicht zuletzt „bürgerliche“ (heute würde man vielleicht sagen linksliberale) Intellektuelle aufrütteln will. Lukács hat sich gleich nach der Machtergreifung Hitlers daran gemacht, deren ideologische Vorgeschichte als Geschichte des Irrationalismus zu fassen. Im Exil in der Sowjetunion verfasste er in einem Abstand von etwa zehn Jahren zwei umfangreiche Studien unter den Titeln „Wie ist die faschistische Philosophie in Deutschland entstanden?“ und „Wie ist Deutschland zum Zentrum der reaktionären Ideologie geworden?“. Das waren Schriften eines Kombattanten im Kampf mit der faschistischen Barbarei und Vorarbeiten zu dem monumentalen Werk, das 1954 unter dem Titel „Die Zerstörung der Vernunft“ („ZdV“) erschien und für Furore sorgte. Diese Entstehungsgeschichte macht die polemischen Zuspitzungen und Engführungen verständlich, die später immer wieder für Kritik gesorgt haben.Besonders Nietzsche und Heidegger, auch Karl Jaspers werden von Lukács schonungslos der faschistischen Philosophie zugeordnet. Welche Hauptargumente führt Lukács für diese Wertung auf und trafen diese Einschätzungen in den damaligen Kreisen marxistischer Philosophie auf Zustimmung?R.D.: Lukács geht von der These aus, es gebe keine „unschuldige Weltanschauung“. Bei seinen Untersuchungen von deren sozialer Genesis und Funktion geht er von einem in den Traditionen von Aufklärung und klassischer deutscher Philosophie mit der Gipfelgestalt Hegel stehenden, aber politisch-marxistisch zugespitzten Vernunftbegriff aus: Für ihn ist Vernunft nicht etwas „über der gesellschaftlichen Entwicklung Schwebendes, parteilos Neutrales“, vielmehr „stets die konkrete Vernünftigkeit (oder Unvernünftigkeit) einer gesellschaftlichen Lage“. So formuliert er es in „Die Zerstörung der Vernunft“. Heidegger, Jaspers und zumal Nietzsche rechnet Lukács zum Lager der Irrationalisten, insofern auch für sie essenzielle Merkmale von Lukács‘ Irrationalismusbegriff zutreffen: „Herabsetzung von Verstand und Vernunft, kritiklose Verherrlichung der Intuition, aristokratische Erkenntnistheorie, Ablehnung des gesellschaftlich-geschichtlichen Fortschritts, Schaffen von Mythen“. Paradigmatisch ist für Lukács der Fall Nietzsche: Er zeichnet das Bild eines hochbegabten Aphoristikers und Kulturkritikers, der das Verfahren der „indirekten Apologetik“ des Bestehenden (also der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft) meisterlich beherrscht hat: Er verbindet Kritik an der herrschenden Moral, Religiosität, den dominanten Denk- und Lebensformen mit einer Ablehnung sozialistischer Gegenbewegungen aus der Perspektive einer aristokratischen Erkenntnistheorie und des Verächtlichmachens des Ideals der Gleichheit. Lukács macht in einer brieflichen Auseinandersetzung mit Ernst Bloch deutlich, dass er Nietzsche nicht für einen Faschisten hält: Das zu tun, wäre „ein historischer Unsinn“, denn „1890 konnte noch niemand aus sozialhistorischen Gründen eine faschistische Ideologie haben“. Er ist in seinen Augen „aber der bedeutendste Denker einer historischen Etappe der ideologischen Entwicklung Deutschlands, der die ideologische Entwicklung“ in Richtung Faschismus befördert hat.Der französische Philosoph Lucien Goldmann meinte gar, Verbindungslinien zwischen Heideggers Werk „Sein und Zeit“ und der „Zerstörung der Vernunft“ entdeckt zu haben. Wie ist das denn zu verstehen?R.D.: Tatsächlich hat Goldmann Verbindungslinien zwischen Lukács und Heidegger gesehen. Diese beziehen sich aber auf Ähnlichkeiten zwischen „Geschichte und Klassenbewußtsein“ („GuK“) und „Sein und Zeit“, das er in gewisser Weise als Reaktion auf Lukács‘ frühes Meisterwerk gesehen hat. Die Ähnlichkeiten betreffen beider Kritik an überholten dualistischen Subjekt-Objekt-Konzeptionen, wie sie seit Descartes in der neuzeitlichen Philosophie üblich waren. Axel Honneth hat davon gesprochen, dass Lukács „auf Augenhöhe“ mit Heidegger zu betrachten sei, was die Wirksamkeit ihrer Zeitdiagnosen betrifft. Das Heidegger-Bild der „ZdV“ ist aber durchwegs negativ, es betrifft nicht nur das heute noch vieldiskutierte Engagement Heideggers für Hitler in seiner Freiburger Zeit, sondern seine im Konzept der „Geworfenheit“ ins Dasein implizierte Ontologisierung von Entfremdungsphänomenen insgesamt. In seiner „Ontologie“, die auch als Gegenentwurf zu Heidegger verstanden werden kann, geht der späte Lukács viel unpolemischer, aber in der Sache unverändert kritisch mit Heidegger um. Dort zollt er auch dem existentialistischen Marxisten Sartre seinen Respekt.Besonders Theodor W. Adorno empörte sich über die Urteile von Lukács: Augenscheinlich so empört über die Aburteilung von Nietzsche ließ er sich zu der Bemerkung hinreißen, Lukács habe mit diesem Werk eher die Zerstörung seiner eigenen Vernunft betrieben. Wie erklärt sich dieser scharfe Ton und wie sind die unterschiedlichen Einschätzungen von Adorno und Lukács zur philosophischen Wegbereitung des Faschismus zu verstehen?R. D.: Für Adorno war Nietzsche ein zentraler Bezugspunkt bei der Ausarbeitung seiner pessimistischen Geschichtsphilosophie, die er in seiner „Dialektik der Aufklärung“ entwickelt hat, der sowohl inhaltlich als auch methodisch-stilistisch Vorbild war. Als Adorno dann Mitte der fünfziger Jahre die Vorwürfe gegen Lukács erhob, war er ein etablierter Vordenker der Bundesrepublik, dem der im „realsozialistischen“ Ungarn lebende Lukács als gedankenarmer Vertreter des orthodoxen Marxismus-Leninismus erschien. Auch das Faktum, dass Lukács sich 1956 im antistalinistischen Ungarn-Aufstand engagierte (und sein Leben riskierte), konnte Adorno nicht zu einer historisch-gerechteren Einschätzung bewegen. Vergleicht man Lukács‘ und Adornos Erklärungen der Genese des Faschismus, so ist ein Bündel von Aspekten zu berücksichtigen. Lukács schreibt aus der Perspektive des marxistischen Antifaschisten, für den klassenkampfanalytische Kapitalismus- und Faschismuskritik identisch sind und für den es eine sozialistische Alternative zum Faschismus gibt; er betont aber auch — und das steht in der Tradition seines die Rolle von Bewusstsein und Subjektivität betonenden Klassikers „GuK“ — die Bedeutung von philosophischen Weltanschauungen. Adorno wählt eine von Marx nur noch wenig beeinflusste eher psychoanalytische Perspektive, die in den Rahmen einer politisches Engagement kaum zulassenden (Total-) Kritik an der abendländischen Aufklärungs- und Rationalitätstradition eingebettet ist.Adorno hatte doch früher Lukács bewundert und aus dessen Werk „Geschichte und Klassenbewusstsein“ wesentliche Gedankenanregungen übernommen. Da sind doch eher Parallelen zu erkennen. Der Lukács-Biograf Fritz J. Raddatz bezeichnete ihn gar mal als „Adorno des Ostens“. Wie lässt sich dieses komplizierte, gestörte Verhältnis beider Philosophen erklären?R. D.: Tatsächlich war der junge Adorno ein großer Bewunderer von Lukács‘ Frühwerken „Die Theorie des Romans“ und „GuK“. Die Romantheorie soll Adorno erst bewogen haben, Philosoph statt Musiker/Komponist in Schönbergs Fußstapfen zu werden. Lukács‘ Verdinglichungstheorie hat Adornos Denken lebenslang beeinflusst, wobei jeder selbst beurteilen soll, ob seine Fortschreibung als Weiterentwicklung zu einer umfassenden Rationalitätskritik zu betrachten oder als auf Praxisferne hinauslaufende Entradikalisierung/Domestizierung zu verstehen ist. Dass Lukács als „Adorno des Ostens“ bezeichnet worden ist, hat mit der Relevanz zu tun, die Adorno in der Bundesrepublik und Lukács bis zu seiner Teilnahme am Ungarnaufstand in den „realsozialistischen“ Ländern hatte.Nun wieder zurück zu „Die Zerstörung der Vernunft“: Die Abrechnung mit rechter Philosophie bleibt nicht bei Nietzsche und Heidegger stehen. Lukács polemisiert auch etwa gegen ihm früher nahestehende Geistesgrößen wie Max Weber, Karl Mannheim oder Georg Simmel. Beim Lesen kann der Eindruck entstehen, Lukács sehe den Irrationalismus bei nahezu allen, die nicht marxistisch argumentieren. Wie ist dieser radikale Rundumschlag zu erklären — muss das Werk im Kontext seiner Entstehung gelesen und verstanden werden?R.D.: Bereits der junge Lukács der Zeit des Ersten Weltkriegs war von der nationalistischen Euphorie seiner Lehrer Weber und Simmel abgestoßen, er sah dann im Marxismus die einzige Möglichkeit, konsequent die soziale Basis des Faschismus zu überwinden. Sicher muss das Buch in seinem historischen Kontext gelesen werden. Lukács‘ Nietzsche-Kritik z.B. ist sicher zu total, aber sie sensibilisiert für die — vorsichtig ausgedrückt — politisch fragwürdigen Aspekte seines Werks, die, wie Jan Rehmann letzthin gezeigt hat, z.B. von seinen „poststrukturalistischen“ Bewunderern einfach ignoriert werden. In seinem Spätwerk hat Lukács sich übrigens wie schon in „GuK“ nicht selten positiv auf Einsichten Webers und Simmels bezogen.Lukács war ja kurz vor dem Machtantritt der Nazis selbst noch organisatorisch und publizistisch in Deutschland in der marxistischen Bewegung tätig. Inwiefern fließt dieses antifaschistische Engagement ein in den Inhalt des Buches?R.D.: Lukács, damals Mitglied der KPD, war 1933 in Berlin unter dem Pseudonym Dr. Keller aktiv tätig im SDS (Schutzverband deutscher Schriftsteller) und versuchte ein Bündnis aller irgendwie kritischen Schriftsteller und Intellektuellen gegen die heraufziehende Barbarei zustande zu bringen, was angesichts eines verbreiteten Sektierertums nicht einfach war. Anders als etwa Adorno musste Lukács, dessen Werk dann auch Opfer der Bücherverbrennungen wurde, sofort nach der Machtergreifung aus Deutschland emigrieren. Seine Enttäuschung über die Schwäche des deutschen Antifaschismus auch in intellektuell-akademischen Kreisen hat sein Bild der deutschen Ideologiegeschichte zweifellos mitgeprägt und erklärt auch zum Teil die verbalen und inhaltlichen Zuspitzungen in der „ZdV“. Die Zeit des Kampfes gegen die Naziherrschaft war keine gute Zeit für Differenzierungen oder Reinwaschungen, wie sie später etwa im Fall Heideggers Usus waren.Was kann die Lektüre der Neuauflage heute antifaschistisch interessierten und aktiven jungen Menschen bieten?R.D.: Die „ZDV“ ist das Produkt eines aktiven Antifaschisten, geprägt durch die Zeitgenossenschaft mit der nationalsozialistischen Herrschaft, auch durch die Atmosphäre des Kalten Krieges, als in Politik, Wirtschaft und Kultur, auch unter allzu vielen Intellektuellen bei uns, die Aufarbeitung der Nazi-Zeit tabuisiert war. Die „ZdV“ bricht pointiert, bisweilen überpointiert, mit solch unseliger Tradition, kennt keine heiligen Kühe, selbst nicht unter den Größen der deutschen Geistesgeschichte, firmiert also zu Recht als „A classic and controversial work of Western Marxism“. Lukács war stets misstrauisch gegenüber der Validität der deutschen Demokratie, der er gerne die französische Tradition „von Voltaire, Diderot und Rousseau über Zola und Anatol France in der Dreyfusaffäre bis zu J. P. Sartre zur Zeit des Befreiungskriegs in Algerien“ gegenüberstellte, so etwa in seinem Buch „Von Nietzsche zu Hitler oder Der Irrationalismus und die deutsche Politik“. Die Frage nach der Qualität der Demokratie hierzulande bleibt auch heute aktuell, wenn schon wieder Rufe nach „Deutschland als Führungsmacht“ laut werden. Die „ZdV“ kann immer noch junge Menschen anregen, heutige „Großdenker“, die Entstehung ihres Denkens und dessen Funktion zu untersuchen. An hyperradikalen Denkangeboten besteht ja gegenwärtig kein Mangel. Sie vermögen aber wie ihre historischen Vorläufer kaum, gegen moderne Formen von Nationalismus und Rassismus, irrationalen Narrativen und fake-news Mythen zu immunisieren. Sie provozieren nicht selten nur einen apolitischen Fatalismus, die ihre theoretische Radikalität ins Leere laufen lässt. Im Nachwort „Über den Irrationalismus der Nachkriegszeit“ hebt Lukács auf die überragende damalige Bedeutung der Friedensbewegung ab. Eine in den Zeiten des Ukrainekriegs mehr als nur zum Nachdenken anregende Positionierung.Das Buch ist umfangreich und ohne philosophische Vorkenntnis schwer zu lesen — welche kürzeren Texte von Lukács könnten hierzu den Einstieg erleichtern?R.D.: In dem 2021 bei Suhrkamp erschienen Lukács-Reader „Ästhetik, Marxismus, Ontologie“ findet sich eine ganze Reihe von kürzeren Texten Lukács‘ aus seiner mittleren, vom Kampf gegen den Faschismus geprägten Periode. Etwa sein berühmter Essay „Grand Hotel Abgrund“ oder „Warum sind Demokratien den Autokratien überlegen?“ sowie das Spiegel-Interview aus dem Jahr 1970. Regelmäßig gibt es im Lukács-Jahrbuch aktuelle Aufsätze der internationalen Lukács-Forschung. Im Mittelpunkt des neuen Jahrbuchs, das im Frühjahr 2023 erscheinen wird, steht das hundertjährige Jubiläum der Veröffentlichung von „Geschichte und Klassenbewußtsein“. Ich gehe davon aus, dass im folgenden Jahrbuch die „ZdV“, das vor einem Jahr auch eine englischsprachige Neuauflage erlebt hat, einen Schwerpunkt bilden wird.__Georg Lukács (1895—1971) war ein ungarischer Philosoph und Literaturwissenschaftler. Seine Schriften gelten als wegweisend für eine marxistische Philosophie sowie für die Herausbildung eines ‚westlichen Marxismus‘. Auch der Lebensweg von Georg Lukács ist geprägt von der Geschichte der kommunistischen Bewegung und des Antifaschismus: Geboren in einem wohlhabenden jüdischen Elternhaus in Budapest knüpfte der hochbegabte junge Mann zunächst Kontakte mit bekannten Geistesgrößen wie Max Weber oder Georg Simmel und wurde in Diskussionszirkeln Inspirator für Mitdiskutanten wie etwa den Soziologen Karl Mannheim. Kurz nach seinem Eintritt in die kommunistische Partei Ende 1918 wurde er Volkskommissar in der ungarischen Räterepublik, deren Sturz er fast mit dem Tod bezahlte. Auch danach vollzog er ein intellektuelles Leben innerhalb der kommunistischen Bewegung mit bewegenden Ereignissen: Wiederholt dem Tod von der Schippe gesprungen (Horthy, Nazis, Stalinismus…) verfasste er eine Vielzahl von Schriften. Die „Zerstörung der Vernunft“ ist Referenz seines antifaschistischen Fühlens und Denkens und zugleich sein umstrittenstes Werk.Rüdiger Dannemann ist Philosoph, Mitbegründer und Vorsitzender der Internationalen Georg Lukács-Gesellschaft sowie Herausgeber des Lukács-Jahrbuchs. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u.a. Kritische Theorie und westlicher Marxismus, ästhetische Theorie und ästhetische Probleme der populären Musik. Gemeinsam mit Bálint Gusztáv Mosóczi und Zoltán Mosóczi ist er zudem Herausgeber einer Faksimile-Ausgabe von „Geschichte und Klassenbewusstsein“, dem einflussreichsten Werk von Lukács, die Anfang 2023 beim Aisthesis Verlag Bielefeld erscheinen wird. Linke 7803 Mon, 13 Feb 2023 13:18:05 +0100 LOTTA „Die Zerstörung der Vernunft“ Alexander Häusler Mit seinem erstmals 1954 veröffentlichten Werk „Die Zerstörung der Vernunft“ rekonstruierte Georg Lukács die Entwicklung eines irrationalistischen Denkens in Deutschland auf dem Weg in den Faschismus (siehe auch die Rezension auf S. 61). Das Buch war wohl die erste grundlegende Auseinandersetzung mit der philosophischen Hinwendung zum Faschismus.Was macht diese Schrift so besonders, dass sie eine Wiederauflage rechtfertigt?Rüdiger Dannemann (R.D.): Es gibt auch andere Philosophen, die sich mit dem Irrationalismus kritisch beschäftigt haben (etwa Ernst Cassirer, Cohen oder Hartmann), aber Lukács‘ Werk unterscheidet sich deutlich von ihnen. Es ist die Schrift eines marxistischen Antifaschisten, der nicht zuletzt „bürgerliche“ (heute würde man vielleicht sagen linksliberale) Intellektuelle aufrütteln will. Lukács hat sich gleich nach der Machtergreifung Hitlers daran gemacht, deren ideologische Vorgeschichte als Geschichte des Irrationalismus zu fassen. Im Exil in der Sowjetunion verfasste er in einem Abstand von etwa zehn Jahren zwei umfangreiche Studien unter den Titeln „Wie ist die faschistische Philosophie in Deutschland entstanden?“ und „Wie ist Deutschland zum Zentrum der reaktionären Ideologie geworden?“. Das waren Schriften eines Kombattanten im Kampf mit der faschistischen Barbarei und Vorarbeiten zu dem monumentalen Werk, das 1954 unter dem Titel „Die Zerstörung der Vernunft“ („ZdV“) erschien und für Furore sorgte. Diese Entstehungsgeschichte macht die polemischen Zuspitzungen und Engführungen verständlich, die später immer wieder für Kritik gesorgt haben.Besonders Nietzsche und Heidegger, auch Karl Jaspers werden von Lukács schonungslos der faschistischen Philosophie zugeordnet. Welche Hauptargumente führt Lukács für diese Wertung auf und trafen diese Einschätzungen in den damaligen Kreisen marxistischer Philosophie auf Zustimmung?R.D.: Lukács geht von der These aus, es gebe keine „unschuldige Weltanschauung“. Bei seinen Untersuchungen von deren sozialer Genesis und Funktion geht er von einem in den Traditionen von Aufklärung und klassischer deutscher Philosophie mit der Gipfelgestalt Hegel stehenden, aber politisch-marxistisch zugespitzten Vernunftbegriff aus: Für ihn ist Vernunft nicht etwas „über der gesellschaftlichen Entwicklung Schwebendes, parteilos Neutrales“, vielmehr „stets die konkrete Vernünftigkeit (oder Unvernünftigkeit) einer gesellschaftlichen Lage“. So formuliert er es in „Die Zerstörung der Vernunft“. Heidegger, Jaspers und zumal Nietzsche rechnet Lukács zum Lager der Irrationalisten, insofern auch für sie essenzielle Merkmale von Lukács‘ Irrationalismusbegriff zutreffen: „Herabsetzung von Verstand und Vernunft, kritiklose Verherrlichung der Intuition, aristokratische Erkenntnistheorie, Ablehnung des gesellschaftlich-geschichtlichen Fortschritts, Schaffen von Mythen“. Paradigmatisch ist für Lukács der Fall Nietzsche: Er zeichnet das Bild eines hochbegabten Aphoristikers und Kulturkritikers, der das Verfahren der „indirekten Apologetik“ des Bestehenden (also der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft) meisterlich beherrscht hat: Er verbindet Kritik an der herrschenden Moral, Religiosität, den dominanten Denk- und Lebensformen mit einer Ablehnung sozialistischer Gegenbewegungen aus der Perspektive einer aristokratischen Erkenntnistheorie und des Verächtlichmachens des Ideals der Gleichheit. Lukács macht in einer brieflichen Auseinandersetzung mit Ernst Bloch deutlich, dass er Nietzsche nicht für einen Faschisten hält: Das zu tun, wäre „ein historischer Unsinn“, denn „1890 konnte noch niemand aus sozialhistorischen Gründen eine faschistische Ideologie haben“. Er ist in seinen Augen „aber der bedeutendste Denker einer historischen Etappe der ideologischen Entwicklung Deutschlands, der die ideologische Entwicklung“ in Richtung Faschismus befördert hat.Der französische Philosoph Lucien Goldmann meinte gar, Verbindungslinien zwischen Heideggers Werk „Sein und Zeit“ und der „Zerstörung der Vernunft“ entdeckt zu haben. Wie ist das denn zu verstehen?R.D.: Tatsächlich hat Goldmann Verbindungslinien zwischen Lukács und Heidegger gesehen. Diese beziehen sich aber auf Ähnlichkeiten zwischen „Geschichte und Klassenbewußtsein“ („GuK“) und „Sein und Zeit“, das er in gewisser Weise als Reaktion auf Lukács‘ frühes Meisterwerk gesehen hat. Die Ähnlichkeiten betreffen beider Kritik an überholten dualistischen Subjekt-Objekt-Konzeptionen, wie sie seit Descartes in der neuzeitlichen Philosophie üblich waren. Axel Honneth hat davon gesprochen, dass Lukács „auf Augenhöhe“ mit Heidegger zu betrachten sei, was die Wirksamkeit ihrer Zeitdiagnosen betrifft. Das Heidegger-Bild der „ZdV“ ist aber durchwegs negativ, es betrifft nicht nur das heute noch vieldiskutierte Engagement Heideggers für Hitler in seiner Freiburger Zeit, sondern seine im Konzept der „Geworfenheit“ ins Dasein implizierte Ontologisierung von Entfremdungsphänomenen insgesamt. In seiner „Ontologie“, die auch als Gegenentwurf zu Heidegger verstanden werden kann, geht der späte Lukács viel unpolemischer, aber in der Sache unverändert kritisch mit Heidegger um. Dort zollt er auch dem existentialistischen Marxisten Sartre seinen Respekt.Besonders Theodor W. Adorno empörte sich über die Urteile von Lukács: Augenscheinlich so empört über die Aburteilung von Nietzsche ließ er sich zu der Bemerkung hinreißen, Lukács habe mit diesem Werk eher die Zerstörung seiner eigenen Vernunft betrieben. Wie erklärt sich dieser scharfe Ton und wie sind die unterschiedlichen Einschätzungen von Adorno und Lukács zur philosophischen Wegbereitung des Faschismus zu verstehen?R. D.: Für Adorno war Nietzsche ein zentraler Bezugspunkt bei der Ausarbeitung seiner pessimistischen Geschichtsphilosophie, die er in seiner „Dialektik der Aufklärung“ entwickelt hat, der sowohl inhaltlich als auch methodisch-stilistisch Vorbild war. Als Adorno dann Mitte der fünfziger Jahre die Vorwürfe gegen Lukács erhob, war er ein etablierter Vordenker der Bundesrepublik, dem der im „realsozialistischen“ Ungarn lebende Lukács als gedankenarmer Vertreter des orthodoxen Marxismus-Leninismus erschien. Auch das Faktum, dass Lukács sich 1956 im antistalinistischen Ungarn-Aufstand engagierte (und sein Leben riskierte), konnte Adorno nicht zu einer historisch-gerechteren Einschätzung bewegen. Vergleicht man Lukács‘ und Adornos Erklärungen der Genese des Faschismus, so ist ein Bündel von Aspekten zu berücksichtigen. Lukács schreibt aus der Perspektive des marxistischen Antifaschisten, für den klassenkampfanalytische Kapitalismus- und Faschismuskritik identisch sind und für den es eine sozialistische Alternative zum Faschismus gibt; er betont aber auch — und das steht in der Tradition seines die Rolle von Bewusstsein und Subjektivität betonenden Klassikers „GuK“ — die Bedeutung von philosophischen Weltanschauungen. Adorno wählt eine von Marx nur noch wenig beeinflusste eher psychoanalytische Perspektive, die in den Rahmen einer politisches Engagement kaum zulassenden (Total-) Kritik an der abendländischen Aufklärungs- und Rationalitätstradition eingebettet ist.Adorno hatte doch früher Lukács bewundert und aus dessen Werk „Geschichte und Klassenbewusstsein“ wesentliche Gedankenanregungen übernommen. Da sind doch eher Parallelen zu erkennen. Der Lukács-Biograf Fritz J. Raddatz bezeichnete ihn gar mal als „Adorno des Ostens“. Wie lässt sich dieses komplizierte, gestörte Verhältnis beider Philosophen erklären?R. D.: Tatsächlich war der junge Adorno ein großer Bewunderer von Lukács‘ Frühwerken „Die Theorie des Romans“ und „GuK“. Die Romantheorie soll Adorno erst bewogen haben, Philosoph statt Musiker/Komponist in Schönbergs Fußstapfen zu werden. Lukács‘ Verdinglichungstheorie hat Adornos Denken lebenslang beeinflusst, wobei jeder selbst beurteilen soll, ob seine Fortschreibung als Weiterentwicklung zu einer umfassenden Rationalitätskritik zu betrachten oder als auf Praxisferne hinauslaufende Entradikalisierung/Domestizierung zu verstehen ist. Dass Lukács als „Adorno des Ostens“ bezeichnet worden ist, hat mit der Relevanz zu tun, die Adorno in der Bundesrepublik und Lukács bis zu seiner Teilnahme am Ungarnaufstand in den „realsozialistischen“ Ländern hatte.Nun wieder zurück zu „Die Zerstörung der Vernunft“: Die Abrechnung mit rechter Philosophie bleibt nicht bei Nietzsche und Heidegger stehen. Lukács polemisiert auch etwa gegen ihm früher nahestehende Geistesgrößen wie Max Weber, Karl Mannheim oder Georg Simmel. Beim Lesen kann der Eindruck entstehen, Lukács sehe den Irrationalismus bei nahezu allen, die nicht marxistisch argumentieren. Wie ist dieser radikale Rundumschlag zu erklären — muss das Werk im Kontext seiner Entstehung gelesen und verstanden werden?R.D.: Bereits der junge Lukács der Zeit des Ersten Weltkriegs war von der nationalistischen Euphorie seiner Lehrer Weber und Simmel abgestoßen, er sah dann im Marxismus die einzige Möglichkeit, konsequent die soziale Basis des Faschismus zu überwinden. Sicher muss das Buch in seinem historischen Kontext gelesen werden. Lukács‘ Nietzsche-Kritik z.B. ist sicher zu total, aber sie sensibilisiert für die — vorsichtig ausgedrückt — politisch fragwürdigen Aspekte seines Werks, die, wie Jan Rehmann letzthin gezeigt hat, z.B. von seinen „poststrukturalistischen“ Bewunderern einfach ignoriert werden. In seinem Spätwerk hat Lukács sich übrigens wie schon in „GuK“ nicht selten positiv auf Einsichten Webers und Simmels bezogen.Lukács war ja kurz vor dem Machtantritt der Nazis selbst noch organisatorisch und publizistisch in Deutschland in der marxistischen Bewegung tätig. Inwiefern fließt dieses antifaschistische Engagement ein in den Inhalt des Buches?R.D.: Lukács, damals Mitglied der KPD, war 1933 in Berlin unter dem Pseudonym Dr. Keller aktiv tätig im SDS (Schutzverband deutscher Schriftsteller) und versuchte ein Bündnis aller irgendwie kritischen Schriftsteller und Intellektuellen gegen die heraufziehende Barbarei zustande zu bringen, was angesichts eines verbreiteten Sektierertums nicht einfach war. Anders als etwa Adorno musste Lukács, dessen Werk dann auch Opfer der Bücherverbrennungen wurde, sofort nach der Machtergreifung aus Deutschland emigrieren. Seine Enttäuschung über die Schwäche des deutschen Antifaschismus auch in intellektuell-akademischen Kreisen hat sein Bild der deutschen Ideologiegeschichte zweifellos mitgeprägt und erklärt auch zum Teil die verbalen und inhaltlichen Zuspitzungen in der „ZdV“. Die Zeit des Kampfes gegen die Naziherrschaft war keine gute Zeit für Differenzierungen oder Reinwaschungen, wie sie später etwa im Fall Heideggers Usus waren.Was kann die Lektüre der Neuauflage heute antifaschistisch interessierten und aktiven jungen Menschen bieten?R.D.: Die „ZDV“ ist das Produkt eines aktiven Antifaschisten, geprägt durch die Zeitgenossenschaft mit der nationalsozialistischen Herrschaft, auch durch die Atmosphäre des Kalten Krieges, als in Politik, Wirtschaft und Kultur, auch unter allzu vielen Intellektuellen bei uns, die Aufarbeitung der Nazi-Zeit tabuisiert war. Die „ZdV“ bricht pointiert, bisweilen überpointiert, mit solch unseliger Tradition, kennt keine heiligen Kühe, selbst nicht unter den Größen der deutschen Geistesgeschichte, firmiert also zu Recht als „A classic and controversial work of Western Marxism“. Lukács war stets misstrauisch gegenüber der Validität der deutschen Demokratie, der er gerne die französische Tradition „von Voltaire, Diderot und Rousseau über Zola und Anatol France in der Dreyfusaffäre bis zu J. P. Sartre zur Zeit des Befreiungskriegs in Algerien“ gegenüberstellte, so etwa in seinem Buch „Von Nietzsche zu Hitler oder Der Irrationalismus und die deutsche Politik“. Die Frage nach der Qualität der Demokratie hierzulande bleibt auch heute aktuell, wenn schon wieder Rufe nach „Deutschland als Führungsmacht“ laut werden. Die „ZdV“ kann immer noch junge Menschen anregen, heutige „Großdenker“, die Entstehung ihres Denkens und dessen Funktion zu untersuchen. An hyperradikalen Denkangeboten besteht ja gegenwärtig kein Mangel. Sie vermögen aber wie ihre historischen Vorläufer kaum, gegen moderne Formen von Nationalismus und Rassismus, irrationalen Narrativen und fake-news Mythen zu immunisieren. Sie provozieren nicht selten nur einen apolitischen Fatalismus, die ihre theoretische Radikalität ins Leere laufen lässt. Im Nachwort „Über den Irrationalismus der Nachkriegszeit“ hebt Lukács auf die überragende damalige Bedeutung der Friedensbewegung ab. Eine in den Zeiten des Ukrainekriegs mehr als nur zum Nachdenken anregende Positionierung.Das Buch ist umfangreich und ohne philosophische Vorkenntnis schwer zu lesen — welche kürzeren Texte von Lukács könnten hierzu den Einstieg erleichtern?R.D.: In dem 2021 bei Suhrkamp erschienen Lukács-Reader „Ästhetik, Marxismus, Ontologie“ findet sich eine ganze Reihe von kürzeren Texten Lukács‘ aus seiner mittleren, vom Kampf gegen den Faschismus geprägten Periode. Etwa sein berühmter Essay „Grand Hotel Abgrund“ oder „Warum sind Demokratien den Autokratien überlegen?“ sowie das Spiegel-Interview aus dem Jahr 1970. Regelmäßig gibt es im Lukács-Jahrbuch aktuelle Aufsätze der internationalen Lukács-Forschung. Im Mittelpunkt des neuen Jahrbuchs, das im Frühjahr 2023 erscheinen wird, steht das hundertjährige Jubiläum der Veröffentlichung von „Geschichte und Klassenbewußtsein“. Ich gehe davon aus, dass im folgenden Jahrbuch die „ZdV“, das vor einem Jahr auch eine englischsprachige Neuauflage erlebt hat, einen Schwerpunkt bilden wird.__Georg Lukács (1895—1971) war ein ungarischer Philosoph und Literaturwissenschaftler. Seine Schriften gelten als wegweisend für eine marxistische Philosophie sowie für die Herausbildung eines ‚westlichen Marxismus‘. Auch der Lebensweg von Georg Lukács ist geprägt von der Geschichte der kommunistischen Bewegung und des Antifaschismus: Geboren in einem wohlhabenden jüdischen Elternhaus in Budapest knüpfte der hochbegabte junge Mann zunächst Kontakte mit bekannten Geistesgrößen wie Max Weber oder Georg Simmel und wurde in Diskussionszirkeln Inspirator für Mitdiskutanten wie etwa den Soziologen Karl Mannheim. Kurz nach seinem Eintritt in die kommunistische Partei Ende 1918 wurde er Volkskommissar in der ungarischen Räterepublik, deren Sturz er fast mit dem Tod bezahlte. Auch danach vollzog er ein intellektuelles Leben innerhalb der kommunistischen Bewegung mit bewegenden Ereignissen: Wiederholt dem Tod von der Schippe gesprungen (Horthy, Nazis, Stalinismus…) verfasste er eine Vielzahl von Schriften. Die „Zerstörung der Vernunft“ ist Referenz seines antifaschistischen Fühlens und Denkens und zugleich sein umstrittenstes Werk.Rüdiger Dannemann ist Philosoph, Mitbegründer und Vorsitzender der Internationalen Georg Lukács-Gesellschaft sowie Herausgeber des Lukács-Jahrbuchs. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u.a. Kritische Theorie und westlicher Marxismus, ästhetische Theorie und ästhetische Probleme der populären Musik. Gemeinsam mit Bálint Gusztáv Mosóczi und Zoltán Mosóczi ist er zudem Herausgeber einer Faksimile-Ausgabe von „Geschichte und Klassenbewusstsein“, dem einflussreichsten Werk von Lukács, die Anfang 2023 beim Aisthesis Verlag Bielefeld erscheinen wird. 2023-02-13T13:18:05+01:00 Staatlich legitimierte Gewalt | Das fatale Urteil im „Fretterode-Prozess“ https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/89/staatlich-legitimierte-gewalt Am 15.09.2022 wurde der „Fretterode-Prozess“ am Landgericht Mühlhausen mit einem Urteil beendet, das zurecht von „taz“ bis FAZ als skandalös bezeichnet wurde. Das Gericht folgte in zentralen Punkten der Erzählung der Täter, verurteilte sie zu lächerlich geringen Strafen und machte die Betroffenen für den gewalttätigen Übergriff mitverantwortlich. Das Urteil ist ein fatales Signal an die Neonaziszene, die einmal mehr darin bestätigt wurde, dass sich in ihrem Raum nur aufhalten darf, wer von von ihnen geduldet wird. Missliebige Journalist_innen können vertrieben und attackiert werden, ohne dass sich Polizei und Justiz in der Verantwortung sehen. Im Gegenteil, sie legitimieren die neonazistische Gewalt.Ein Jahr auf Bewährung und eine Geldstrafe für Gianluca Bruno, 200 Arbeitsstunden für Nordulf Heise wegen Sachbeschädigung und gefährlicher Körperverletzung, so lautete die Strafe nach über einem Jahr Verhandlungsdauer im „Fretterode-Prozess“. Damit blieb das Gericht weit unter den Forderungen der Staatsanwaltschaft, die auch eine Verurteilung wegen schweren Raubes erwirken wollte. Die mündliche Urteilsbegründung machte klar, welch fatale politische Position das Gericht mit dem Urteil bezogen hatte.Die Vorsitzende Richterin Andrea Kortus erklärte, dass das Gericht keinen Angriff auf die Pressefreiheit erkennen könne. Die Betroffenen seien allein an ihrer Kamera nicht als Journalisten erkennbar gewesen und der Angeklagte Heise habe sie schließlich gegenüber einem Zeugen als „Zecken“ bezeichnet. Es handele sich also eher, wenn auch nicht vorrangig, um eine Auseinandersetzung zweier politischer Lager, die weit auseinander lägen. Es sei im Prozess immer wieder Thema gewesen, dass die „Göttinger Antifa“ als Journalisten getarnt nach Fretterode käme und Gefahr für das Heise’sche Anwesen bestünde. Der Belagerungszustand und die Angst, von den Betroffenen überfahren zu werden, hätten Nordulf Heise so unter Druck gesetzt, dass er überreagierte. Eigentlich habe er die beiden nur aus dem Dorf jagen wollen.Observationsfreie ZoneDer kleine Ort Fretterode liegt im thüringischen Eichsfeld nahe der Ländergrenzen zu Hessen und Thüringen. Thorsten und Nadine Heise erwarben das zuvor als Pflegeheim genutzte Gutshaus „Hanstein“ im Jahr 1999, die Familie lebt dort seit Heises Haftentlassung 2002. Von hier aus betreiben sie ihren Verlag und Versandhandel, es ist Treffpunkt für Kameradschaftsabende der Kameradschaft Eichsfeld bzw. Northeim und der Arischen Bruderschaft, Heises engstem Kreis. Außerdem bietet das Haus ausreichend Platz für Liederabende und andere politische Veranstaltungen. Das Gelände umfasst neben dem Hauptgebäude auch Stallungen, einen Turm, ein großes Außengelände samt eines dort 2006 aufgebauten SS-Ehrenmals und ein Nebengebäude.Mit dem Anwesen schuf sich Heise eine Festung, die allerdings nicht an den hohen Außenmauern des Geländes endet. Das Gelände dominiert den kleinen Ort, Heise hat einen der sechs Sitze im Gemeinderat inne, er wird telefonisch vom ehemaligen Bürgermeister über vermeintlich verdächtige Autos mit Göttinger Kennzeichen informiert. Von den örtlichen Streifenpolizisten wird er als freundlicher Gesprächspartner angesehen und um sein Wildschwein im Garten beneidet.Die Nebenklage zitierte ein Dokument des niedersächsischen LKA aus dem Jahr 2008, in dem es heißt: „Er [Heise] stelle sich als treusorgender Familienvater und Firmenchef dar und bringe sich aktiv in örtliche Belange ein. Diesen Aktivitäten und der ländlichen Lage seines Wohnhauses, sowie der Besonderheit des Eichsfelder Wohnumfeldes sei es geschuldet, dass ihm im Ort nahezu nichts entgehe. So sei eine observationsfreie bzw. politfreie Zone entstanden.“Zur Analyse des LKA Niedersachsen passte die Aussage eines Zeugen, den Heise nach der Tat aufsuchte. Danach befragt wollte dieser nicht gegen Familie Heise aussagen. Er habe, so der Zeuge, keine Lust, politische Auseinandersetzungen hier auszubaden. Thorsten Heise wird im Dorf unterstützt, mindestens aber geduldet. Ob aus Sympathie oder aus Angst, das kann nur die Dorfgemeinschaft beantworten.Tatort FretterodeVor diesem Hintergrund muss auch der Übergriff auf die beiden Journalisten am 29. April 2018 interpretiert werden. Sie sind an diesem Sonntag nach Fretterode gefahren, um ein Vorbereitungstreffen für die Demonstration am 1. Mai zu dokumentieren. Sie positionierten sich, um An- und Abreise auf öffentlichem Grund fotografieren zu können. Hierbei wurden sie von Heises ältestem Sohn Nordulf und Gianluca Bruno, der als Heises politischer Ziehsohn gilt, bedroht und mit hoher Geschwindigkeit mit dem Auto verfolgt. Als sie wegen einer Baustellenampel am Ortseingang von Hohengandern zum Wenden gezwungen waren, versperrten die Täter den Fluchtweg und griffen an. Ein Betroffener erlitt einen Schlag mit einem Schraubenschlüssel auf die Stirn, der zum Bruch eines Schädelknochens führte, dem anderen wurde eine Stichverletzung am Bein zugefügt. Das Auto wurde vollständig zerstört und die Spiegelreflexkamera eines Betroffenen entwendet. Geistesgegenwärtig hatte er sich die Speicherkarte der Kamera während der Verfolgungsjagd bereits in die Socken gesteckt, sodass die Bilder der Angreifer der Polizei übergeben und Medien zur Verfügung gestellt werden konnten.Arbeitsverweigerung der PolizeiWie notwendig die eigene Recherche- und Öffentlichkeitsarbeit in diesem Fall werden sollte, zeigte sich rasch nach der Tat bei den „Ermittlungen“ der Polizei. Zwei Streifenwagen wurden nach dem Angriff nach Fretterode geschickt, einer positionierte sich hinter dem Anwesen, sodass Sicht auf das dort abgeparkte Fahrzeug der Täter bestand. Die Beamten protokollierten, wie verschiedene Personen, darunter das Ehepaar Heise, mehrfach zum Auto gingen und Gegenstände hineinlegten und herausnahmen, schritten aber nicht ein. Das Fahrzeug wurde schließlich von Thorsten Heise vom Hof gefahren und der Polizei übergeben. Zwei andere Beamte waren auf der Suche nach den Tätern. Sie befragten die Lebensgefährtin Brunos nach dessen Verbleib. Sie gab an, dass er sich nicht in der gemeinsamen Wohnung im Nebenhaus, sondern im Haupthaus bei Heises befinde. Die Beamten warteten über zwei Stunden auf Familie Heise, man einigte sich darauf, einen begleiteten Rundgang durch das Haus zu machen. Warum es im Anschluss keine ordentliche Hausdurchsuchung gab — weder bei Heises, noch in Brunos Wohnung — konnte auch im Prozess nicht geklärt werden. Die Polizei suchte also weder ordentlich nach den Tätern, noch nach den Tatwaffen und dem Raubgut. Es ist fraglich, ob es ohne die von den Betroffenen angefertigten Bilder überhaupt zu Anklage und Verurteilung gekommen wäre. Umso wichtiger war es dementsprechend für die Verteidigung, die Bilder und die Betroffenen zu diskreditieren.Täter-Opfer-UmkehrDie beiden Verteidiger Klaus Kunze und Wolfram Nahrath versuchten mit reichlich Mühe und steilen Thesen zu belegen, dass ihre Mandanten die eigentlichen Opfer des Tages seien, schließlich hätten die Nebenkläger einen „Fotoangriff“ verübt. Nahrath und sein Mandant wählten die recht schlanke Strategie, Nordulf als gut integrierten, ordentlichen Jungen zu präsentieren, der ein tolles Verhältnis zu seinen Eltern pflegt. Dabei sprang ihnen die Jugendgerichtshilfe zur Seite, die mit Nordulf zwar nicht über sein Weltbild sprach, aber zu berichten wusste, wie schwer das Aufwachsen unter der konstanten Ausspähung war.Kunze holte für Brunos Verteidigung etwas weiter aus und stellte etliche lange, teils konfuse Anträge. In denen benannte er die Nebenkläger wahlweise als Paparazzi oder Linksterroristen, die ihre Recherche nicht zur Aufklärung über Nazistrukturen sondern zur Vorbereitung von Anschlägen nutzten. Als Rechtfertigung zog er die Brandanschläge auf Szene-Immobilien in Sachsen und Thüringen heran.Bei dieser Idee konnte er auf den Ermittlungsansatz des sächsischen LKA zurückgreifen, das damit uferlose Ermittlungen in der sächsischen Linken legitimiert Bruno sei bedroht, Opfer von „Linksextremisten“ zu werden, so die SOKO Linx des sächsischen LKA, die sich selbstständig bei Bruno meldete. Anlass dafür war eine Website, die Informationen zu den Tätern des koordinierten Naziangriffs auf den Leipziger Stadtteil Connewitz im Zuge einer LEGIDA-Demonstration veröffentlichte. So absurd und haltlos die Ausführungen Kunzes zum Teil waren, die Strategie der Verteidiger ging insofern auf, als dass das Gericht die Mär der linken Bedrohung aufgriff, ohne sie zu überprüfen oder gegenteilige Aussagen von Zeug_innen zu würdigen.Ein Gespenst geht um in FretterodeAuch die im Prozess befragten Polizisten waren sich mehrheitlich einig, dass das Anwesen bedroht werde, anstatt dass von ihm eine Gefahr ausginge. Nur ein Beamter sagte aus, er habe die Äußerung Thorsten Heises, man müsse nicht unbedingt die Polizei rufen, um mit Störern umzugehen, als Drohung verstanden. So wurde am Tag des Übergriffs Verstärkung geholt, weil man Angst vor einer Racheaktion von Linken hatte. Man begab sich also nach der Tat, bei der zwei Journalisten mit 100 Kilometern pro Stunde über die schmalen Landstraßen gejagt, ihr Auto komplett zerstört und sie schwer verletzt und beraubt wurden, nach Fretterode, um eine mögliche Gefahr von links abzuwehren, anstatt nach den Tätern zu suchen und Beweismittel sicherzustellen. Belege für diese Einschätzung konnten sie auf Nachfrage nicht liefern, es handele sich um polizeibekanntes Wissen.Eine Anfrage der Die Linke-Abgeordneten Katharina König-Preuss im Thüringer Landtag nach dem Urteil zeigte, dass es im Zeitraum 2010 bis 2018 keine einzige registrierte linke Aktion oder Veranstaltung in Fretterode gab. Bis 2015 berichtet der Geheimdienst dagegen über wöchentliche Treffen extrem rechter Strukturen dort, 2015 bis 2018 listet die Landesregierung mindestens drei Veranstaltungen auf. Während die Landesregierung für den Zeitraum 2010 bis 2018 von acht rechten Straftaten zu berichten weiß, darunter Volksverhetzung und Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, ist keine einzige linke Straftat in der Zeit zur Anzeige gebracht worden. Anhand dieser Gegenüberstellung ist es um so bitterer, dass sich die Täter auf die Rückendeckung von Polizei und Justiz verlassen können.Nebenklagevertreter Sven Adam kommentierte in einer Pressemitteilung nach der Urteilsverkündung: „Aus einer gewollten und mittels Hetzjagd umgesetzten No-Go-Area für politische Gegner und Fachjournalisten in Fretterode wird seitens des Gerichts eine emotionale Reaktion auf vermeintliche und in keinem zeitlichen Zusammenhang stehende und nicht in der Beweisaufnahme erörterte Aktionen von Antifaschistinnen und Antifaschisten in Fretterode gemacht. Die letzte Busfahrt von Antifaschistinnen und Antifaschisten nach Fretterode zur öffentlichkeitswirksamen Kritik an dem Neonazi-Zentrum ist 20 Jahre her. Weitere Ereignisse, die eine Bedrohungslage des Hauses Heise hätten begründen können, hat die Beweisaufnahme nicht erbracht.“Traute EinigkeitBeim „Eichsfeldtag“ der NPD im Jahr 2016 beschwerten sich die Veranstalter bei der Polizei über Fotoaufnahmen der öffentlichen Parteiveranstaltung. Die Beamten erteilten vier Journa­list*innen Platzverweise, die im Nachgang gerichtlich für rechtswidrig erklärt wurden. Sven Adam, der eine Journalistin vertrat, attestierte der Polizei ein „höchst fragwürdiges Verständnis von Medienarbeit“, denn „[d]en betroffenen Journalist_innen, die sich durch offizielle Presseausweise auswiesen, wird im Bericht vom 31.05.2016 unterstellt, sie seien ‚Angehörige der Antifa, die mit ihrem Auftreten eine Eskalation im Veranstaltungsraum provozierten‘“. Im Folgejahr wurde ein Kamerateam mit einem Transparent mit der Aufschrift „Lügenpresse“ so sehr bedrängt, dass die Arbeiten abgebrochen werden mussten. Die Nebenklage legte ein Bild vor, das Nordulf Heise bei der Anfertigung eines solchen Transparentes zeigte, sowie ein Bild der Aktion, bei der Bruno das Transparent hält.Auch nach dem Angriff im April 2018 änderte sich nichts. Nur wenige Monate nach der Tat, im November 2018 veranstaltete Heise einen Vortragsabend mit dem Kriegsverbrecher Karl Münter, an dem gut 120 Personen teilnahmen. Nach Beschwerde der Neonazis untersagte die Polizei der anwesenden Presse das Fotografieren, drohte mit Platzverweisen und forderte die Personalien ein, um sie an Heise weitergeben zu können, damit er zu rechtlichen Schritten in der Lage sei. Doppelt perfide: Unter den Journalist_innen befand sich auch einer der Betroffenen des Übergriffs, Ansprechpartner für die Polizei an diesem Abend war Gianluca Bruno. Die Eichsfelder Polizei scheint ein sehr ähnliches Verständnis von Pressefreieheit zu haben wie die Neonazis.Feindbild PresseNur zwei Monate vor der Tat hatte Thorsten Heise in einer Rede im niedersächsischen Karlshöfen „diese Journaille“ zum „Hauptfeind“ erklärt. Darunter fallen alle, die über die extreme Rechte berichten, denn es gehöre „anscheinend bei Journalisten dazu, ein kommunistisches oder Antifa-Parteibuch in der Tasche zu haben, um überhaupt Karriere machen zu können“. Im Sommer 2019 bedrohte er einen Journalisten namentlich mit den Worten: „Gut hinhören, Presse: Der Revolver ist schon geladen, Herr…!“Während Heise Senior die Szene gegen die Presse aufhetzt, schreitet sein Junior zur Tat. Das Gericht wollte zwischen den Reden des Vaters und der Gewalt des Sohnes keinen strukturellen Zusammenhang erkennen und nahm — im Gegenteil — die Bezeichnung „Zecken“ zum Anlass, die Tat zu bagatellisieren. Klare Worte fand hingegen die Vorstandsvorsitzende des DJV Thüringen Heidje Beutel nach dem Urteil: „Die Tat war nicht nur ein Angriff auf die beiden Journalisten, sondern ein gezielter Einschüchterungsversuch mit dem Ziel, Berichterstattung zu unterbinden“.Wo sich Justiz und Neonazis Gute Nacht sagenFretterode ist ideal, um abseits der Öffentlichkeit schalten und walten zu können. Die Bedeutung seines Nahumfeldes machte Heise kürzlich in einem Interview deutlich: „Wenn man sich seine revolutionäre Spannkraft bewahren will, braucht man die richtige Lebenspartnerin, die dahintersteht. Im Grunde sollte das die ganze Familie mittragen und auch sein Umfeld.“Gerade am Beispiel des Netzwerks rund um Heise lässt sich die Wichtigkeit investigativer Recherche anschaulich verdeutlichen, denn die Behörden mauern, wenn es um Fretterode geht. Während sich in älteren Jahresberichten des Thüringer Geheimdienstes standardmäßig ein Kapitel zu Heise und seiner Relevanz in der Szene findet, sucht man seit 2019 vergeblich danach. In den Jahren 2020 und 2021 erwähnte der Thüringer Geheimdienst Heise nur ein einziges Mal im Kontext seiner Parteipolitik. Der Gerichtsprozess bot die Hoffnung, die Strukturen um Heise wie die Arische Bruderschaft zu erhellen und der Region vor Augen zu führen, wie gefährlich solche Nachbarn sein können, wenn man nicht ins Weltbild passt. Doch entschloss sich das Gericht, das Nazi-Idyll in Fretterode nicht weiter zu stören und damit die journalistische Arbeit bei einem der zentralsten Netzwerker der deutschen Rechten noch mehr zu erschweren. Denn spätestens mit dem Urteil wird klar: Es kann jeden treffen, der sich in die Nähe wagt. Extreme Rechte 7794 Mon, 13 Feb 2023 12:55:54 +0100 LOTTA Staatlich legitimierte Gewalt Sonja Brasch Am 15.09.2022 wurde der „Fretterode-Prozess“ am Landgericht Mühlhausen mit einem Urteil beendet, das zurecht von „taz“ bis FAZ als skandalös bezeichnet wurde. Das Gericht folgte in zentralen Punkten der Erzählung der Täter, verurteilte sie zu lächerlich geringen Strafen und machte die Betroffenen für den gewalttätigen Übergriff mitverantwortlich. Das Urteil ist ein fatales Signal an die Neonaziszene, die einmal mehr darin bestätigt wurde, dass sich in ihrem Raum nur aufhalten darf, wer von von ihnen geduldet wird. Missliebige Journalist_innen können vertrieben und attackiert werden, ohne dass sich Polizei und Justiz in der Verantwortung sehen. Im Gegenteil, sie legitimieren die neonazistische Gewalt.Ein Jahr auf Bewährung und eine Geldstrafe für Gianluca Bruno, 200 Arbeitsstunden für Nordulf Heise wegen Sachbeschädigung und gefährlicher Körperverletzung, so lautete die Strafe nach über einem Jahr Verhandlungsdauer im „Fretterode-Prozess“. Damit blieb das Gericht weit unter den Forderungen der Staatsanwaltschaft, die auch eine Verurteilung wegen schweren Raubes erwirken wollte. Die mündliche Urteilsbegründung machte klar, welch fatale politische Position das Gericht mit dem Urteil bezogen hatte.Die Vorsitzende Richterin Andrea Kortus erklärte, dass das Gericht keinen Angriff auf die Pressefreiheit erkennen könne. Die Betroffenen seien allein an ihrer Kamera nicht als Journalisten erkennbar gewesen und der Angeklagte Heise habe sie schließlich gegenüber einem Zeugen als „Zecken“ bezeichnet. Es handele sich also eher, wenn auch nicht vorrangig, um eine Auseinandersetzung zweier politischer Lager, die weit auseinander lägen. Es sei im Prozess immer wieder Thema gewesen, dass die „Göttinger Antifa“ als Journalisten getarnt nach Fretterode käme und Gefahr für das Heise’sche Anwesen bestünde. Der Belagerungszustand und die Angst, von den Betroffenen überfahren zu werden, hätten Nordulf Heise so unter Druck gesetzt, dass er überreagierte. Eigentlich habe er die beiden nur aus dem Dorf jagen wollen.Observationsfreie ZoneDer kleine Ort Fretterode liegt im thüringischen Eichsfeld nahe der Ländergrenzen zu Hessen und Thüringen. Thorsten und Nadine Heise erwarben das zuvor als Pflegeheim genutzte Gutshaus „Hanstein“ im Jahr 1999, die Familie lebt dort seit Heises Haftentlassung 2002. Von hier aus betreiben sie ihren Verlag und Versandhandel, es ist Treffpunkt für Kameradschaftsabende der Kameradschaft Eichsfeld bzw. Northeim und der Arischen Bruderschaft, Heises engstem Kreis. Außerdem bietet das Haus ausreichend Platz für Liederabende und andere politische Veranstaltungen. Das Gelände umfasst neben dem Hauptgebäude auch Stallungen, einen Turm, ein großes Außengelände samt eines dort 2006 aufgebauten SS-Ehrenmals und ein Nebengebäude.Mit dem Anwesen schuf sich Heise eine Festung, die allerdings nicht an den hohen Außenmauern des Geländes endet. Das Gelände dominiert den kleinen Ort, Heise hat einen der sechs Sitze im Gemeinderat inne, er wird telefonisch vom ehemaligen Bürgermeister über vermeintlich verdächtige Autos mit Göttinger Kennzeichen informiert. Von den örtlichen Streifenpolizisten wird er als freundlicher Gesprächspartner angesehen und um sein Wildschwein im Garten beneidet.Die Nebenklage zitierte ein Dokument des niedersächsischen LKA aus dem Jahr 2008, in dem es heißt: „Er [Heise] stelle sich als treusorgender Familienvater und Firmenchef dar und bringe sich aktiv in örtliche Belange ein. Diesen Aktivitäten und der ländlichen Lage seines Wohnhauses, sowie der Besonderheit des Eichsfelder Wohnumfeldes sei es geschuldet, dass ihm im Ort nahezu nichts entgehe. So sei eine observationsfreie bzw. politfreie Zone entstanden.“Zur Analyse des LKA Niedersachsen passte die Aussage eines Zeugen, den Heise nach der Tat aufsuchte. Danach befragt wollte dieser nicht gegen Familie Heise aussagen. Er habe, so der Zeuge, keine Lust, politische Auseinandersetzungen hier auszubaden. Thorsten Heise wird im Dorf unterstützt, mindestens aber geduldet. Ob aus Sympathie oder aus Angst, das kann nur die Dorfgemeinschaft beantworten.Tatort FretterodeVor diesem Hintergrund muss auch der Übergriff auf die beiden Journalisten am 29. April 2018 interpretiert werden. Sie sind an diesem Sonntag nach Fretterode gefahren, um ein Vorbereitungstreffen für die Demonstration am 1. Mai zu dokumentieren. Sie positionierten sich, um An- und Abreise auf öffentlichem Grund fotografieren zu können. Hierbei wurden sie von Heises ältestem Sohn Nordulf und Gianluca Bruno, der als Heises politischer Ziehsohn gilt, bedroht und mit hoher Geschwindigkeit mit dem Auto verfolgt. Als sie wegen einer Baustellenampel am Ortseingang von Hohengandern zum Wenden gezwungen waren, versperrten die Täter den Fluchtweg und griffen an. Ein Betroffener erlitt einen Schlag mit einem Schraubenschlüssel auf die Stirn, der zum Bruch eines Schädelknochens führte, dem anderen wurde eine Stichverletzung am Bein zugefügt. Das Auto wurde vollständig zerstört und die Spiegelreflexkamera eines Betroffenen entwendet. Geistesgegenwärtig hatte er sich die Speicherkarte der Kamera während der Verfolgungsjagd bereits in die Socken gesteckt, sodass die Bilder der Angreifer der Polizei übergeben und Medien zur Verfügung gestellt werden konnten.Arbeitsverweigerung der PolizeiWie notwendig die eigene Recherche- und Öffentlichkeitsarbeit in diesem Fall werden sollte, zeigte sich rasch nach der Tat bei den „Ermittlungen“ der Polizei. Zwei Streifenwagen wurden nach dem Angriff nach Fretterode geschickt, einer positionierte sich hinter dem Anwesen, sodass Sicht auf das dort abgeparkte Fahrzeug der Täter bestand. Die Beamten protokollierten, wie verschiedene Personen, darunter das Ehepaar Heise, mehrfach zum Auto gingen und Gegenstände hineinlegten und herausnahmen, schritten aber nicht ein. Das Fahrzeug wurde schließlich von Thorsten Heise vom Hof gefahren und der Polizei übergeben. Zwei andere Beamte waren auf der Suche nach den Tätern. Sie befragten die Lebensgefährtin Brunos nach dessen Verbleib. Sie gab an, dass er sich nicht in der gemeinsamen Wohnung im Nebenhaus, sondern im Haupthaus bei Heises befinde. Die Beamten warteten über zwei Stunden auf Familie Heise, man einigte sich darauf, einen begleiteten Rundgang durch das Haus zu machen. Warum es im Anschluss keine ordentliche Hausdurchsuchung gab — weder bei Heises, noch in Brunos Wohnung — konnte auch im Prozess nicht geklärt werden. Die Polizei suchte also weder ordentlich nach den Tätern, noch nach den Tatwaffen und dem Raubgut. Es ist fraglich, ob es ohne die von den Betroffenen angefertigten Bilder überhaupt zu Anklage und Verurteilung gekommen wäre. Umso wichtiger war es dementsprechend für die Verteidigung, die Bilder und die Betroffenen zu diskreditieren.Täter-Opfer-UmkehrDie beiden Verteidiger Klaus Kunze und Wolfram Nahrath versuchten mit reichlich Mühe und steilen Thesen zu belegen, dass ihre Mandanten die eigentlichen Opfer des Tages seien, schließlich hätten die Nebenkläger einen „Fotoangriff“ verübt. Nahrath und sein Mandant wählten die recht schlanke Strategie, Nordulf als gut integrierten, ordentlichen Jungen zu präsentieren, der ein tolles Verhältnis zu seinen Eltern pflegt. Dabei sprang ihnen die Jugendgerichtshilfe zur Seite, die mit Nordulf zwar nicht über sein Weltbild sprach, aber zu berichten wusste, wie schwer das Aufwachsen unter der konstanten Ausspähung war.Kunze holte für Brunos Verteidigung etwas weiter aus und stellte etliche lange, teils konfuse Anträge. In denen benannte er die Nebenkläger wahlweise als Paparazzi oder Linksterroristen, die ihre Recherche nicht zur Aufklärung über Nazistrukturen sondern zur Vorbereitung von Anschlägen nutzten. Als Rechtfertigung zog er die Brandanschläge auf Szene-Immobilien in Sachsen und Thüringen heran.Bei dieser Idee konnte er auf den Ermittlungsansatz des sächsischen LKA zurückgreifen, das damit uferlose Ermittlungen in der sächsischen Linken legitimiert Bruno sei bedroht, Opfer von „Linksextremisten“ zu werden, so die SOKO Linx des sächsischen LKA, die sich selbstständig bei Bruno meldete. Anlass dafür war eine Website, die Informationen zu den Tätern des koordinierten Naziangriffs auf den Leipziger Stadtteil Connewitz im Zuge einer LEGIDA-Demonstration veröffentlichte. So absurd und haltlos die Ausführungen Kunzes zum Teil waren, die Strategie der Verteidiger ging insofern auf, als dass das Gericht die Mär der linken Bedrohung aufgriff, ohne sie zu überprüfen oder gegenteilige Aussagen von Zeug_innen zu würdigen.Ein Gespenst geht um in FretterodeAuch die im Prozess befragten Polizisten waren sich mehrheitlich einig, dass das Anwesen bedroht werde, anstatt dass von ihm eine Gefahr ausginge. Nur ein Beamter sagte aus, er habe die Äußerung Thorsten Heises, man müsse nicht unbedingt die Polizei rufen, um mit Störern umzugehen, als Drohung verstanden. So wurde am Tag des Übergriffs Verstärkung geholt, weil man Angst vor einer Racheaktion von Linken hatte. Man begab sich also nach der Tat, bei der zwei Journalisten mit 100 Kilometern pro Stunde über die schmalen Landstraßen gejagt, ihr Auto komplett zerstört und sie schwer verletzt und beraubt wurden, nach Fretterode, um eine mögliche Gefahr von links abzuwehren, anstatt nach den Tätern zu suchen und Beweismittel sicherzustellen. Belege für diese Einschätzung konnten sie auf Nachfrage nicht liefern, es handele sich um polizeibekanntes Wissen.Eine Anfrage der Die Linke-Abgeordneten Katharina König-Preuss im Thüringer Landtag nach dem Urteil zeigte, dass es im Zeitraum 2010 bis 2018 keine einzige registrierte linke Aktion oder Veranstaltung in Fretterode gab. Bis 2015 berichtet der Geheimdienst dagegen über wöchentliche Treffen extrem rechter Strukturen dort, 2015 bis 2018 listet die Landesregierung mindestens drei Veranstaltungen auf. Während die Landesregierung für den Zeitraum 2010 bis 2018 von acht rechten Straftaten zu berichten weiß, darunter Volksverhetzung und Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, ist keine einzige linke Straftat in der Zeit zur Anzeige gebracht worden. Anhand dieser Gegenüberstellung ist es um so bitterer, dass sich die Täter auf die Rückendeckung von Polizei und Justiz verlassen können.Nebenklagevertreter Sven Adam kommentierte in einer Pressemitteilung nach der Urteilsverkündung: „Aus einer gewollten und mittels Hetzjagd umgesetzten No-Go-Area für politische Gegner und Fachjournalisten in Fretterode wird seitens des Gerichts eine emotionale Reaktion auf vermeintliche und in keinem zeitlichen Zusammenhang stehende und nicht in der Beweisaufnahme erörterte Aktionen von Antifaschistinnen und Antifaschisten in Fretterode gemacht. Die letzte Busfahrt von Antifaschistinnen und Antifaschisten nach Fretterode zur öffentlichkeitswirksamen Kritik an dem Neonazi-Zentrum ist 20 Jahre her. Weitere Ereignisse, die eine Bedrohungslage des Hauses Heise hätten begründen können, hat die Beweisaufnahme nicht erbracht.“Traute EinigkeitBeim „Eichsfeldtag“ der NPD im Jahr 2016 beschwerten sich die Veranstalter bei der Polizei über Fotoaufnahmen der öffentlichen Parteiveranstaltung. Die Beamten erteilten vier Journa­list*innen Platzverweise, die im Nachgang gerichtlich für rechtswidrig erklärt wurden. Sven Adam, der eine Journalistin vertrat, attestierte der Polizei ein „höchst fragwürdiges Verständnis von Medienarbeit“, denn „[d]en betroffenen Journalist_innen, die sich durch offizielle Presseausweise auswiesen, wird im Bericht vom 31.05.2016 unterstellt, sie seien ‚Angehörige der Antifa, die mit ihrem Auftreten eine Eskalation im Veranstaltungsraum provozierten‘“. Im Folgejahr wurde ein Kamerateam mit einem Transparent mit der Aufschrift „Lügenpresse“ so sehr bedrängt, dass die Arbeiten abgebrochen werden mussten. Die Nebenklage legte ein Bild vor, das Nordulf Heise bei der Anfertigung eines solchen Transparentes zeigte, sowie ein Bild der Aktion, bei der Bruno das Transparent hält.Auch nach dem Angriff im April 2018 änderte sich nichts. Nur wenige Monate nach der Tat, im November 2018 veranstaltete Heise einen Vortragsabend mit dem Kriegsverbrecher Karl Münter, an dem gut 120 Personen teilnahmen. Nach Beschwerde der Neonazis untersagte die Polizei der anwesenden Presse das Fotografieren, drohte mit Platzverweisen und forderte die Personalien ein, um sie an Heise weitergeben zu können, damit er zu rechtlichen Schritten in der Lage sei. Doppelt perfide: Unter den Journalist_innen befand sich auch einer der Betroffenen des Übergriffs, Ansprechpartner für die Polizei an diesem Abend war Gianluca Bruno. Die Eichsfelder Polizei scheint ein sehr ähnliches Verständnis von Pressefreieheit zu haben wie die Neonazis.Feindbild PresseNur zwei Monate vor der Tat hatte Thorsten Heise in einer Rede im niedersächsischen Karlshöfen „diese Journaille“ zum „Hauptfeind“ erklärt. Darunter fallen alle, die über die extreme Rechte berichten, denn es gehöre „anscheinend bei Journalisten dazu, ein kommunistisches oder Antifa-Parteibuch in der Tasche zu haben, um überhaupt Karriere machen zu können“. Im Sommer 2019 bedrohte er einen Journalisten namentlich mit den Worten: „Gut hinhören, Presse: Der Revolver ist schon geladen, Herr…!“Während Heise Senior die Szene gegen die Presse aufhetzt, schreitet sein Junior zur Tat. Das Gericht wollte zwischen den Reden des Vaters und der Gewalt des Sohnes keinen strukturellen Zusammenhang erkennen und nahm — im Gegenteil — die Bezeichnung „Zecken“ zum Anlass, die Tat zu bagatellisieren. Klare Worte fand hingegen die Vorstandsvorsitzende des DJV Thüringen Heidje Beutel nach dem Urteil: „Die Tat war nicht nur ein Angriff auf die beiden Journalisten, sondern ein gezielter Einschüchterungsversuch mit dem Ziel, Berichterstattung zu unterbinden“.Wo sich Justiz und Neonazis Gute Nacht sagenFretterode ist ideal, um abseits der Öffentlichkeit schalten und walten zu können. Die Bedeutung seines Nahumfeldes machte Heise kürzlich in einem Interview deutlich: „Wenn man sich seine revolutionäre Spannkraft bewahren will, braucht man die richtige Lebenspartnerin, die dahintersteht. Im Grunde sollte das die ganze Familie mittragen und auch sein Umfeld.“Gerade am Beispiel des Netzwerks rund um Heise lässt sich die Wichtigkeit investigativer Recherche anschaulich verdeutlichen, denn die Behörden mauern, wenn es um Fretterode geht. Während sich in älteren Jahresberichten des Thüringer Geheimdienstes standardmäßig ein Kapitel zu Heise und seiner Relevanz in der Szene findet, sucht man seit 2019 vergeblich danach. In den Jahren 2020 und 2021 erwähnte der Thüringer Geheimdienst Heise nur ein einziges Mal im Kontext seiner Parteipolitik. Der Gerichtsprozess bot die Hoffnung, die Strukturen um Heise wie die Arische Bruderschaft zu erhellen und der Region vor Augen zu führen, wie gefährlich solche Nachbarn sein können, wenn man nicht ins Weltbild passt. Doch entschloss sich das Gericht, das Nazi-Idyll in Fretterode nicht weiter zu stören und damit die journalistische Arbeit bei einem der zentralsten Netzwerker der deutschen Rechten noch mehr zu erschweren. Denn spätestens mit dem Urteil wird klar: Es kann jeden treffen, der sich in die Nähe wagt. 2023-02-13T12:55:54+01:00 Die „Schwedendemokraten“ | Profiteure massiver Veränderungen https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/89/die-schwedendemokraten Innere Sicherheit und Phantasien von „Überfremdung“ und „Bevölkerungsaustausch“ sind für rechte Parteien zentrale Themen. In Schweden ist Schusswaffengewalt im öffentlichen Raum zu einem ernsthaften gesellschaftlichen Problem geworden. Auch der demographische Wandel ist sichtbar und fällt oft mit Spaltungen bezüglich ökonomischer Situation, Bildungsgrad und Wohnort zusammen. Die Situation ist komplex, und die sozialdemokratisch geprägten Regierungen der letzten Jahre haben es versäumt, umfassend einzugreifen. Das Ergebnis ist dramatisch und hat den Erfolg der rechten „Sverigedemokraterna“ wesentlich mitbestimmt.Bis Mitte Dezember hatte es im gesamten Land 378 Schießereien gegeben, 104 Personen wurden dabei verletzt und 60 getötet. Die Zahlen steigen seit etwa 2013 kontinuierlich an. In acht von zehn Fällen handelt es sich bei diesen Gewaltakten um Taten innerhalb eines gangkriminellen Milieus. Täter und Opfer sind meist junge Männer, aber auch einige Kinder und sehr junge Frauen wurden getötet, einige Täter waren unter 18 Jahren. In einigen Fällen wurden Unbeteiligte Opfer von sogenannten drive-by shootings, in anderen töteten Sprengsätze Kinder und andere Familienangehörige anstelle der eigentlichen Ziele.2021 waren 20 % der Bevölkerung Schwedens nicht im Land geboren, weitere 13 % hatten mindestens einen ausländischen Elternteil. Im Jahr 2010 gab es nur 11,3 % im Ausland Geborene. Das Land hat sich innerhalb von wenigen Jahrzehnten von einem der ethnisch homogensten in Europa zu einem der sieben diversesten der Welt entwickelt. In den vergangenen fünf Jahren rutschte Schweden vom ersten Platz bezüglich der Bekämpfung ökonomischer Ungleichheit auf Platz 20 europaweit. Insgesamt ist die ökonomische Spaltung seit 1980 immer weiter gestiegen, wenn auch vor dem Hintergrund gleichzeitiger allgemeiner Steigerung des Lebensstandards.Segregation statt IntegrationGewaltkriminalität, Immigration, soziale Ungleichheit markieren beispielhaft die massiven Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Zahlen zu Bildungschancen, Arbeitslosigkeit und Segregation in urbanen Räumen bestätigen ebenfalls, dass Schweden sich in kurzer Zeit von einem relativ homogenen, ökonomisch und sozial um Umverteilung bemühten Land hin zu einer von starker Polarisierung, Heterogenität und Spaltung geprägten Gesellschaft entwickelt hat. Der kontinuierliche Aufstieg der Schwedendemokraten (Sverigedemokraterna, SD) lässt sich allerdings nicht allein durch diese Veränderungen erklären, sie bilden aber einen wichtigen Hintergrund. Die Partei, die sich selbst als nationalkonservativ bezeichnet, aber in vielen personellen und inhaltlichen Aspekten der extremen Rechten nahesteht, kam 2010 erstmals über die Vier-Prozent-Sperre und ins Parlament. 2014 wurde sie drittstärkste Partei mit 12,8 %; 2018 erreichte sie 17,5 % und im Herbst 2022 20,5 %. Die Wahlergebnisse bei Europa- und Kommunalwahlen sind deutlich schlechter, stiegen aber im selben Zeitraum auch linear an.Der cordon sanitaire und sein EndeAuch im politischen System hat Schweden mit dieser Wahl eine starke Veränderung erlebt: das Ende der Blockpolitik: Sozialdemokraten, Linkspartei und Grüne auf der einen Seite, Moderaterna (konservativ-wirtschaftsliberal), Centerpartiet (konservativ-werteliberal-ländliche Regionen), Kristdemokraterna (konservativ) und Liberalerna (liberal) auf der anderen. SD stand außerhalb der Blöcke, bis 2019 Moderaterna die Möglichkeit eröffneten, mit SD zusammenzuarbeiten. Centerpartiet schloss dies kategorisch aus. Damit war der bürgerlich-liberale Allianz-Block aufgelöst. Die strikte cordon-sanitaire-Politik aller Parteien angesichts der quantitativ immer stärkeren Repräsentation von SD war nicht länger aufrechtzuerhalten. 2018 konnten sich noch alle Parteien auf das sogenannte Januarabkommen einigen, um den Einfluss von SD zu beschränken. Die rot-grüne Regierung einigte sich mit der Allianz auf eine sachpolitische Linie, anstatt einen konservativen Block mit Unterstützung von SD zu ermöglichen. Dies führte dazu, dass in nahezu allen Bereichen Rot-Grün eine liberale oder konservative Politik umsetzen musste. Gleichzeitig deuteten sich erste Spaltungslinien im ebenfalls unzufriedenen Allianz-Block an.Der kontinuierliche Anstieg an Wä­hl­er:innenzuspruch für SD scheint relativ unabhängig vom Handeln der anderen Parteien zu sein. Dagegen hat die Frage, wie mit SD umzugehen sei, zu ernsthaften Verwerfungen innerhalb der Allianzparteien geführt, zumal es eher um moralische als um inhaltliche Kritik ging. Noch 2018 hatte Ulf Kristersson, Parteivorsitzender der Moderaterna, der Holocaust-Überlebenden Hédi Fried versprochen, eine deutliche rote Linie gegenüber SD einzuhalten. Als er 2021, nach der Auflösung der Allianz, seine Haltung änderte, wurde „du hattest es Hédi versprochen“ zum Schlagwort. Sicher ist es moralisch verkehrt, ein Versprechen gegenüber einer politisch höchst aktiven Antifaschistin zu brechen, politisch gesehen aber wäre es wichtig gewesen, die inhaltliche Nähe der Partei Moderaterna zu SD zu kritisieren: etwa die klimafeindliche Energiepolitik oder die platte Kopplung von Migration und Kriminalität. Oder auch zu beleuchten, inwieweit sich die Rahmenbedingungen von 2018 bis 2022 geändert haben, nachdem die konsequente Ausgrenzung von SD zu einer politisch höchst instabilen Lage geführt hatte.Die nun gewählte bürgerliche Mitte-Regierung wählt einen Schlingerkurs: SD sind nicht Teil der Regierungskoalition und haben entsprechend keine Ministerien — dafür aber den Vorsitz in mehreren der wichtigen Arbeitsausschüsse des Parlaments. Um deren Unterstützung der Minderheitsregierung zu sichern, einigten sich die Koalitionsparteien mit SD vor der Regierungsbildung im sogenannten Tidö-Abkommen auf eine gemeinsame Linie. In dieser sind vor allem in den Bereichen Migration und innere Sicherheit nahezu 100 Prozent der SD-Wahlversprechen umgesetzt worden. Die Koalitionsparteien behaupten noch immer, nicht mit SD zu regieren — und SD hat zentrale politische Punkte gesetzt, ohne für deren Umsetzung politisch verantwortlich sein zu müssen.Stigmatisierung und AnpassungEinige Einschätzungen gehen davon aus, dass die Stigmatisierung der Partei eher geholfen hat, sich als politische Alternative in einer Situation zu präsentieren, in der sich alle anderen Parteien einander angenähert hatten. Andere heben die erfolgreiche „Ein-Fragen-Politik“ hervor, mit der sich SD zumindest bis 2014 als die einzige Partei präsentieren konnte, die Migration kritisch betrachtete — dies änderte sich aber 2015, als die rot-grüne Regierung die Migrationsgesetze drastisch verschärfte. Mittlerweile gehören Migration und Integration für alle Parteien zu den wichtigsten Fragen. Gleichzeitig hat SD einige ihrer zentralen Punkte aufgeweicht: Ein EU-Austritt wird nicht mehr konsequent verlangt, ein Recht auf Schwangerschaftsabbrüche soll gesetzlich verankert werden. Zu der historisch radikalen Entscheidung des NATO-Beitritts, die eine mehr als hundertjährige Tradition von Neutralität und Allianzfreiheit beendete, gab es überhaupt keine ernsthaften Gegenstimmen. Die nun aufgrund der türkischen Forderungen einsetzende Verfolgung kurdischer Geflüchteter und Aktivist:innen wird von allen Parteien außer der Linkspartei stillschweigend mitgetragen.Dem rechten Markenkern treuAnsonsten blieben SD sich seit 2010 weitestgehend treu. Es gab wiederholte Versuche, Personen auszuschließen, die in extrem rechten Organisationen aktiv waren oder in sozialen Medien offen rassistisch und antisemitisch pöbelten. Die selbst propagierte „Null-Toleranz-Politik gegen Rassismus“ muss aber immer wieder Ausnahmen zulassen, um die eigene Marke zu stärken. Mit wachsendem Erfolg scheint die postulierte eigene Grenze nach rechts auch immer unwichtiger zu werden. Im Wahlkampf machten SD großflächige Werbung für sich auf einem U-Bahn-Zug in Stockholm. Der SD-Sprecher in Rechtsfragen, Tobias Andersson, twitterte ein Foto davon mit dem Titel „Willkommen im Heimwanderungszug. Sie haben ein Einmal-Ticket. Nächster Stop Kabul.“ Auch hier viel moralische Empörung, wenig inhaltliche Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit die anderen Parteien SD-ähnliche Positionen vertreten oder umsetzen. Die sozialdemokratische Regierung hatte Abschiebungen nach Afghanistan erst kurz nach der Machtübernahme der Taliban gestoppt, in den Jahren davor wurde aber eifrig abgeschoben, auch Jugendliche, die unbegleitet geflohen waren und einen Großteil ihrer Schulzeit in Schweden verbracht hatten.Bis zur Wahl 2022 hatten SD eine recht klare demographisch, sozial und geographisch definierte Wählerbasis: lohnabhängig arbeitende Männer im Süden des Landes. Der Gender-Gap ist geblieben, aber in allen anderen Bereichen konnte SD die Basis verbreitern. Ein Unterschied zwischen SD und den meisten rechten Parteien in Europa ist, dass sie die soziale Frage nicht nur in populistischer Weise ausschlachten, sondern tatsächlich einige klassisch sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat-Themen stark machen: Während der Pandemie wurde das Arbeitslosengeld erhöht, und SD deklarierten die Beibehaltung dieses Niveaus zu einem der Knackpunkte in den Regierungsverhandlungen 2022. Entsprechend gewannen SD auch in den Gewerkschaften und in den Teilen der Arbeiterklasse, die früher eng an die Sozialdemokratie gebunden waren, Anhänger:innen. Gleichzeitig gelang ihnen mit einer anti-urbanen Ausrichtung die Mobilisierung auch im Norden des Landes, traditionell sozialdemokratisch oder kommunistisch wählend. Wachsende Unzufriedenheit mit dem Abbau des Wohlfahrtsstaats, der sich seit den 1990er Jahren etwa in der Privatisierung des öffentlichen Sektors, vor allem von Schulen und im Gesundheitswesen, manifestiert, scheint neben Rassismus und EU-Skepsis eine der konstantesten politischen Haltungen zu sein, die SD-Wähler:innen auszeichnet. Ein zentrales ideologisches Anliegen von SD ist es, das „folkhemmet“, also den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat der 1960er und 1970er Jahre, wieder zu erschaffen und gleichzeitig die Sozialdemokratie für dessen Zerstörung anzuklagen.Zurück in die 1950erAlles in allem erscheint die derzeitige politische Konstellation, in der SD nicht nur mehrere wichtige Ausschüsse im Parlament leitet, sondern vor allem die Politik der Mitte-Koalition wesentlich bestimmt, ohne ihr anzugehören, das Resultat dreier Faktoren zu sein: der massiven demographischen und sozialen Veränderungen, die das Land in den letzten zwei Jahrzehnten erlebt hat; der Unfähigkeit der bisherigen Regierungen, sich mit den entsprechenden Herausforderungen auseinanderzusetzen, ohne Positionen von SD zu kopieren; und der Kontinuität, die SD in ihrer Politik vertritt. Kern dieser Politik ist Nostalgie: die Wiederauferstehung des „folkhemmet“ als einer ethnisch homogenen, sozial ausgeglichenen Gesellschaft, in der zentrale Entwicklungen der Globalisierung, Heterogenisierung und Modernisierung zurückgenommen werden. Die größtmögliche Wiederherstellung ethnischer Homogenität durch Ausbürgerung, Abschiebungen und die Verweigerung von unbefristeten Aufenthaltsgenehmigungen ist bereits in den Koalitionsvereinbarungen verankert. Dass sich damit auch die komplexe Problemlage auflöst, die die Schusswaffengewalt hervorgebracht hat, glaubt eigentlich niemand. Schwerpunkt 7791 Mon, 13 Feb 2023 12:46:05 +0100 LOTTA Die „Schwedendemokraten“ Anna Diegelmann Innere Sicherheit und Phantasien von „Überfremdung“ und „Bevölkerungsaustausch“ sind für rechte Parteien zentrale Themen. In Schweden ist Schusswaffengewalt im öffentlichen Raum zu einem ernsthaften gesellschaftlichen Problem geworden. Auch der demographische Wandel ist sichtbar und fällt oft mit Spaltungen bezüglich ökonomischer Situation, Bildungsgrad und Wohnort zusammen. Die Situation ist komplex, und die sozialdemokratisch geprägten Regierungen der letzten Jahre haben es versäumt, umfassend einzugreifen. Das Ergebnis ist dramatisch und hat den Erfolg der rechten „Sverigedemokraterna“ wesentlich mitbestimmt.Bis Mitte Dezember hatte es im gesamten Land 378 Schießereien gegeben, 104 Personen wurden dabei verletzt und 60 getötet. Die Zahlen steigen seit etwa 2013 kontinuierlich an. In acht von zehn Fällen handelt es sich bei diesen Gewaltakten um Taten innerhalb eines gangkriminellen Milieus. Täter und Opfer sind meist junge Männer, aber auch einige Kinder und sehr junge Frauen wurden getötet, einige Täter waren unter 18 Jahren. In einigen Fällen wurden Unbeteiligte Opfer von sogenannten drive-by shootings, in anderen töteten Sprengsätze Kinder und andere Familienangehörige anstelle der eigentlichen Ziele.2021 waren 20 % der Bevölkerung Schwedens nicht im Land geboren, weitere 13 % hatten mindestens einen ausländischen Elternteil. Im Jahr 2010 gab es nur 11,3 % im Ausland Geborene. Das Land hat sich innerhalb von wenigen Jahrzehnten von einem der ethnisch homogensten in Europa zu einem der sieben diversesten der Welt entwickelt. In den vergangenen fünf Jahren rutschte Schweden vom ersten Platz bezüglich der Bekämpfung ökonomischer Ungleichheit auf Platz 20 europaweit. Insgesamt ist die ökonomische Spaltung seit 1980 immer weiter gestiegen, wenn auch vor dem Hintergrund gleichzeitiger allgemeiner Steigerung des Lebensstandards.Segregation statt IntegrationGewaltkriminalität, Immigration, soziale Ungleichheit markieren beispielhaft die massiven Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Zahlen zu Bildungschancen, Arbeitslosigkeit und Segregation in urbanen Räumen bestätigen ebenfalls, dass Schweden sich in kurzer Zeit von einem relativ homogenen, ökonomisch und sozial um Umverteilung bemühten Land hin zu einer von starker Polarisierung, Heterogenität und Spaltung geprägten Gesellschaft entwickelt hat. Der kontinuierliche Aufstieg der Schwedendemokraten (Sverigedemokraterna, SD) lässt sich allerdings nicht allein durch diese Veränderungen erklären, sie bilden aber einen wichtigen Hintergrund. Die Partei, die sich selbst als nationalkonservativ bezeichnet, aber in vielen personellen und inhaltlichen Aspekten der extremen Rechten nahesteht, kam 2010 erstmals über die Vier-Prozent-Sperre und ins Parlament. 2014 wurde sie drittstärkste Partei mit 12,8 %; 2018 erreichte sie 17,5 % und im Herbst 2022 20,5 %. Die Wahlergebnisse bei Europa- und Kommunalwahlen sind deutlich schlechter, stiegen aber im selben Zeitraum auch linear an.Der cordon sanitaire und sein EndeAuch im politischen System hat Schweden mit dieser Wahl eine starke Veränderung erlebt: das Ende der Blockpolitik: Sozialdemokraten, Linkspartei und Grüne auf der einen Seite, Moderaterna (konservativ-wirtschaftsliberal), Centerpartiet (konservativ-werteliberal-ländliche Regionen), Kristdemokraterna (konservativ) und Liberalerna (liberal) auf der anderen. SD stand außerhalb der Blöcke, bis 2019 Moderaterna die Möglichkeit eröffneten, mit SD zusammenzuarbeiten. Centerpartiet schloss dies kategorisch aus. Damit war der bürgerlich-liberale Allianz-Block aufgelöst. Die strikte cordon-sanitaire-Politik aller Parteien angesichts der quantitativ immer stärkeren Repräsentation von SD war nicht länger aufrechtzuerhalten. 2018 konnten sich noch alle Parteien auf das sogenannte Januarabkommen einigen, um den Einfluss von SD zu beschränken. Die rot-grüne Regierung einigte sich mit der Allianz auf eine sachpolitische Linie, anstatt einen konservativen Block mit Unterstützung von SD zu ermöglichen. Dies führte dazu, dass in nahezu allen Bereichen Rot-Grün eine liberale oder konservative Politik umsetzen musste. Gleichzeitig deuteten sich erste Spaltungslinien im ebenfalls unzufriedenen Allianz-Block an.Der kontinuierliche Anstieg an Wä­hl­er:innenzuspruch für SD scheint relativ unabhängig vom Handeln der anderen Parteien zu sein. Dagegen hat die Frage, wie mit SD umzugehen sei, zu ernsthaften Verwerfungen innerhalb der Allianzparteien geführt, zumal es eher um moralische als um inhaltliche Kritik ging. Noch 2018 hatte Ulf Kristersson, Parteivorsitzender der Moderaterna, der Holocaust-Überlebenden Hédi Fried versprochen, eine deutliche rote Linie gegenüber SD einzuhalten. Als er 2021, nach der Auflösung der Allianz, seine Haltung änderte, wurde „du hattest es Hédi versprochen“ zum Schlagwort. Sicher ist es moralisch verkehrt, ein Versprechen gegenüber einer politisch höchst aktiven Antifaschistin zu brechen, politisch gesehen aber wäre es wichtig gewesen, die inhaltliche Nähe der Partei Moderaterna zu SD zu kritisieren: etwa die klimafeindliche Energiepolitik oder die platte Kopplung von Migration und Kriminalität. Oder auch zu beleuchten, inwieweit sich die Rahmenbedingungen von 2018 bis 2022 geändert haben, nachdem die konsequente Ausgrenzung von SD zu einer politisch höchst instabilen Lage geführt hatte.Die nun gewählte bürgerliche Mitte-Regierung wählt einen Schlingerkurs: SD sind nicht Teil der Regierungskoalition und haben entsprechend keine Ministerien — dafür aber den Vorsitz in mehreren der wichtigen Arbeitsausschüsse des Parlaments. Um deren Unterstützung der Minderheitsregierung zu sichern, einigten sich die Koalitionsparteien mit SD vor der Regierungsbildung im sogenannten Tidö-Abkommen auf eine gemeinsame Linie. In dieser sind vor allem in den Bereichen Migration und innere Sicherheit nahezu 100 Prozent der SD-Wahlversprechen umgesetzt worden. Die Koalitionsparteien behaupten noch immer, nicht mit SD zu regieren — und SD hat zentrale politische Punkte gesetzt, ohne für deren Umsetzung politisch verantwortlich sein zu müssen.Stigmatisierung und AnpassungEinige Einschätzungen gehen davon aus, dass die Stigmatisierung der Partei eher geholfen hat, sich als politische Alternative in einer Situation zu präsentieren, in der sich alle anderen Parteien einander angenähert hatten. Andere heben die erfolgreiche „Ein-Fragen-Politik“ hervor, mit der sich SD zumindest bis 2014 als die einzige Partei präsentieren konnte, die Migration kritisch betrachtete — dies änderte sich aber 2015, als die rot-grüne Regierung die Migrationsgesetze drastisch verschärfte. Mittlerweile gehören Migration und Integration für alle Parteien zu den wichtigsten Fragen. Gleichzeitig hat SD einige ihrer zentralen Punkte aufgeweicht: Ein EU-Austritt wird nicht mehr konsequent verlangt, ein Recht auf Schwangerschaftsabbrüche soll gesetzlich verankert werden. Zu der historisch radikalen Entscheidung des NATO-Beitritts, die eine mehr als hundertjährige Tradition von Neutralität und Allianzfreiheit beendete, gab es überhaupt keine ernsthaften Gegenstimmen. Die nun aufgrund der türkischen Forderungen einsetzende Verfolgung kurdischer Geflüchteter und Aktivist:innen wird von allen Parteien außer der Linkspartei stillschweigend mitgetragen.Dem rechten Markenkern treuAnsonsten blieben SD sich seit 2010 weitestgehend treu. Es gab wiederholte Versuche, Personen auszuschließen, die in extrem rechten Organisationen aktiv waren oder in sozialen Medien offen rassistisch und antisemitisch pöbelten. Die selbst propagierte „Null-Toleranz-Politik gegen Rassismus“ muss aber immer wieder Ausnahmen zulassen, um die eigene Marke zu stärken. Mit wachsendem Erfolg scheint die postulierte eigene Grenze nach rechts auch immer unwichtiger zu werden. Im Wahlkampf machten SD großflächige Werbung für sich auf einem U-Bahn-Zug in Stockholm. Der SD-Sprecher in Rechtsfragen, Tobias Andersson, twitterte ein Foto davon mit dem Titel „Willkommen im Heimwanderungszug. Sie haben ein Einmal-Ticket. Nächster Stop Kabul.“ Auch hier viel moralische Empörung, wenig inhaltliche Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit die anderen Parteien SD-ähnliche Positionen vertreten oder umsetzen. Die sozialdemokratische Regierung hatte Abschiebungen nach Afghanistan erst kurz nach der Machtübernahme der Taliban gestoppt, in den Jahren davor wurde aber eifrig abgeschoben, auch Jugendliche, die unbegleitet geflohen waren und einen Großteil ihrer Schulzeit in Schweden verbracht hatten.Bis zur Wahl 2022 hatten SD eine recht klare demographisch, sozial und geographisch definierte Wählerbasis: lohnabhängig arbeitende Männer im Süden des Landes. Der Gender-Gap ist geblieben, aber in allen anderen Bereichen konnte SD die Basis verbreitern. Ein Unterschied zwischen SD und den meisten rechten Parteien in Europa ist, dass sie die soziale Frage nicht nur in populistischer Weise ausschlachten, sondern tatsächlich einige klassisch sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat-Themen stark machen: Während der Pandemie wurde das Arbeitslosengeld erhöht, und SD deklarierten die Beibehaltung dieses Niveaus zu einem der Knackpunkte in den Regierungsverhandlungen 2022. Entsprechend gewannen SD auch in den Gewerkschaften und in den Teilen der Arbeiterklasse, die früher eng an die Sozialdemokratie gebunden waren, Anhänger:innen. Gleichzeitig gelang ihnen mit einer anti-urbanen Ausrichtung die Mobilisierung auch im Norden des Landes, traditionell sozialdemokratisch oder kommunistisch wählend. Wachsende Unzufriedenheit mit dem Abbau des Wohlfahrtsstaats, der sich seit den 1990er Jahren etwa in der Privatisierung des öffentlichen Sektors, vor allem von Schulen und im Gesundheitswesen, manifestiert, scheint neben Rassismus und EU-Skepsis eine der konstantesten politischen Haltungen zu sein, die SD-Wähler:innen auszeichnet. Ein zentrales ideologisches Anliegen von SD ist es, das „folkhemmet“, also den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat der 1960er und 1970er Jahre, wieder zu erschaffen und gleichzeitig die Sozialdemokratie für dessen Zerstörung anzuklagen.Zurück in die 1950erAlles in allem erscheint die derzeitige politische Konstellation, in der SD nicht nur mehrere wichtige Ausschüsse im Parlament leitet, sondern vor allem die Politik der Mitte-Koalition wesentlich bestimmt, ohne ihr anzugehören, das Resultat dreier Faktoren zu sein: der massiven demographischen und sozialen Veränderungen, die das Land in den letzten zwei Jahrzehnten erlebt hat; der Unfähigkeit der bisherigen Regierungen, sich mit den entsprechenden Herausforderungen auseinanderzusetzen, ohne Positionen von SD zu kopieren; und der Kontinuität, die SD in ihrer Politik vertritt. Kern dieser Politik ist Nostalgie: die Wiederauferstehung des „folkhemmet“ als einer ethnisch homogenen, sozial ausgeglichenen Gesellschaft, in der zentrale Entwicklungen der Globalisierung, Heterogenisierung und Modernisierung zurückgenommen werden. Die größtmögliche Wiederherstellung ethnischer Homogenität durch Ausbürgerung, Abschiebungen und die Verweigerung von unbefristeten Aufenthaltsgenehmigungen ist bereits in den Koalitionsvereinbarungen verankert. Dass sich damit auch die komplexe Problemlage auflöst, die die Schusswaffengewalt hervorgebracht hat, glaubt eigentlich niemand. 2023-02-13T12:46:05+01:00 Droht ein extrem rechter Block in der „Europäischen Union“? | Allianzbestrebungen der europäischen Rechtsaußen-Parteien https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/89/droht-ein-extrem-rechter-block-der-europ-ischen-union Die multiplen Krisenerscheinungen verstärken in Europa die politische Polarisierung und öffnen Räume für eine modernisierte extreme Rechte. Rechtsaußen-Parteien gewannen in vielen EU-Ländern an Einfluss und sind mittlerweile sogar Teil von Regierungskoalitionen. Aktuell wird von Rechtsaußen versucht, neue Allianzen auf EU-Ebene zu knüpfen und einen einflussreichen antiliberalen Machtblock verbündeter Natio­nalist:innen zu formieren. Noch verhindert besonders der russische Angriffskrieg auf die Ukraine eine solche europäische Allianz. Die multiplen Krisenerscheinungen in Europa und der Welt sind Wasser auf die Mühlen extrem rechter Parteien: Der Ausnahmezustand wird herbeigesehnt und herbeigeredet, um sich nach dem Motto „Das eigene Land zuerst“ (AfD) als autoritären „nationalen Ordnungsfaktor“ ins Spiel zu bringen. Reaktionäre Antworten auf Probleme wie die Klima-Krise paaren sich mit einem rechten populistischen Kulturkampf, der unter Inanspruchnahme der Meinungsfreiheit Hetze gegen Minderheitenrechte und plurale gesellschaftliche Ausdifferenzierung betreibt. Deutlich wird auch, dass das Heilsversprechen eines neuen grünen Kapitalismus nicht ein Eindämmen von ungleichen Verteilungsverhältnissen und Wachstumszwängen beinhaltet. Doch Wohlstandschauvinismus und Egoismus bieten stets politische Anknüpfungspunkte für rechte Hetzkampagnen.Von Rechtsaußen in die MitteNach der Implosion der Ostblock-Staaten prägte eine neoliberale Deregulierungspolitik das wirtschaftliche und politische Geschehen in Europa, das die Unterschiede zwischen arm und reich weiter wachsen ließ. In den meisten osteuropäischen Staaten der erweiterten EU grassierten Ethno-Nationalismus und Korruption. In Westeuropa gingen in vielen Ländern wirtschaftsliberale Globalisierungskonzepte einher mit gesellschaftlichen Liberalisierungs- und Pluralisierungstendenzen. Doch eine Gegenüberstellung von ethno-nationalistischem Osteuropa und neoliberal-rechtspopulistischem Westeuropa beschreibt den aktuellen Zustand der europäischen extremen Rechten nicht mehr richtig — vielmehr griffen rechtspopulistische Parolen gegen die liberale Demokratie und das Phantasma eines von den „politischen Eliten“ betriebenen „großen Austausches“ mit der Zeit auch in vielen westlichen EU-Ländern um sich. Fehlende sichtbar linke Politikangebote verstärkten die Wahrnehmung in den nationalen Öffentlichkeiten, es gebe lediglich die Alternative zwischen neoliberal deregulierten „offenen Märkten“ einerseits und dem Kampf um „nationale Kontrolle“ andererseits.Die Kampagne der englischen Torys für einen BREXIT („take back control!“) versinnbildlichte diese öffentlich anknüpfungsfähige Scheinalternative. Die konservative Regierung hatte 2016, herausgefordert durch die rechtspopulistische UK Independence Party, ein Referendum über den Austritt aus der EU durchgeführt. Das „Leave“-Lager der Torys, dessen prominentester Befürworter Boris Johnson war, übernahm nicht nur das rechtspopulistische Narrativ der die Souveränität und den Reichtum des Landes bedrohenden EU-Bürokratie, sondern setzte ebenso auf migrationsfeindliche Töne. Als vorbildlich für viele Rechtsaußenparteien gilt die Forderung des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán nach einer „illiberalen Demokratie“ — einer faktischen Hinwendung zu einem autoritären Regierungsstil und der Abwehr von menschenrechtsorientierten Liberalisierungen. Dies geht einher mit der Beschränkung der Pluralität und Unabhängigkeit der Medien, einem systematisch betriebenen Abbau von Checks-and-balances-Mechanismen, stärkerer politischer Kontrolle der Justiz sowie dem Ausbau der Macht der Exekutive.Dass auch die Sozialdemokratie nicht frei ist von Blinken nach rechts, zeigen die schwedischen Sozialdemokrat:innen: In einem Land, in dem früher die liberalste Einwanderungspolitik in Europa betrieben wurde, entwickelte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Schwedens unter ihrer Vorsitzenden Magdalena Andersson eine rassistische Politik der Ausgrenzung, um den extrem rechten Sverigedemokraterna (SD) Wahlstimmen abzunehmen. Trotzdem — oder gerade deswegen — wurden die SD in den vergangenen zehn Jahren immer populärer, so dass die neue bürgerliche Minderheitsregierung nun auf ihre Unterstützung angewiesen ist. Als Vorbild für den Kurs der schwedischen Sozialdemokrat:innen können in gewisser Weise die Genoss:innen im Nachbarland Dänemark gelten. Dort war die 1995 gegründete Dansk Folkeparti (DF) zu einer einflussreichen politischen Kraft aufgestiegen, die mehrere konservativ-liberale Minderheitsregierungen stützte, mit der Folge, dass diese, um Konzessionen an die DF zu machen, die Migrations- und Asylgesetze immer weiter verschärften. 2015 erreichte die DF bei der Folketingswahl dann 21,1 Prozent. Mittlerweile ist die Partei aber marginalisiert: Bei der Wahl am 1. November 2022 kam sie nur noch auf 2,6 Prozent. Im EU-Parlament hat sie nur noch einen Abgeordneten. Dazu beigetragen hat, neben der neuen rechtspopulistischen Konkurrenz durch die Danmarksdemokraterne von Inger Støjberg, auch die Politik der sozialdemokratischen Regierungschefin Mette Frederiksen, die eine genuin sozialdemokratische Orientierung auf soziale Sicherheit für breite Bevölkerungskreise mit migrationsfeindlichen Prämissen verband. Ein Höhepunkt der rassistischen Politik war das sogenannte Ghetto-Gesetz von 2018, das besagte, dass in ausgewählten benachteiligten Stadtteilen der Anteil „nicht-westlicher“ Einwohner 50 Prozent nicht überschreiten dürfe. 2021 wurde das Gesetz mit der Einführung einer 30-Prozent-Quote weiter verschärft.Die extreme Rechte im EU-ParlamentIm EU-Parlament sind die europäischen Rechtsaußenparteien in unterschiedlichen Fraktionen organisiert. Einzig der ungarische Fidesz von Viktor Orbán war aus machtpolitischem Kalkül über Jahre Mitglied der konservativen Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), dem Zusammenschluss, dem etwa auch CDU und CSU angehören. Trotz öffentlicher Kritik und interner Streitigkeiten wegen des autoritären Kurses der Orbán-Regierung kam der Fidesz erst im Jahr 2021 durch Austritt dem bevorstehenden Ausschluss wegen inhaltlicher Differenzen zuvor.Der Großteil der extrem rechten Parteien im EU-Parlament ist derzeit verbündet in der Fraktion Identität und Demokratie (ID) oder in der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR). Gilt Letztere, die sich selbst als euroskeptische Mitte-Rechts-Fraktion bezeichnet, auch in der Öffentlichkeit als etwas „moderater“ als die extrem rechte ID, so sind in der Realität weniger gravierende Unterschiede festzustellen: Vielmehr können beide Zusammenschlüsse als „rechte Beutegemeinschaften“ bezeichnet werden, die instrumentell mit EU-Mitteln eine EU-feindliche und nationalistisch-antisozialistische Politik betreiben.Allerdings haben sich in letzter Zeit sowohl die Kräfteverhältnisse in der europäischen extremen Rechten verschoben als auch deren Bündnisbestrebungen: So verlor die österreichische FPÖ durch den Skandal um das „Ibiza-Video“ und das darauf folgende Scheitern ihrer gemeinsamen Regierung mit den Konservativen eine Zeitlang massiv an Einfluss. Inzwischen hat sie allerdings wieder dazugewonnen und lag Ende 2022 in Umfragen gemeinsam mit der SPÖ auf Platz eins. Italiens rechtem Poster-Boy Matteo Salvini erging es aufgrund fataler Fehleinschätzungen seiner Strahlkraft ähnlich. Aufgrund ihrer Wahlerfolge an Bedeutung gewonnen haben sowohl die Sverigedemokraterna als auch die Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni. Dass die langjährige politische Resilienz gegen rechtspopulistische Parteien auf der iberischen Halbinsel leider verschwunden ist, zeigten die Erfolge der spanischen Vox-Partei. Alle drei Parteien, auch die „Brüder Italiens“, sind übrigens Teil der EKR. Aber durch den Austritt von Orbáns Fidesz aus der EVP könnten die Karten neu gemischt werden. Im April 2021 lud Orbán den polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki von der PiS-Partei und den Parteichef der italienischen Lega, Matteo Salvini, nach Budapest ein, um über die Möglichkeiten einer neuen rechten Allianz im Europaparlament zu sprechen. Ende 2021 war es dann die polnische PiS — bislang stärkste Partei in der EKR-Fraktion –, die in Warschau zum weiteren Austausch einlud, und Anfang des Jahres 2022 setzte sich diese Absprache auf Einladung der spanischen extrem rechten Vox-Partei in Madrid fort. Allerdings führte der kurze Zeit später entfesselte russische Angriffskrieg auf die Ukraine zu Unklarheiten und Widersprüchen zwischen den Parteien, die sich an der erwünschten Allianzbildung beteiligen wollten. Während Orbán nicht deutlich auf Distanz zu Putin geht und auch Parteien wie die Lega oder die FPÖ traditionell eine große Nähe zum russischen Regime erkennen lassen, sieht sich Polen massiv von Russland bedroht. Unklar und aktuell zudem auch unwahrscheinlich erscheint deshalb der rechte Traum von einer neuen rechten Fraktion im Europaparlament, die in der Lage wäre, die bislang aufgesplitteten Lager unter einem gemeinsamen neuen Dach zu vereinigen.Neuer extrem rechter Machtblock?Eine Gefahr für Europa durch die extreme Rechte liegt auch in deren wachsendem Einfluss auf die EU. Die Wahl von Giorgia Meloni zur italienischen Ministerpräsidentin stellt einen symbolischen Dammbruch für die extreme Rechte in ganz Europa dar: In einem Gründungsmitglied der EU kam mit einer Drei-Parteien-Koalition eine der am weitesten rechts stehenden Regierungen Europas an die Macht. An der Spitze der Regierung steht mit Meloni eine Frau, deren politische Biografie in der faschistischen Rechten Italiens wurzelt und die in der Vergangenheit erklärte, sie habe „ein entspanntes Verhältnis zum Faschismus“, den sie einfach als einen Abschnitt der nationalen Geschichte begreife. Zwar habe Mussolini Fehler gemacht, etwa die Rassengesetze eingeführt und den Kriegseintritt vollzogen, aber er habe auch „eine Menge vollbracht“. Mit Italien wird erstmals einer der drei einwohnerstärksten EU-Staaten, der über ein entsprechendes politisches Gewicht verfügt, in den EU-Gremien von einer Regierung der äußersten Rechten vertreten. Zumindest bei einzelnen Themen ist durchaus denkbar, dass Italien auf EU-Ebene künftig eng mit Ungarn und Polen kooperiert, die beide ebenfalls sehr weit rechts stehende Regierungen haben. Zwar reicht eine solche Kooperation noch nicht für eine Blockadepolitik, für die mindestens vier EU-Mitglieder mit insgesamt 35 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung nötig wären; allerdings ist nicht auszuschließen, dass punktuell durch Einbindung weiterer Staaten eine solche Blockade in Reichweite käme. Davon abgesehen sind sowohl in Frankreich als auch in Italien Bestrebungen der extremen Rechten deutlich erkennbar, sich von nicht mehrheitsfähigen EU-Austrittsforderungen zu lösen und mit konsensfähigen Parolen weitere Einbrüche in die gesellschaftliche Mitte zu vollziehen. Schwerpunkt 7789 Mon, 13 Feb 2023 12:37:51 +0100 LOTTA Droht ein extrem rechter Block in der „Europäischen Union“? Pia Gomez, Torben Heine Die multiplen Krisenerscheinungen verstärken in Europa die politische Polarisierung und öffnen Räume für eine modernisierte extreme Rechte. Rechtsaußen-Parteien gewannen in vielen EU-Ländern an Einfluss und sind mittlerweile sogar Teil von Regierungskoalitionen. Aktuell wird von Rechtsaußen versucht, neue Allianzen auf EU-Ebene zu knüpfen und einen einflussreichen antiliberalen Machtblock verbündeter Natio­nalist:innen zu formieren. Noch verhindert besonders der russische Angriffskrieg auf die Ukraine eine solche europäische Allianz. Die multiplen Krisenerscheinungen in Europa und der Welt sind Wasser auf die Mühlen extrem rechter Parteien: Der Ausnahmezustand wird herbeigesehnt und herbeigeredet, um sich nach dem Motto „Das eigene Land zuerst“ (AfD) als autoritären „nationalen Ordnungsfaktor“ ins Spiel zu bringen. Reaktionäre Antworten auf Probleme wie die Klima-Krise paaren sich mit einem rechten populistischen Kulturkampf, der unter Inanspruchnahme der Meinungsfreiheit Hetze gegen Minderheitenrechte und plurale gesellschaftliche Ausdifferenzierung betreibt. Deutlich wird auch, dass das Heilsversprechen eines neuen grünen Kapitalismus nicht ein Eindämmen von ungleichen Verteilungsverhältnissen und Wachstumszwängen beinhaltet. Doch Wohlstandschauvinismus und Egoismus bieten stets politische Anknüpfungspunkte für rechte Hetzkampagnen.Von Rechtsaußen in die MitteNach der Implosion der Ostblock-Staaten prägte eine neoliberale Deregulierungspolitik das wirtschaftliche und politische Geschehen in Europa, das die Unterschiede zwischen arm und reich weiter wachsen ließ. In den meisten osteuropäischen Staaten der erweiterten EU grassierten Ethno-Nationalismus und Korruption. In Westeuropa gingen in vielen Ländern wirtschaftsliberale Globalisierungskonzepte einher mit gesellschaftlichen Liberalisierungs- und Pluralisierungstendenzen. Doch eine Gegenüberstellung von ethno-nationalistischem Osteuropa und neoliberal-rechtspopulistischem Westeuropa beschreibt den aktuellen Zustand der europäischen extremen Rechten nicht mehr richtig — vielmehr griffen rechtspopulistische Parolen gegen die liberale Demokratie und das Phantasma eines von den „politischen Eliten“ betriebenen „großen Austausches“ mit der Zeit auch in vielen westlichen EU-Ländern um sich. Fehlende sichtbar linke Politikangebote verstärkten die Wahrnehmung in den nationalen Öffentlichkeiten, es gebe lediglich die Alternative zwischen neoliberal deregulierten „offenen Märkten“ einerseits und dem Kampf um „nationale Kontrolle“ andererseits.Die Kampagne der englischen Torys für einen BREXIT („take back control!“) versinnbildlichte diese öffentlich anknüpfungsfähige Scheinalternative. Die konservative Regierung hatte 2016, herausgefordert durch die rechtspopulistische UK Independence Party, ein Referendum über den Austritt aus der EU durchgeführt. Das „Leave“-Lager der Torys, dessen prominentester Befürworter Boris Johnson war, übernahm nicht nur das rechtspopulistische Narrativ der die Souveränität und den Reichtum des Landes bedrohenden EU-Bürokratie, sondern setzte ebenso auf migrationsfeindliche Töne. Als vorbildlich für viele Rechtsaußenparteien gilt die Forderung des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán nach einer „illiberalen Demokratie“ — einer faktischen Hinwendung zu einem autoritären Regierungsstil und der Abwehr von menschenrechtsorientierten Liberalisierungen. Dies geht einher mit der Beschränkung der Pluralität und Unabhängigkeit der Medien, einem systematisch betriebenen Abbau von Checks-and-balances-Mechanismen, stärkerer politischer Kontrolle der Justiz sowie dem Ausbau der Macht der Exekutive.Dass auch die Sozialdemokratie nicht frei ist von Blinken nach rechts, zeigen die schwedischen Sozialdemokrat:innen: In einem Land, in dem früher die liberalste Einwanderungspolitik in Europa betrieben wurde, entwickelte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Schwedens unter ihrer Vorsitzenden Magdalena Andersson eine rassistische Politik der Ausgrenzung, um den extrem rechten Sverigedemokraterna (SD) Wahlstimmen abzunehmen. Trotzdem — oder gerade deswegen — wurden die SD in den vergangenen zehn Jahren immer populärer, so dass die neue bürgerliche Minderheitsregierung nun auf ihre Unterstützung angewiesen ist. Als Vorbild für den Kurs der schwedischen Sozialdemokrat:innen können in gewisser Weise die Genoss:innen im Nachbarland Dänemark gelten. Dort war die 1995 gegründete Dansk Folkeparti (DF) zu einer einflussreichen politischen Kraft aufgestiegen, die mehrere konservativ-liberale Minderheitsregierungen stützte, mit der Folge, dass diese, um Konzessionen an die DF zu machen, die Migrations- und Asylgesetze immer weiter verschärften. 2015 erreichte die DF bei der Folketingswahl dann 21,1 Prozent. Mittlerweile ist die Partei aber marginalisiert: Bei der Wahl am 1. November 2022 kam sie nur noch auf 2,6 Prozent. Im EU-Parlament hat sie nur noch einen Abgeordneten. Dazu beigetragen hat, neben der neuen rechtspopulistischen Konkurrenz durch die Danmarksdemokraterne von Inger Støjberg, auch die Politik der sozialdemokratischen Regierungschefin Mette Frederiksen, die eine genuin sozialdemokratische Orientierung auf soziale Sicherheit für breite Bevölkerungskreise mit migrationsfeindlichen Prämissen verband. Ein Höhepunkt der rassistischen Politik war das sogenannte Ghetto-Gesetz von 2018, das besagte, dass in ausgewählten benachteiligten Stadtteilen der Anteil „nicht-westlicher“ Einwohner 50 Prozent nicht überschreiten dürfe. 2021 wurde das Gesetz mit der Einführung einer 30-Prozent-Quote weiter verschärft.Die extreme Rechte im EU-ParlamentIm EU-Parlament sind die europäischen Rechtsaußenparteien in unterschiedlichen Fraktionen organisiert. Einzig der ungarische Fidesz von Viktor Orbán war aus machtpolitischem Kalkül über Jahre Mitglied der konservativen Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), dem Zusammenschluss, dem etwa auch CDU und CSU angehören. Trotz öffentlicher Kritik und interner Streitigkeiten wegen des autoritären Kurses der Orbán-Regierung kam der Fidesz erst im Jahr 2021 durch Austritt dem bevorstehenden Ausschluss wegen inhaltlicher Differenzen zuvor.Der Großteil der extrem rechten Parteien im EU-Parlament ist derzeit verbündet in der Fraktion Identität und Demokratie (ID) oder in der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR). Gilt Letztere, die sich selbst als euroskeptische Mitte-Rechts-Fraktion bezeichnet, auch in der Öffentlichkeit als etwas „moderater“ als die extrem rechte ID, so sind in der Realität weniger gravierende Unterschiede festzustellen: Vielmehr können beide Zusammenschlüsse als „rechte Beutegemeinschaften“ bezeichnet werden, die instrumentell mit EU-Mitteln eine EU-feindliche und nationalistisch-antisozialistische Politik betreiben.Allerdings haben sich in letzter Zeit sowohl die Kräfteverhältnisse in der europäischen extremen Rechten verschoben als auch deren Bündnisbestrebungen: So verlor die österreichische FPÖ durch den Skandal um das „Ibiza-Video“ und das darauf folgende Scheitern ihrer gemeinsamen Regierung mit den Konservativen eine Zeitlang massiv an Einfluss. Inzwischen hat sie allerdings wieder dazugewonnen und lag Ende 2022 in Umfragen gemeinsam mit der SPÖ auf Platz eins. Italiens rechtem Poster-Boy Matteo Salvini erging es aufgrund fataler Fehleinschätzungen seiner Strahlkraft ähnlich. Aufgrund ihrer Wahlerfolge an Bedeutung gewonnen haben sowohl die Sverigedemokraterna als auch die Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni. Dass die langjährige politische Resilienz gegen rechtspopulistische Parteien auf der iberischen Halbinsel leider verschwunden ist, zeigten die Erfolge der spanischen Vox-Partei. Alle drei Parteien, auch die „Brüder Italiens“, sind übrigens Teil der EKR. Aber durch den Austritt von Orbáns Fidesz aus der EVP könnten die Karten neu gemischt werden. Im April 2021 lud Orbán den polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki von der PiS-Partei und den Parteichef der italienischen Lega, Matteo Salvini, nach Budapest ein, um über die Möglichkeiten einer neuen rechten Allianz im Europaparlament zu sprechen. Ende 2021 war es dann die polnische PiS — bislang stärkste Partei in der EKR-Fraktion –, die in Warschau zum weiteren Austausch einlud, und Anfang des Jahres 2022 setzte sich diese Absprache auf Einladung der spanischen extrem rechten Vox-Partei in Madrid fort. Allerdings führte der kurze Zeit später entfesselte russische Angriffskrieg auf die Ukraine zu Unklarheiten und Widersprüchen zwischen den Parteien, die sich an der erwünschten Allianzbildung beteiligen wollten. Während Orbán nicht deutlich auf Distanz zu Putin geht und auch Parteien wie die Lega oder die FPÖ traditionell eine große Nähe zum russischen Regime erkennen lassen, sieht sich Polen massiv von Russland bedroht. Unklar und aktuell zudem auch unwahrscheinlich erscheint deshalb der rechte Traum von einer neuen rechten Fraktion im Europaparlament, die in der Lage wäre, die bislang aufgesplitteten Lager unter einem gemeinsamen neuen Dach zu vereinigen.Neuer extrem rechter Machtblock?Eine Gefahr für Europa durch die extreme Rechte liegt auch in deren wachsendem Einfluss auf die EU. Die Wahl von Giorgia Meloni zur italienischen Ministerpräsidentin stellt einen symbolischen Dammbruch für die extreme Rechte in ganz Europa dar: In einem Gründungsmitglied der EU kam mit einer Drei-Parteien-Koalition eine der am weitesten rechts stehenden Regierungen Europas an die Macht. An der Spitze der Regierung steht mit Meloni eine Frau, deren politische Biografie in der faschistischen Rechten Italiens wurzelt und die in der Vergangenheit erklärte, sie habe „ein entspanntes Verhältnis zum Faschismus“, den sie einfach als einen Abschnitt der nationalen Geschichte begreife. Zwar habe Mussolini Fehler gemacht, etwa die Rassengesetze eingeführt und den Kriegseintritt vollzogen, aber er habe auch „eine Menge vollbracht“. Mit Italien wird erstmals einer der drei einwohnerstärksten EU-Staaten, der über ein entsprechendes politisches Gewicht verfügt, in den EU-Gremien von einer Regierung der äußersten Rechten vertreten. Zumindest bei einzelnen Themen ist durchaus denkbar, dass Italien auf EU-Ebene künftig eng mit Ungarn und Polen kooperiert, die beide ebenfalls sehr weit rechts stehende Regierungen haben. Zwar reicht eine solche Kooperation noch nicht für eine Blockadepolitik, für die mindestens vier EU-Mitglieder mit insgesamt 35 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung nötig wären; allerdings ist nicht auszuschließen, dass punktuell durch Einbindung weiterer Staaten eine solche Blockade in Reichweite käme. Davon abgesehen sind sowohl in Frankreich als auch in Italien Bestrebungen der extremen Rechten deutlich erkennbar, sich von nicht mehrheitsfähigen EU-Austrittsforderungen zu lösen und mit konsensfähigen Parolen weitere Einbrüche in die gesellschaftliche Mitte zu vollziehen. 2023-02-13T12:37:51+01:00 Wahlerfolge der extremen Rechten in Europa | Eine Einleitung in den Schwerpunkt https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/89/wahlerfolge-der-extremen-rechten-europa Europäische Rechtsaußen-Parteien greifen nach der Regierungsmacht — oder kommen ihr zumindest gefährlich nahe. Am 10. April 2022 erreichte Marine Le Pen, Kandidatin des Rassemblement National (RN) im ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahl den zweiten Platz. Sie zog in die Stichwahl ein, wo sie, wie bereits 2017, Emmanuel Macron unterlag. Einige politische Beobachter*innen hatten zuvor befürchtet, dass Le Pen im ersten Wahlgang durchaus auf Platz 1 hätte landen können. Wieder einmal konnte sich aber schlussendlich ein in weiten Teilen der französischen Gesellschaft wenig populärer neoliberaler Politiker durchsetzen — als „kleineres Übel“.Dass die extreme Rechte in Form des RN (früher Front National) in den letzten 20 Jahren immer wieder in die Stichwahl gelangte, ist beunruhigend; nicht nur in Bezug auf die Auswirkungen der rechten Mobilisierung auf die französische Gesellschaft, sondern auch auf die politischen Verhältnisse in der unter Spannung stehenden Europäischen Union, in der Frankreich eines der einflussreichsten Mitgliedsländer ist. In einem anderen EU-Gründungsland, Italien, wurde im Oktober 2022 mit Giorgia Meloni sogar eine Ministerpräsidentin vereidigt, die aus der faschistischen Rechten stammt und nun einer Koalition von drei ultranationalistischen und rechtspopulistischen Parteien vorsteht.Wir nehmen die jüngsten Wahlerfolge der europäischen Rechtsaußen-Parteien — zu denen auch das starke Abschneiden der Sverigedemokraterna bei der schwedischen Reichstagswahl im September 2022 zählt — zum Anlass, um uns ausführlich mit der extremen Rechten in Europa zu befassen. Während es in unserem letzten Europa-Schwerpunkt (LOTTA #67) auch um Europakonzeptionen und länderübergreifende Kooperationen neonazistischer bzw. neofaschistischer Gruppen ging, liegt diesmal der Fokus ausschließlich auf den Parteiformationen. Wir werfen einen Blick auf ausgewählte EU-Länder, fragen nach den Bedingungen für die Erfolge der Rechtsaußen-Parteien sowie den daraus folgenden politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen. Zudem werfen wir die Frage auf, ob diese Entwicklung perspektivisch zu einem Auseinanderbrechen der Europäischen Union führen könnte, weil „Exit“-Bestrebungen zunehmen oder weil mehrere extrem rechts regierte Mitgliedsländer eine Blockade-Formation bilden könnten.Im Opener-Artikel fragen Pia Gomez und Torben Heine, inwiefern es den Rechtsaußen-Parteien gelingt, eine neue Allianz auf Ebene des EU-Parlaments oder der von ihnen regierten Mitgliedsländer zu knüpfen. Jens Renner, ehemaliger Redakteur von analyse & kritik sowie jahrzehntelanger Beobachter der italienischen Verhältnisse, analysiert den Wahlerfolg von Melonis „Brüder Italiens“.   Anna Diegelmann stellt dar, wie den Sverigedemokraterna der Aufstieg gelang, der es ihnen ermöglichte, zentrale politische Forderungen gegenüber der von ihr tolerierten Minderheitsregierung durchzusetzen. An Ungarn und Polen kann beobachtet werden, wie Rechtsaußen-Regierungen ihre Form der „illiberalen Demokratie“ durchsetzen und insbesondere die Rechte gesellschaftlicher Minderheiten beschneiden. Jörg Kronauer bietet einen Länder-Vergleich.   Rainer Roeser zeigt, wie sich die AfD in der europäischen Rechtsaußen-Landschaft positioniert, in der sie sich aufgrund ihrer „Dexit“-Forderung zunehmend isoliert.     Schwerpunkt 7788 Mon, 13 Feb 2023 12:35:21 +0100 LOTTA Wahlerfolge der extremen Rechten in Europa Britta Kremers Europäische Rechtsaußen-Parteien greifen nach der Regierungsmacht — oder kommen ihr zumindest gefährlich nahe. Am 10. April 2022 erreichte Marine Le Pen, Kandidatin des Rassemblement National (RN) im ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahl den zweiten Platz. Sie zog in die Stichwahl ein, wo sie, wie bereits 2017, Emmanuel Macron unterlag. Einige politische Beobachter*innen hatten zuvor befürchtet, dass Le Pen im ersten Wahlgang durchaus auf Platz 1 hätte landen können. Wieder einmal konnte sich aber schlussendlich ein in weiten Teilen der französischen Gesellschaft wenig populärer neoliberaler Politiker durchsetzen — als „kleineres Übel“.Dass die extreme Rechte in Form des RN (früher Front National) in den letzten 20 Jahren immer wieder in die Stichwahl gelangte, ist beunruhigend; nicht nur in Bezug auf die Auswirkungen der rechten Mobilisierung auf die französische Gesellschaft, sondern auch auf die politischen Verhältnisse in der unter Spannung stehenden Europäischen Union, in der Frankreich eines der einflussreichsten Mitgliedsländer ist. In einem anderen EU-Gründungsland, Italien, wurde im Oktober 2022 mit Giorgia Meloni sogar eine Ministerpräsidentin vereidigt, die aus der faschistischen Rechten stammt und nun einer Koalition von drei ultranationalistischen und rechtspopulistischen Parteien vorsteht.Wir nehmen die jüngsten Wahlerfolge der europäischen Rechtsaußen-Parteien — zu denen auch das starke Abschneiden der Sverigedemokraterna bei der schwedischen Reichstagswahl im September 2022 zählt — zum Anlass, um uns ausführlich mit der extremen Rechten in Europa zu befassen. Während es in unserem letzten Europa-Schwerpunkt (LOTTA #67) auch um Europakonzeptionen und länderübergreifende Kooperationen neonazistischer bzw. neofaschistischer Gruppen ging, liegt diesmal der Fokus ausschließlich auf den Parteiformationen. Wir werfen einen Blick auf ausgewählte EU-Länder, fragen nach den Bedingungen für die Erfolge der Rechtsaußen-Parteien sowie den daraus folgenden politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen. Zudem werfen wir die Frage auf, ob diese Entwicklung perspektivisch zu einem Auseinanderbrechen der Europäischen Union führen könnte, weil „Exit“-Bestrebungen zunehmen oder weil mehrere extrem rechts regierte Mitgliedsländer eine Blockade-Formation bilden könnten.Im Opener-Artikel fragen Pia Gomez und Torben Heine, inwiefern es den Rechtsaußen-Parteien gelingt, eine neue Allianz auf Ebene des EU-Parlaments oder der von ihnen regierten Mitgliedsländer zu knüpfen. Jens Renner, ehemaliger Redakteur von analyse & kritik sowie jahrzehntelanger Beobachter der italienischen Verhältnisse, analysiert den Wahlerfolg von Melonis „Brüder Italiens“.   Anna Diegelmann stellt dar, wie den Sverigedemokraterna der Aufstieg gelang, der es ihnen ermöglichte, zentrale politische Forderungen gegenüber der von ihr tolerierten Minderheitsregierung durchzusetzen. An Ungarn und Polen kann beobachtet werden, wie Rechtsaußen-Regierungen ihre Form der „illiberalen Demokratie“ durchsetzen und insbesondere die Rechte gesellschaftlicher Minderheiten beschneiden. Jörg Kronauer bietet einen Länder-Vergleich.   Rainer Roeser zeigt, wie sich die AfD in der europäischen Rechtsaußen-Landschaft positioniert, in der sie sich aufgrund ihrer „Dexit“-Forderung zunehmend isoliert.     2023-02-13T12:35:21+01:00 Knast statt Gerichtsbühne | Urteil im Prozess gegen Franco Albrecht https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/88/knast-statt-gerichtsb-hne Der Offenbacher Oberleutnant der Bundeswehr Franco Albrecht wurde nach über einem Jahr Prozess zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt, weil das Gericht davon überzeugt war, dass er rechtsterroristische Anschläge geplant hat. Offene Fragen bleiben aber auch nach Abschluss des Verfahrens.Die Bundeswehr steht politisch gerade hoch im Kurs. Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gibt es wieder einen breiten gesellschaftlichen Konsens für die Notwendigkeit einer deutschen Armee. Die Militärausgaben wurden im Frühjahr drastisch erhöht. Fast vergessen scheinen vor diesem Hintergrund die Skandale der letzten Jahre, die auf eine beachtliche Menge an rassistischen oder neonazistischen „Einzelfällen“ und Netzwerken in der Bundeswehr aufmerksam machten. Dass extrem rechte Aktivitäten in der Armee zuletzt überhaupt wieder Thema wurden, nahm seinen Anfang mit der Verhaftung des Oberleutnants Franco Albrecht im April 2017.Schon einige Monate zuvor war Albrecht am Wiener Flughafen kurzzeitig festgenommen worden. Der Oberleutnant hatte dort auf der Rückreise vom „Ball der Offiziere“ eine geladene Pistole versteckt. Er wollte diese ausgerechnet am Tag des „Akademikerballs“ aus dem Versteck holen, wurde dabei jedoch erwischt. Der Wiener „Akademikerball“ fungiert als rechte Netzwerkveranstaltung und wird stets von Gegenprotesten begleitet. Erneut verhaftet wurde Albrecht im April 2017, da die Behörden in der Zwischenzeit festgestellt hatten, dass er eine geheime Tarnidentität als syrischer Geflüchteter „David Benjamin“ besaß und aus einer extrem rechten Gesinnung heraus Mordanschläge auf Politikerinnen und Aktivistinnen begehen wollte. Nach mehreren Jahren hin und her durch zwei Instanzen wurde die Anklage gegen Albrecht, der damals nach sieben Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, schließlich zugelassen und im Mai 2021 begann der Prozess vor dem Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt (siehe LOTTA #83, S. 25).Antisemitisches LaientheaterDie Ausgangslage für den Prozess war für Albrecht eher positiv: ein lange verschleppter Verfahrensbeginn, ein Gericht, das zur Zulassung der Klage gezwungen werden musste, und der juristisch umstrittene Tatvorwurf der Terrorvorbereitung (§89a StGB), der nur schwer nachweisbar ist. Albrecht hätte diese Situation nutzen können, um sich nicht einzulassen. Von Beginn an nutzte er den Gerichtssaal jedoch als Bühne für seine rechte Ideologie. Die minderschweren Tatvorwürfe räumte er weitgehend ein, wobei er bis zum Ende nicht sagen wollte, wo sich seine weiteren Schusswaffen befinden. Den Vorwurf der Anschlagsvorbereitung stritt er ab. Die Erklärung für seine Taten: Er habe sich auf einen drohenden Bürgerkrieg vorbereiten wollen. Ebenso stritt er seine extrem rechte Ideologie ab und behauptete stets, alle Menschen zu lieben und Frieden zu wollen.Dass Albrecht eine extrem rechte und insbesondere antisemitische Ideologie vertritt, gespickt mit Verschwörungsglauben und einem guten Schuss Esoterik, zeigte sich im Gerichtssaal immer wieder: zum einen durch Sprachmemos von seinem Handy und im Prozess verlesene Notizen, zum anderen durch verschwörungsideologische Ausfälle im Verfahren selbst, die keine Interpretationsspielräume offen ließen. So verteidigte er einen Audiomitschnitt mit seiner Äußerung, die USA würden von „den Juden“ kontrolliert, damit, dass er sich intensiv mit deren Einfluss auf das „weltpolitische Geschehen“ auseinandergesetzt habe. Noch zum Ende des Prozesses bezeichnete er etwa den antisemitischen VerschwörungsideologenDavid Icke als seinen „Lehrmeister“. Flankiert wurde er dabei von seinen beiden Rechtsanwälten Moritz Schmitt-Fricke und Johannes Hock aus Mainz. Vor allem Schmitt-Fricke fiel immer wieder selbst mit verschwörungsideologischen Andeutungen auf und nutzte den Gerichtssaal für einen Angriff auf die Flüchtlingspolitik. Ansonsten blieben beide Anwälte eher stumm und überließen es ihrem Mandanten, vermutlich auf dessen eigenen Wunsch, sich selbst zu verteidigen. Anders ist dieses anwaltliche Totalversagen nicht zu erklären.Nach über einem Jahr Verhandlung und 39 Prozesstagen endete Albrechts Schauspiel. Das Gericht verurteilte ihn nicht nur für die vergleichsweise kleineren Waffen- und Betrugsdelikte, sondern auch wegen der Vorbereitung einer „schweren staatsgefährdenden Gewalttat“. Es zeigte sich davon überzeugt, dass Albrecht spätestens seit Ende 2015 fest entschlossen war, aus einer „rassistischen, rechtsextremen und völkisch-nationalistischen Gesinnung“ heraus Menschen zu töten. Insbesondere seinen Antisemitismus betonte das Gericht. Es geht davon aus, dass er zwar einen genauen Anschlagsplan noch nicht konkretisiert hatte, aber so fest dazu entschlossen war, Menschen, die aus seiner Sicht verantwortlich für eine vermeintliche „Umvolkung“ seien, zu töten, dass er hierfür umfangreiche Vorbereitungen getroffen hatte, wie etwa die Beschaffung von Waffen und das Ausspionieren möglicher Ziele. Lediglich einen Plan, dies unter der Tarnidentität eines syrischen Geflüchteten zu tun, sah es nicht. Das Gericht verurteilte Albrecht zu einer Haftstrafe von fünf Jahren und drei Monaten. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, Albrechts Anwälte kündigten an, Revision einzulegen.Offene FragenMit dem Urteil einer über fünfjährigen Haftstrafe besteht nun die Gefahr, dass der gesamte „Komplex Franco A.“ ad acta gelegt wird. Der Schuldige, der Anschläge plante, sitzt schließlich in Haft. Doch stellte sich schon vor Prozessbeginn die Frage, ob noch weitere Personen in seine Anschlagspläne eingeweiht waren.Da wäre beispielsweise Maurice R., Bundeswehrreservist aus Frankfurt, seit Jahren wohnhaft in Wien und dort scheinbar eingebunden in rechte Netzwerke. Zumindest zeigen ihn Fotos in geselliger Runde mit FPÖ-Politikern mit damals guten Kontakten in die Parteispitze. Ihn besuchte Albrecht 2017 beim „Ball der Offiziere“. Sowohl bevor als auch nachdem er damals auf der Rückreise die Waffe auf einer Behindertentoilette versteckte, telefonierte Albrecht mit R. Ein Bild des Verstecks postete er in eine gemeinsame Whats-App-Gruppe. Maurice R. kommentierte das Bild der Toilette mit einem Smiley. Warum die Telefonate, das Foto und der Smiley, wenn er von der Waffe nichts wusste? Dann wäre da noch Maximilian Tischer, Bundeswehrkamerad von Albrecht und Bruder seiner Verlobten, Vorstand der AfD-Jugend in Sachsen-Anhalt und zeitweise Mitarbeiter für den AfD-Abgeordneten Jan Nolte im Bundestag. Auch er war in Wien mit von der Partie, will von der Waffe aber nichts gewusst haben. Bei einer Hausdurchsuchung fanden die Behörden bei ihm eine Liste mit Namen und Adressen von Politikerinnen und Aktivst*innen, auch linker Aktivistinnen aus dem Rhein-Main-Gebiet. Die Kategorisierung der Namen erinnert stark daran, wie der Massenmörder von Oslo und Utøya 2011 vorschlug, seine Feinde einzuteilen. Zudem wies sie Überschneidungen mit den Anschlagszielen von Albrecht auf.Zu nennen wären außerdem Matthias F. und Christoph K., Jugendfreunde von Albrecht, die nicht nur selbst durch eine rechte Ideologie auffielen, sondern beide für ihn zeitweise seine gestohlenen (Kriegs-)Waffen versteckten. Wegen der Waffendelikte wurden sie angeklagt, von Anschlagsplänen wollen aber auch sie nichts gewusst haben. Während Matthias F. hierfür schon 2019 zu einer Bewährungs- und Geldstrafe über 2.500 Euro verurteilt wurde, wurde Christoph K. im Frühjahr dieses Jahres freigesprochen. Zwar hatte er in einer Vernehmung das kurzzeitige Aufbewahren der Waffen von Albrecht zugegeben. Da ihn der vernehmende Polizist jedoch daraufhin nicht als Verdächtigen belehrte, wurde er wegen Verfahrensfehlern freigesprochen.Es war nicht das einzige Mal, dass das ermittelnde BKA Fehler machte. Erst durch zweimal von Gerichten angeordnete Nachermittlungen kam heraus, dass Albrecht die Waffe aus Wien bereits sieben Monate vorher gekauft und sich im selben Monat illegal Zutritt zur Tiefgarage der Amadeu Antonio Stiftung verschafft hatte, um dort parkende Autos auszukundschaften. Auch eine Hütte im Wald bei Straßburg, die Albrecht laut Aussage seines Freundes Alexander Reiner J., Bruder im Geiste bezüglich Verschwörungsideologien, besessen haben soll, wurde nie gefunden. Ebenso wenig die Waffen, deren illegalen Besitz Albrecht zugegeben hat, darunter ein Sturmgewehr. Womöglich liegen sie noch irgendwo bereit.Rolle der GeheimdiensteGänzlich unbeachtet im Prozess blieb die Rolle der Geheimdienste, obwohl auch diese Fragen aufwirft. So erscheint es zwar nicht unmöglich, jedoch nur schwer vorstellbar, dass Geheimdienste den Namen Franco Albrecht erstmals durch die Festnahme am Wiener Flughafen hörten. 2016 soll der Oberleutnant der Bundeswehr an einem Treffen des Jagsthausener Kreises teilgenommen haben, einem verschwiegenen Vernetzungszirkel, in dem sich seit Jahrzehnten Personen aus extrem rechten Parteien, Publizistik, Militär und Wirtschaft vernetzen. Laut dem Journalisten Erich Schmidt-Eenboom sollen auch Mitarbeiter*innen deutscher Geheimdienste in der Vergangenheit rege teilgenommen haben. Vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet wird das Treffen hingegen nicht. 2016 soll Albrecht dort den Kontakt kennengelernt haben, der dazu führte, dass er wenige Monate später beim „Preußenabend“ in München eine Rede hielt, wie er im Prozess zugab. In dieser bekannte er sich, Rassist und Antisemit zu sein, und rief zum Kampf gegen das System auf. Der „Preußenabend“ ist ein fester Termin der Münchener rechtskonservativen bis extrem rechten Szene. Hat kein*e Geheimdienst-Mitarbeiter*in den Oberleutnant dabei beobachtet, wie er dort zum Kampf gegen das System aufrief? Und schließlich bleibt auch die Verhaftung Albrechts am Wiener Flughafen merkwürdig. Dass jemand an einem hochgesicherten Ort wie einem Flughafen eine geladene Pistole versteckt und trotzdem wenige Stunden nach der Verhaftung wieder gehen kann, wirft Fragen auf. Hinter dem Handeln von Neonazis sollte nicht stets ein Geheimdienst vermutet werden. Im Fall von Albrecht stellt sich aber zumindest die Frage, seit wann die Dienste seinen Namen kannten.Bezugspunkt Franco AlbrechtAls Albrecht eher durch Zufall aufflog, führte das in einer Kettenreaktion auch zur Enttarnung von Gruppen wie „Nordkreuz“, anderen Neonazi-Preppern und einer schwer überschaubaren Menge an rechten Soldat*innen. Ob dank der neuen Begeisterung für die Bundeswehr auch weiterhin ein Augenmerk auf solche Umtriebe gelegt wird, bleibt fraglich. Zugleich lebt rechter Terror davon, dass Rechtsterrorist*innen voneinander lernen und sich aufeinander beziehen. Der Neonazi Franco Albrecht hat anderen rechten Kameraden vorgemacht, wie leicht es ist, sich in der Bundeswehr Waffen zu beschaffen und Anschläge zu planen. Zumindest einen Anhänger hat er offenbar auch außerhalb der Armee gefunden: Der Vater des Attentäters von Hanau, der seinem Sohn in Sachen rechter Ideologie nur wenig nachsteht, zitierte in zwei Gerichtsprozessen wegen Beleidigungen Albrechts Anwalt Schmitt-Fricke mit einer ablehnenden Bemerkung über die Bundesanwaltschaft und bezeichnete Albrecht selbst in einem der Prozesse als seinen „Mitstreiter“. Extreme Rechte 7785 Thu, 01 Dec 2022 14:10:46 +0100 LOTTA Knast statt Gerichtsbühne Cihan Balıkçı Der Offenbacher Oberleutnant der Bundeswehr Franco Albrecht wurde nach über einem Jahr Prozess zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt, weil das Gericht davon überzeugt war, dass er rechtsterroristische Anschläge geplant hat. Offene Fragen bleiben aber auch nach Abschluss des Verfahrens.Die Bundeswehr steht politisch gerade hoch im Kurs. Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gibt es wieder einen breiten gesellschaftlichen Konsens für die Notwendigkeit einer deutschen Armee. Die Militärausgaben wurden im Frühjahr drastisch erhöht. Fast vergessen scheinen vor diesem Hintergrund die Skandale der letzten Jahre, die auf eine beachtliche Menge an rassistischen oder neonazistischen „Einzelfällen“ und Netzwerken in der Bundeswehr aufmerksam machten. Dass extrem rechte Aktivitäten in der Armee zuletzt überhaupt wieder Thema wurden, nahm seinen Anfang mit der Verhaftung des Oberleutnants Franco Albrecht im April 2017.Schon einige Monate zuvor war Albrecht am Wiener Flughafen kurzzeitig festgenommen worden. Der Oberleutnant hatte dort auf der Rückreise vom „Ball der Offiziere“ eine geladene Pistole versteckt. Er wollte diese ausgerechnet am Tag des „Akademikerballs“ aus dem Versteck holen, wurde dabei jedoch erwischt. Der Wiener „Akademikerball“ fungiert als rechte Netzwerkveranstaltung und wird stets von Gegenprotesten begleitet. Erneut verhaftet wurde Albrecht im April 2017, da die Behörden in der Zwischenzeit festgestellt hatten, dass er eine geheime Tarnidentität als syrischer Geflüchteter „David Benjamin“ besaß und aus einer extrem rechten Gesinnung heraus Mordanschläge auf Politikerinnen und Aktivistinnen begehen wollte. Nach mehreren Jahren hin und her durch zwei Instanzen wurde die Anklage gegen Albrecht, der damals nach sieben Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, schließlich zugelassen und im Mai 2021 begann der Prozess vor dem Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt (siehe LOTTA #83, S. 25).Antisemitisches LaientheaterDie Ausgangslage für den Prozess war für Albrecht eher positiv: ein lange verschleppter Verfahrensbeginn, ein Gericht, das zur Zulassung der Klage gezwungen werden musste, und der juristisch umstrittene Tatvorwurf der Terrorvorbereitung (§89a StGB), der nur schwer nachweisbar ist. Albrecht hätte diese Situation nutzen können, um sich nicht einzulassen. Von Beginn an nutzte er den Gerichtssaal jedoch als Bühne für seine rechte Ideologie. Die minderschweren Tatvorwürfe räumte er weitgehend ein, wobei er bis zum Ende nicht sagen wollte, wo sich seine weiteren Schusswaffen befinden. Den Vorwurf der Anschlagsvorbereitung stritt er ab. Die Erklärung für seine Taten: Er habe sich auf einen drohenden Bürgerkrieg vorbereiten wollen. Ebenso stritt er seine extrem rechte Ideologie ab und behauptete stets, alle Menschen zu lieben und Frieden zu wollen.Dass Albrecht eine extrem rechte und insbesondere antisemitische Ideologie vertritt, gespickt mit Verschwörungsglauben und einem guten Schuss Esoterik, zeigte sich im Gerichtssaal immer wieder: zum einen durch Sprachmemos von seinem Handy und im Prozess verlesene Notizen, zum anderen durch verschwörungsideologische Ausfälle im Verfahren selbst, die keine Interpretationsspielräume offen ließen. So verteidigte er einen Audiomitschnitt mit seiner Äußerung, die USA würden von „den Juden“ kontrolliert, damit, dass er sich intensiv mit deren Einfluss auf das „weltpolitische Geschehen“ auseinandergesetzt habe. Noch zum Ende des Prozesses bezeichnete er etwa den antisemitischen VerschwörungsideologenDavid Icke als seinen „Lehrmeister“. Flankiert wurde er dabei von seinen beiden Rechtsanwälten Moritz Schmitt-Fricke und Johannes Hock aus Mainz. Vor allem Schmitt-Fricke fiel immer wieder selbst mit verschwörungsideologischen Andeutungen auf und nutzte den Gerichtssaal für einen Angriff auf die Flüchtlingspolitik. Ansonsten blieben beide Anwälte eher stumm und überließen es ihrem Mandanten, vermutlich auf dessen eigenen Wunsch, sich selbst zu verteidigen. Anders ist dieses anwaltliche Totalversagen nicht zu erklären.Nach über einem Jahr Verhandlung und 39 Prozesstagen endete Albrechts Schauspiel. Das Gericht verurteilte ihn nicht nur für die vergleichsweise kleineren Waffen- und Betrugsdelikte, sondern auch wegen der Vorbereitung einer „schweren staatsgefährdenden Gewalttat“. Es zeigte sich davon überzeugt, dass Albrecht spätestens seit Ende 2015 fest entschlossen war, aus einer „rassistischen, rechtsextremen und völkisch-nationalistischen Gesinnung“ heraus Menschen zu töten. Insbesondere seinen Antisemitismus betonte das Gericht. Es geht davon aus, dass er zwar einen genauen Anschlagsplan noch nicht konkretisiert hatte, aber so fest dazu entschlossen war, Menschen, die aus seiner Sicht verantwortlich für eine vermeintliche „Umvolkung“ seien, zu töten, dass er hierfür umfangreiche Vorbereitungen getroffen hatte, wie etwa die Beschaffung von Waffen und das Ausspionieren möglicher Ziele. Lediglich einen Plan, dies unter der Tarnidentität eines syrischen Geflüchteten zu tun, sah es nicht. Das Gericht verurteilte Albrecht zu einer Haftstrafe von fünf Jahren und drei Monaten. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, Albrechts Anwälte kündigten an, Revision einzulegen.Offene FragenMit dem Urteil einer über fünfjährigen Haftstrafe besteht nun die Gefahr, dass der gesamte „Komplex Franco A.“ ad acta gelegt wird. Der Schuldige, der Anschläge plante, sitzt schließlich in Haft. Doch stellte sich schon vor Prozessbeginn die Frage, ob noch weitere Personen in seine Anschlagspläne eingeweiht waren.Da wäre beispielsweise Maurice R., Bundeswehrreservist aus Frankfurt, seit Jahren wohnhaft in Wien und dort scheinbar eingebunden in rechte Netzwerke. Zumindest zeigen ihn Fotos in geselliger Runde mit FPÖ-Politikern mit damals guten Kontakten in die Parteispitze. Ihn besuchte Albrecht 2017 beim „Ball der Offiziere“. Sowohl bevor als auch nachdem er damals auf der Rückreise die Waffe auf einer Behindertentoilette versteckte, telefonierte Albrecht mit R. Ein Bild des Verstecks postete er in eine gemeinsame Whats-App-Gruppe. Maurice R. kommentierte das Bild der Toilette mit einem Smiley. Warum die Telefonate, das Foto und der Smiley, wenn er von der Waffe nichts wusste? Dann wäre da noch Maximilian Tischer, Bundeswehrkamerad von Albrecht und Bruder seiner Verlobten, Vorstand der AfD-Jugend in Sachsen-Anhalt und zeitweise Mitarbeiter für den AfD-Abgeordneten Jan Nolte im Bundestag. Auch er war in Wien mit von der Partie, will von der Waffe aber nichts gewusst haben. Bei einer Hausdurchsuchung fanden die Behörden bei ihm eine Liste mit Namen und Adressen von Politikerinnen und Aktivst*innen, auch linker Aktivistinnen aus dem Rhein-Main-Gebiet. Die Kategorisierung der Namen erinnert stark daran, wie der Massenmörder von Oslo und Utøya 2011 vorschlug, seine Feinde einzuteilen. Zudem wies sie Überschneidungen mit den Anschlagszielen von Albrecht auf.Zu nennen wären außerdem Matthias F. und Christoph K., Jugendfreunde von Albrecht, die nicht nur selbst durch eine rechte Ideologie auffielen, sondern beide für ihn zeitweise seine gestohlenen (Kriegs-)Waffen versteckten. Wegen der Waffendelikte wurden sie angeklagt, von Anschlagsplänen wollen aber auch sie nichts gewusst haben. Während Matthias F. hierfür schon 2019 zu einer Bewährungs- und Geldstrafe über 2.500 Euro verurteilt wurde, wurde Christoph K. im Frühjahr dieses Jahres freigesprochen. Zwar hatte er in einer Vernehmung das kurzzeitige Aufbewahren der Waffen von Albrecht zugegeben. Da ihn der vernehmende Polizist jedoch daraufhin nicht als Verdächtigen belehrte, wurde er wegen Verfahrensfehlern freigesprochen.Es war nicht das einzige Mal, dass das ermittelnde BKA Fehler machte. Erst durch zweimal von Gerichten angeordnete Nachermittlungen kam heraus, dass Albrecht die Waffe aus Wien bereits sieben Monate vorher gekauft und sich im selben Monat illegal Zutritt zur Tiefgarage der Amadeu Antonio Stiftung verschafft hatte, um dort parkende Autos auszukundschaften. Auch eine Hütte im Wald bei Straßburg, die Albrecht laut Aussage seines Freundes Alexander Reiner J., Bruder im Geiste bezüglich Verschwörungsideologien, besessen haben soll, wurde nie gefunden. Ebenso wenig die Waffen, deren illegalen Besitz Albrecht zugegeben hat, darunter ein Sturmgewehr. Womöglich liegen sie noch irgendwo bereit.Rolle der GeheimdiensteGänzlich unbeachtet im Prozess blieb die Rolle der Geheimdienste, obwohl auch diese Fragen aufwirft. So erscheint es zwar nicht unmöglich, jedoch nur schwer vorstellbar, dass Geheimdienste den Namen Franco Albrecht erstmals durch die Festnahme am Wiener Flughafen hörten. 2016 soll der Oberleutnant der Bundeswehr an einem Treffen des Jagsthausener Kreises teilgenommen haben, einem verschwiegenen Vernetzungszirkel, in dem sich seit Jahrzehnten Personen aus extrem rechten Parteien, Publizistik, Militär und Wirtschaft vernetzen. Laut dem Journalisten Erich Schmidt-Eenboom sollen auch Mitarbeiter*innen deutscher Geheimdienste in der Vergangenheit rege teilgenommen haben. Vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet wird das Treffen hingegen nicht. 2016 soll Albrecht dort den Kontakt kennengelernt haben, der dazu führte, dass er wenige Monate später beim „Preußenabend“ in München eine Rede hielt, wie er im Prozess zugab. In dieser bekannte er sich, Rassist und Antisemit zu sein, und rief zum Kampf gegen das System auf. Der „Preußenabend“ ist ein fester Termin der Münchener rechtskonservativen bis extrem rechten Szene. Hat kein*e Geheimdienst-Mitarbeiter*in den Oberleutnant dabei beobachtet, wie er dort zum Kampf gegen das System aufrief? Und schließlich bleibt auch die Verhaftung Albrechts am Wiener Flughafen merkwürdig. Dass jemand an einem hochgesicherten Ort wie einem Flughafen eine geladene Pistole versteckt und trotzdem wenige Stunden nach der Verhaftung wieder gehen kann, wirft Fragen auf. Hinter dem Handeln von Neonazis sollte nicht stets ein Geheimdienst vermutet werden. Im Fall von Albrecht stellt sich aber zumindest die Frage, seit wann die Dienste seinen Namen kannten.Bezugspunkt Franco AlbrechtAls Albrecht eher durch Zufall aufflog, führte das in einer Kettenreaktion auch zur Enttarnung von Gruppen wie „Nordkreuz“, anderen Neonazi-Preppern und einer schwer überschaubaren Menge an rechten Soldat*innen. Ob dank der neuen Begeisterung für die Bundeswehr auch weiterhin ein Augenmerk auf solche Umtriebe gelegt wird, bleibt fraglich. Zugleich lebt rechter Terror davon, dass Rechtsterrorist*innen voneinander lernen und sich aufeinander beziehen. Der Neonazi Franco Albrecht hat anderen rechten Kameraden vorgemacht, wie leicht es ist, sich in der Bundeswehr Waffen zu beschaffen und Anschläge zu planen. Zumindest einen Anhänger hat er offenbar auch außerhalb der Armee gefunden: Der Vater des Attentäters von Hanau, der seinem Sohn in Sachen rechter Ideologie nur wenig nachsteht, zitierte in zwei Gerichtsprozessen wegen Beleidigungen Albrechts Anwalt Schmitt-Fricke mit einer ablehnenden Bemerkung über die Bundesanwaltschaft und bezeichnete Albrecht selbst in einem der Prozesse als seinen „Mitstreiter“. 2022-12-01T14:10:46+01:00 Braunzone Oberberg | Drang zum Souveränismus und Völkischen https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/88/braunzone-oberberg Die Beschäftigung mit dem Milieu der Corona-Leugner*innen und Impfgegner*innen im nordrhein-westfälischen Landkreis Oberbergischer Kreis (OBK) ergibt das Bild einer verschwörungsideologisch geprägten, „sektenähnlichen Struktur, die Bezüge zur „Anastasia"- und „Reichsbürger*innen"-Bewegung aufweist und die in die rechte, völkische und souveränistische Szene hinein vernetzt ist. Ihre vordergründige Harmlosigkeit bei gleichzeitigem Nonkonformismus und Rebellenhabitus macht sie anziehend für Menschen, die sich von Veränderungen in der Gesellschaft überfordert fühlen und auf der Suche nach einfachen Erklärungen sind. Der Artikel ist eine Annäherung an die regionale Szene im Oberbergischen Kreis, die bundesweit vernetzt ist - mit Verbindungen auch nach Österreich.Anfang Mai 2022 fand in der „Schnipperinger Mühle“ in Wipperfürth ein Konzert des Liedermachers „Eloas Min Barden“ statt, der sowohl im Umfeld der „Anastasia-Bewegung“ auftritt, als auch bei großen Corona-Protesten Pandemieleugner*innen und Impfgegner*innen mit Auftritten beglückt. Sein Publikum besteht aus Späthippies und Menschen aus der Öko-Szene. Der Sänger weist von sich, der „Anastasia-Bewegung“ und dem „Reichsbürger*innen“-Spektrum anzugehören, schließlich habe er „nur“ auf deren Veranstaltungen gespielt. Die umgedrehte Deutschlandfahne, die er auf einer Veranstaltung trug, sei kein „Reichsbürger“-Symbol, sondern der Versuch, die soziale Dreigliederung nach Rudolf Steiner darzustellen. Sein Publikum, das optisch aus dem links-alternativen Spektrum stammen könnte, scheint das Spiel mit rechter Symbolik gewohnt zu sein.Konservatives OberbergDemonstrationen von Pandemieleugner*innen hat es in fast allen Gemeinden im OBK gegeben. Dass es in der Kreisstadt Gummersbach (51.000 Einwohner*innen) über Monate möglich war, montags weit über 2.000 Menschen auf die Straße zu bringen, ist erklärungsbedürftig und unter anderem in der Struktur des OBK begründet. Das teils sehr ländliche Gebiet ist im NRW-Vergleich dünn besiedelt. Politisch ist die Region traditionell konservativ geprägt, die CDU ist die dominierende Partei. Es gibt Ortsteile, in denen seit Jahren die NRW-weit höchsten Ergebnisse für die AfD erzielt werden (Stimmbezirk Waldbröl-Maibuche, Landtagswahl 2022: 59,7 %). Die Region wird von der AfD gerne als Rückzugsgebiet genutzt: Hier gelingt auch mal ein Sommerfest mit 100 Leuten, ohne mit Gegenprotest rechnen zu müssen. Seit der Auflösung der neonazistischen Freien Kräfte Oberberg (FKO) konnten sich auch keine extrem rechten Kräfte außerhalb der AfD etablieren.Bei den Teilnehmenden an den Corona-Protesten in Gummersbach handelt es sich unter anderem um „Reichsbürger*innen“ (laut Polizeiangaben soll es mindestens 150 im OBK geben), Menschen aus Zusammenhängen der SoLaWi (Solidarische Landwirtschaft), der ökologischen Landwirtschafts-, Bioladen- und Eso-Szene und aus dem Bereich der alternativen Schulen. Im OBK gibt es mindestens sieben Privatschulen, darunter Bekenntnisschulen, Freie Schulen und Schulen der Waldorfpädagogik. Schülerinnen und Lehrerinnen berichten immer wieder von Unterrichtsinhalten, die eher ideologisch geprägt als wissenschaftlich fundiert sind. Die Zahl christlicher Gruppen und Freikirchen, oftmals evangelikal und teils fundamentalistisch ausgerichtet, ist groß. Auch aus diesem Milieu werden die Corona-Proteste gespeist.„Telegram“-Gruppen radikalisieren sichSeit 2020 entstanden im OBK mindestens 20 Telegram-Gruppen mit Bezug zu Corona-Protesten. Zwischen deren Betreiber*innen und Mitgliedern gibt es zum Teil enge Kontakte, es finden Vernetzungstreffen statt, und es werden gemeinsame Fahrten zu Demos in Düsseldorf, Brüssel oder Berlin organisiert. Alle Gruppen teilen Infos anderer Kanäle mit rechten verschwörungsideologischen Inhalten. In den meisten finden sich Bezüge zur „Anastasia-Bewegung“, verbunden mit Aufrufen zur Gründung von Familienlandsitzen und Siedlungsgemeinschaften. Außerdem werden extrem rechte und antisemitische Inhalte verbreitet, und von Mitgliedern aus der „Reichsbürger*innen“-Szene wird die Existenz der BRD geleugnet. In einigen der Gruppen - beispielsweise Oberberg bewegt! mit deutlich über 1.000 Mitgliedern - wird sogar zu Gewalt aufgerufen und der Holocaust geleugnet. Eine Anzeige gegen die Betreiberin der Gruppe verlief allerdings im Sande.Eine interessante Entwicklung nahm die Orga-Gruppe der Gummersbacher Montagsdemos: Die Aktivistinnen, die Wert darauf legten, als Betroffene gezielt gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht zu demonstrieren, radikalisierten sich zusehends und teilten ohne jedes Geschichts- und Politikbewusstsein Memes und Infos aus einschlägig extrem rechten Kanälen. Kritik von außen an den teils offen neonazistischen Inhalten wurde bagatellisiert.Aufbau von gesellschaftlichen ParallelstrukturenNeben Aufrufen zu Gewalt und Umsturz, wie sie auch in den Oberberger Telegram-Gruppen zu finden sind, gibt es eine leisere Bewegung, die bestrebt ist, sich von staatlichen Systemen (Wirtschaft/Finanzen, Landwirtschaft und Bildung) abzukoppeln. Ziel ist es, sich staatlicher Kontrolle zu entziehen. Geplant werden dafür Gründungen von möglichst autarken Siedlungen. Die Szene setzt sich aus meist bürgerlichen (teils finanzstarken) Esoteriker*innen aus dem Alternativmilieu zusammen, oft mit Bezügen zu Souveränist*innen oder „Reichsbürger*innen“. Beinahe durchgängig wird für die reaktionäre, völkische und antisemitische „Anastasia-Bewegung“ geschwärmt.Ein besonderer Schwerpunkt ist die Gründung „Freier Schulen“. Zurzeit gibt es eine Gründung in Windeck (Rhein-Sieg-Kreis), die im engen Zusammenhang mit der anthro-nahen „Freien Schule“ in Nümbrecht-Berkenroth (OBK) steht. Die Schulleiterin ist aktiv in QAnon- und „Anastasia“-nahen Telegram-Gruppen.Im OBK ist es besonders Christoph Schäl, der für Parallelstrukturen lokale Aufbauarbeit leistet und für überregionale Vernetzungen sorgt. Empfänglich für seine Agitation sind die Anhänger*innen der Corona-Protestbewegung, die sich im Widerstand wähnen und die zur Umgehung der Maßnahmen zunächst Listen mit Geschäften und Restaurants erstellten, die ohne Maske und ungeimpft besucht werden könnten. Nächster Schritt war der Aufbau eines Verteilsystems für Lebensmittel, bei dem vom OBK aus über Hennef und Köln bis Wuppertal Lebensmittel zu privaten Verteilstationen geliefert wurden.Nach dem Vorbild von Peter Kittl aus Österreich gründete Schäl Vereine mit Sitz in Wien. Kittl, mit dem Schäl eng in Verbindung steht, bezeichnet Vereine und Genossenschaften in Österreich als quasi „rechtsfreie Räume“ mit juristischen, fiskalischen und haftungsrechtlichen Möglichkeiten, sich von staatlicher Kontrolle abzukoppeln. Kittl bekennt sich eindeutig zur „Anastasia-Bewegung“ und tourt mit seinem Wohnmobil durch die Lande, um seine Agenda zu verbreiten. Schäl baut seinerseits unentwegt und bemüht unauffällig an neuen Gemeinschaften und versucht dabei unter dem Radar der Behörden bleiben. So unterstützte er mit einem Verein überregionale Treffen von QAnon-Anhänger*innen auf dem Heilerhof nahe Nümbrecht während des Lockdowns, beendete die Zusammenarbeit aber, nachdem die Behörden auf die Treffen aufmerksam geworden waren.Er gründete zahlreiche regionale Telegram-Gruppen, in Zusammenarbeit mit „Frank dem Reisenden“ (Frank Schreibmüller) wurden diese zu Honeypots für Verschwörungsgläubige, die sich immer tiefer in eine Welt mit „alternativen“ Fakten, Angst und Wut ziehen lassen. Er organisiert obskure Veranstaltungen wie das eingangs genannte Konzert mit „Eloas Min Barden“ oder sogenannte „Wir Kreisen“ mit Peter Kittl; baut einen „Guru“ (Riccardo A.) auf mit zugehörigem Kanal und regelmäßigen „Morgengrüßen“, die aus banalem Eso-Sprech, durchsetzt mit verklausulierten Aufrufen zum Widerstand bestehen. Die so akquirieren Interessentinnen radikalisieren sich und steigen in die inneren Strukturen auf - ganz nach dem Vorbild der Organisation von Sekten. Die Bezahlung der Workshops erfolgt per „Energieausgleich“ - jede*r gibt nach eigenem Ermessen, zumeist weit über dem üblichen Kurs. Zudem wird an eigenen Währungssystemen gebastelt. Und natürlich wird nichts davon versteuert.Pläne zur Gründung einer SiedlungsgemeinschaftDer Immenhof gehört zur Gemeinde Bispingen in der Lüneburger Heide. Auf 41 Hektar gibt es neben diversen Gebäuden ein Brunnenhaus und ein Schulgebäude. Hier plante Schäl mit weiteren Personen eine souveränistische Gemeinschaft.Ihre kruden, allein sich selber verpflichteten Ideen von Bildung, Recht, Wirtschaft und Politik sollten hier umgesetzt werden. Ende Juni 2022 fand ein erstes Treffen von über 60 Interessent*innen aus ganz Deutschland und Österreich statt. Neben Schäl und seinem Umfeld war auch Peter Kittl anwesend. Es gab Vorträge, unter anderem von Jacky Herder, die ihr von der „Anastasia“-Buchreihe inspiriertes Schulkonzept „School of Bliss“ vorstellte, und von Boris Matern über seine „alternative“ Wirtschaftsplattform „Humanimity“. Und wie stets Beiträge zum österreichischen Vereinswesen.Besitzer des Grundstücks ist Helmut Bierwirth, ein hochverschuldeter Geschäftsmann aus Hamburg, dem Kontakte zur organisierten Kriminalität nachgesagt werden. Da das Grundstück zwangsversteigert werden sollte, diente das Treffen dazu, auszuloten, ob genügend Menschen bereit sind, Energie und Geld in das Projekt zu stecken. Weil diese Pläne durch antifaschistische Recherche im Vorfeld bekannt wurden und anschließend in der Presse darüber berichtet wurde, engagierte sich vor Ort die Bevölkerung gegen die Gründung einer „völkischen Siedlung“. Schäl und sein Umfeld haben sich deswegen offenbar von der Umsetzung ihrer Pläne auf dem Immenhof zurückgezogen, ihre Telegram-Gruppen geschlossen und wirken vorerst im Verborgenen weiter. Andere Teilnehmerinnen des Treffens blieben unbeeindruckt, beispielsweise Tanja L. und Jörn K. aus Hennef im Rhein-Sieg-Kreis, die den Telegram-Kanal „Paradiesum“ betreiben und schon länger Kontakt zu Martin Laker („Engelsburger Nachrichten“) haben, der inzwischen ebenfalls in Hennef lebt.FazitIm Oberbergischen gibt es zwar kaum organisierte extrem rechte Strukturen, dafür ist der Boden für reaktionäre Verschwörungsideolog*innen besonders gut bestellt. Bei den Protestierenden gegen die Pandemiemaßnahmen handelt es sich um ein zumindest vordergründig gut integriertes „bürgerliches“ Spektrum. Dieses begreift sich selbst nicht als rechtsoffen, extrem rechts oder gar faschistisch und agiert freundlich und offen, zumindest solange es nicht auf Widerspruch stößt. Das Milieu gefällt sich in seinem rebellischen Gestus, seine diffuse Wut führt zur Bereitschaft, Positionen der extremen Rechten einzunehmen. Die fehlende Distanz nach Rechts schafft einen Pool für radikalisierbare Gewalttäterinnen. Aus dem Widerstand gegen die Coronamaßnahmen entsteht gerade eine neue soziale Bewegung souveränistischer und völkischer Aussteigerinnen. Die hohe Anzahl der Beteiligten und ihr Gefühl, sich in einem Existenzkampf zu befinden, macht diese Bewegung brandgefährlich. Ängste in der Bevölkerung, die mit dem Krieg in der Ukraine und den damit vielleicht auch in Deutschland drohenden Krisen verbunden sind, werden von dieser Bewegung dankbar aufgegriffen und genutzt, um den Ausbau rechter Parallelgesellschaften voranzutreiben. Braunzone 7784 Thu, 01 Dec 2022 14:03:22 +0100 LOTTA Braunzone Oberberg Anna Blume, Dima Brighan, Korban Wigger Die Beschäftigung mit dem Milieu der Corona-Leugner*innen und Impfgegner*innen im nordrhein-westfälischen Landkreis Oberbergischer Kreis (OBK) ergibt das Bild einer verschwörungsideologisch geprägten, „sektenähnlichen Struktur, die Bezüge zur „Anastasia"- und „Reichsbürger*innen"-Bewegung aufweist und die in die rechte, völkische und souveränistische Szene hinein vernetzt ist. Ihre vordergründige Harmlosigkeit bei gleichzeitigem Nonkonformismus und Rebellenhabitus macht sie anziehend für Menschen, die sich von Veränderungen in der Gesellschaft überfordert fühlen und auf der Suche nach einfachen Erklärungen sind. Der Artikel ist eine Annäherung an die regionale Szene im Oberbergischen Kreis, die bundesweit vernetzt ist - mit Verbindungen auch nach Österreich.Anfang Mai 2022 fand in der „Schnipperinger Mühle“ in Wipperfürth ein Konzert des Liedermachers „Eloas Min Barden“ statt, der sowohl im Umfeld der „Anastasia-Bewegung“ auftritt, als auch bei großen Corona-Protesten Pandemieleugner*innen und Impfgegner*innen mit Auftritten beglückt. Sein Publikum besteht aus Späthippies und Menschen aus der Öko-Szene. Der Sänger weist von sich, der „Anastasia-Bewegung“ und dem „Reichsbürger*innen“-Spektrum anzugehören, schließlich habe er „nur“ auf deren Veranstaltungen gespielt. Die umgedrehte Deutschlandfahne, die er auf einer Veranstaltung trug, sei kein „Reichsbürger“-Symbol, sondern der Versuch, die soziale Dreigliederung nach Rudolf Steiner darzustellen. Sein Publikum, das optisch aus dem links-alternativen Spektrum stammen könnte, scheint das Spiel mit rechter Symbolik gewohnt zu sein.Konservatives OberbergDemonstrationen von Pandemieleugner*innen hat es in fast allen Gemeinden im OBK gegeben. Dass es in der Kreisstadt Gummersbach (51.000 Einwohner*innen) über Monate möglich war, montags weit über 2.000 Menschen auf die Straße zu bringen, ist erklärungsbedürftig und unter anderem in der Struktur des OBK begründet. Das teils sehr ländliche Gebiet ist im NRW-Vergleich dünn besiedelt. Politisch ist die Region traditionell konservativ geprägt, die CDU ist die dominierende Partei. Es gibt Ortsteile, in denen seit Jahren die NRW-weit höchsten Ergebnisse für die AfD erzielt werden (Stimmbezirk Waldbröl-Maibuche, Landtagswahl 2022: 59,7 %). Die Region wird von der AfD gerne als Rückzugsgebiet genutzt: Hier gelingt auch mal ein Sommerfest mit 100 Leuten, ohne mit Gegenprotest rechnen zu müssen. Seit der Auflösung der neonazistischen Freien Kräfte Oberberg (FKO) konnten sich auch keine extrem rechten Kräfte außerhalb der AfD etablieren.Bei den Teilnehmenden an den Corona-Protesten in Gummersbach handelt es sich unter anderem um „Reichsbürger*innen“ (laut Polizeiangaben soll es mindestens 150 im OBK geben), Menschen aus Zusammenhängen der SoLaWi (Solidarische Landwirtschaft), der ökologischen Landwirtschafts-, Bioladen- und Eso-Szene und aus dem Bereich der alternativen Schulen. Im OBK gibt es mindestens sieben Privatschulen, darunter Bekenntnisschulen, Freie Schulen und Schulen der Waldorfpädagogik. Schülerinnen und Lehrerinnen berichten immer wieder von Unterrichtsinhalten, die eher ideologisch geprägt als wissenschaftlich fundiert sind. Die Zahl christlicher Gruppen und Freikirchen, oftmals evangelikal und teils fundamentalistisch ausgerichtet, ist groß. Auch aus diesem Milieu werden die Corona-Proteste gespeist.„Telegram“-Gruppen radikalisieren sichSeit 2020 entstanden im OBK mindestens 20 Telegram-Gruppen mit Bezug zu Corona-Protesten. Zwischen deren Betreiber*innen und Mitgliedern gibt es zum Teil enge Kontakte, es finden Vernetzungstreffen statt, und es werden gemeinsame Fahrten zu Demos in Düsseldorf, Brüssel oder Berlin organisiert. Alle Gruppen teilen Infos anderer Kanäle mit rechten verschwörungsideologischen Inhalten. In den meisten finden sich Bezüge zur „Anastasia-Bewegung“, verbunden mit Aufrufen zur Gründung von Familienlandsitzen und Siedlungsgemeinschaften. Außerdem werden extrem rechte und antisemitische Inhalte verbreitet, und von Mitgliedern aus der „Reichsbürger*innen“-Szene wird die Existenz der BRD geleugnet. In einigen der Gruppen - beispielsweise Oberberg bewegt! mit deutlich über 1.000 Mitgliedern - wird sogar zu Gewalt aufgerufen und der Holocaust geleugnet. Eine Anzeige gegen die Betreiberin der Gruppe verlief allerdings im Sande.Eine interessante Entwicklung nahm die Orga-Gruppe der Gummersbacher Montagsdemos: Die Aktivistinnen, die Wert darauf legten, als Betroffene gezielt gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht zu demonstrieren, radikalisierten sich zusehends und teilten ohne jedes Geschichts- und Politikbewusstsein Memes und Infos aus einschlägig extrem rechten Kanälen. Kritik von außen an den teils offen neonazistischen Inhalten wurde bagatellisiert.Aufbau von gesellschaftlichen ParallelstrukturenNeben Aufrufen zu Gewalt und Umsturz, wie sie auch in den Oberberger Telegram-Gruppen zu finden sind, gibt es eine leisere Bewegung, die bestrebt ist, sich von staatlichen Systemen (Wirtschaft/Finanzen, Landwirtschaft und Bildung) abzukoppeln. Ziel ist es, sich staatlicher Kontrolle zu entziehen. Geplant werden dafür Gründungen von möglichst autarken Siedlungen. Die Szene setzt sich aus meist bürgerlichen (teils finanzstarken) Esoteriker*innen aus dem Alternativmilieu zusammen, oft mit Bezügen zu Souveränist*innen oder „Reichsbürger*innen“. Beinahe durchgängig wird für die reaktionäre, völkische und antisemitische „Anastasia-Bewegung“ geschwärmt.Ein besonderer Schwerpunkt ist die Gründung „Freier Schulen“. Zurzeit gibt es eine Gründung in Windeck (Rhein-Sieg-Kreis), die im engen Zusammenhang mit der anthro-nahen „Freien Schule“ in Nümbrecht-Berkenroth (OBK) steht. Die Schulleiterin ist aktiv in QAnon- und „Anastasia“-nahen Telegram-Gruppen.Im OBK ist es besonders Christoph Schäl, der für Parallelstrukturen lokale Aufbauarbeit leistet und für überregionale Vernetzungen sorgt. Empfänglich für seine Agitation sind die Anhänger*innen der Corona-Protestbewegung, die sich im Widerstand wähnen und die zur Umgehung der Maßnahmen zunächst Listen mit Geschäften und Restaurants erstellten, die ohne Maske und ungeimpft besucht werden könnten. Nächster Schritt war der Aufbau eines Verteilsystems für Lebensmittel, bei dem vom OBK aus über Hennef und Köln bis Wuppertal Lebensmittel zu privaten Verteilstationen geliefert wurden.Nach dem Vorbild von Peter Kittl aus Österreich gründete Schäl Vereine mit Sitz in Wien. Kittl, mit dem Schäl eng in Verbindung steht, bezeichnet Vereine und Genossenschaften in Österreich als quasi „rechtsfreie Räume“ mit juristischen, fiskalischen und haftungsrechtlichen Möglichkeiten, sich von staatlicher Kontrolle abzukoppeln. Kittl bekennt sich eindeutig zur „Anastasia-Bewegung“ und tourt mit seinem Wohnmobil durch die Lande, um seine Agenda zu verbreiten. Schäl baut seinerseits unentwegt und bemüht unauffällig an neuen Gemeinschaften und versucht dabei unter dem Radar der Behörden bleiben. So unterstützte er mit einem Verein überregionale Treffen von QAnon-Anhänger*innen auf dem Heilerhof nahe Nümbrecht während des Lockdowns, beendete die Zusammenarbeit aber, nachdem die Behörden auf die Treffen aufmerksam geworden waren.Er gründete zahlreiche regionale Telegram-Gruppen, in Zusammenarbeit mit „Frank dem Reisenden“ (Frank Schreibmüller) wurden diese zu Honeypots für Verschwörungsgläubige, die sich immer tiefer in eine Welt mit „alternativen“ Fakten, Angst und Wut ziehen lassen. Er organisiert obskure Veranstaltungen wie das eingangs genannte Konzert mit „Eloas Min Barden“ oder sogenannte „Wir Kreisen“ mit Peter Kittl; baut einen „Guru“ (Riccardo A.) auf mit zugehörigem Kanal und regelmäßigen „Morgengrüßen“, die aus banalem Eso-Sprech, durchsetzt mit verklausulierten Aufrufen zum Widerstand bestehen. Die so akquirieren Interessentinnen radikalisieren sich und steigen in die inneren Strukturen auf - ganz nach dem Vorbild der Organisation von Sekten. Die Bezahlung der Workshops erfolgt per „Energieausgleich“ - jede*r gibt nach eigenem Ermessen, zumeist weit über dem üblichen Kurs. Zudem wird an eigenen Währungssystemen gebastelt. Und natürlich wird nichts davon versteuert.Pläne zur Gründung einer SiedlungsgemeinschaftDer Immenhof gehört zur Gemeinde Bispingen in der Lüneburger Heide. Auf 41 Hektar gibt es neben diversen Gebäuden ein Brunnenhaus und ein Schulgebäude. Hier plante Schäl mit weiteren Personen eine souveränistische Gemeinschaft.Ihre kruden, allein sich selber verpflichteten Ideen von Bildung, Recht, Wirtschaft und Politik sollten hier umgesetzt werden. Ende Juni 2022 fand ein erstes Treffen von über 60 Interessent*innen aus ganz Deutschland und Österreich statt. Neben Schäl und seinem Umfeld war auch Peter Kittl anwesend. Es gab Vorträge, unter anderem von Jacky Herder, die ihr von der „Anastasia“-Buchreihe inspiriertes Schulkonzept „School of Bliss“ vorstellte, und von Boris Matern über seine „alternative“ Wirtschaftsplattform „Humanimity“. Und wie stets Beiträge zum österreichischen Vereinswesen.Besitzer des Grundstücks ist Helmut Bierwirth, ein hochverschuldeter Geschäftsmann aus Hamburg, dem Kontakte zur organisierten Kriminalität nachgesagt werden. Da das Grundstück zwangsversteigert werden sollte, diente das Treffen dazu, auszuloten, ob genügend Menschen bereit sind, Energie und Geld in das Projekt zu stecken. Weil diese Pläne durch antifaschistische Recherche im Vorfeld bekannt wurden und anschließend in der Presse darüber berichtet wurde, engagierte sich vor Ort die Bevölkerung gegen die Gründung einer „völkischen Siedlung“. Schäl und sein Umfeld haben sich deswegen offenbar von der Umsetzung ihrer Pläne auf dem Immenhof zurückgezogen, ihre Telegram-Gruppen geschlossen und wirken vorerst im Verborgenen weiter. Andere Teilnehmerinnen des Treffens blieben unbeeindruckt, beispielsweise Tanja L. und Jörn K. aus Hennef im Rhein-Sieg-Kreis, die den Telegram-Kanal „Paradiesum“ betreiben und schon länger Kontakt zu Martin Laker („Engelsburger Nachrichten“) haben, der inzwischen ebenfalls in Hennef lebt.FazitIm Oberbergischen gibt es zwar kaum organisierte extrem rechte Strukturen, dafür ist der Boden für reaktionäre Verschwörungsideolog*innen besonders gut bestellt. Bei den Protestierenden gegen die Pandemiemaßnahmen handelt es sich um ein zumindest vordergründig gut integriertes „bürgerliches“ Spektrum. Dieses begreift sich selbst nicht als rechtsoffen, extrem rechts oder gar faschistisch und agiert freundlich und offen, zumindest solange es nicht auf Widerspruch stößt. Das Milieu gefällt sich in seinem rebellischen Gestus, seine diffuse Wut führt zur Bereitschaft, Positionen der extremen Rechten einzunehmen. Die fehlende Distanz nach Rechts schafft einen Pool für radikalisierbare Gewalttäterinnen. Aus dem Widerstand gegen die Coronamaßnahmen entsteht gerade eine neue soziale Bewegung souveränistischer und völkischer Aussteigerinnen. Die hohe Anzahl der Beteiligten und ihr Gefühl, sich in einem Existenzkampf zu befinden, macht diese Bewegung brandgefährlich. Ängste in der Bevölkerung, die mit dem Krieg in der Ukraine und den damit vielleicht auch in Deutschland drohenden Krisen verbunden sind, werden von dieser Bewegung dankbar aufgegriffen und genutzt, um den Ausbau rechter Parallelgesellschaften voranzutreiben. 2022-12-01T14:03:22+01:00 Mehr Fragen als Antworten | Zum Tod von Mouhamed Lamine Dramé in Dortmund https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/88/mehr-fragen-als-antworten Anfang August starben in Deutschland innerhalb weniger Tage vier Menschen durch Polizeigewalt. Der Tod eines 16-jährigen Geflüchteten in Dortmund sorgt dabei bundesweit für Entsetzen. Polizist:innen hatten mit Pfefferspray und Tasern auf den Jugendlichen eingewirkt und ihn anschließend erschossen.Am 8. August 2022 ruft ein Betreuer der Jugendhilfeeinrichtung „St. Antonius“ in der Dortmunder Nordstadt die Polizei. Ein Jugendlicher aus dem Senegal, der sich erst seit einer Woche in Dortmund aufhält, sitzt, mutmaßlich in suizidaler Absicht ein Messer an seinen Bauch haltend, im Innenhof der Einrichtung. Kurze Zeit später ist er tot – getroffen durch vier von sechs aus der Maschinenpistole eines Polizisten abgefeuerten Schüssen.Zunächst ist wenig darüber bekannt, was genau nach dem Eintreffen der Polizei passierte, doch schnell wirft jedes bekanntwerdende Detail neue Fragen auf. Knapp schreibt die Polizei Dortmund am Tattag bei Twitter: „Im Laufe des Einsatzes griff ein 16-jähriger junger Mann die Polizisten mit einem Messer an“, „daraufhin“ sei geschossen worden, man bitte, „von Spekulationen abzusehen“.In Trauer und Wut über den Tod des Jugendlichen versammeln sich am Folgetag Anwohner:innen, Menschen aus der Schwarzen Community und Aktivist:innen zu einer Kundgebung. Viele treten auf dem Kurt-Piehl-Platz unweit des Tatortes in der Holsteiner Straße ans Open Mic, äußern ihre Anteilnahme und stellen Fragen: „Warum greift die Polizei einen Jugendlichen in einer Notsituation mit Pfefferspray und Taser an?“ „Warum wurde kein Dolmetscher geholt, wenn doch angeblich mit ihm geredet wurde?“ „Warum hat die Polizei sich nicht zurückgezogen, als sie Mouhamed nicht davon überzeugen konnte, das Messer fallen zu lassen? Er befand sich doch auf einem abgesperrten Gelände.“„Die Polizei ist ein Rassismusproblem“Zahlreiche Berichte von Erfahrungen mit der Polizei in der Nordstadt und rassistischer Polizeigewalt auf der Nordwache folgen. „Wir erinnern uns an Oury Jalloh, Christy Schwundeck, wir erinnern uns an John Amadi, Dominique Koumadio, Amed Ahmad, Hussam Fadl, Laye Condé, wir erinnern uns an die mindestens 160 Menschen of Color, die in den letzten 30 Jahren von der deutschen Polizei getötet wurden oder in Haft ums Leben kamen. Nein, die Polizei hat kein Rassismusproblem, sie ist ein Rassismusproblem“, schallt es über den Kurt-Piehl-Platz. Im Anschluss ziehen etwa 400 Menschen spontan zur Nordwache, fordern dort die Herausgabe des Namens des Toten, um Angehörige im Senegal informieren zu können.Am nächsten Tag veröffentlichen Lokalmedien den Namen. Auch ein Foto findet wenig später seinen Weg in die Öffentlichkeit. Der Getötete heißt Mouhamed Lamine Dramé. Er soll sich nach traumatisierender Flucht in einer psychischen Ausnahmesituation befunden und sich wenige Tage zuvor noch auf eigenen Wunsch in psychiatrische Behandlung begeben haben.Dortmunds Oberbürgermeister Thomas Westphal und Stadtdirektor Jörg Stüdemann scheinen sich der Auswirkungen des Falles auf die Communitys in der Nordstadt sowie der Sprengkraft in der öffentlichen Wahrnehmung bewusst zu sein. Sie nehmen in einer Moschee am Totengebet für Mouhamed teil, suchen das Gespräch, verweisen jedoch gleichzeitig auf das nun „besonders nötige Vertrauen in den Rechtsstaat“. Nachdem sich die senegalesische Botschaft einschaltet, wird eine bereits geplante Beerdigung in Dortmund in letzter Minute gestoppt und der Leichnam in den Senegal überführt, wo er im Kreis von Mouhameds Familie und Freunden beerdigt wird. Auch im Senegal gibt es Demonstrationen und Forderungen, die Umstände des Todes aufzuklären. In Dortmund finden unterdessen Krisensitzungen, Gespräche und Veranstaltungen mit Vereinen und Akteur:innen in der Nordstadt statt. Ein Solidaritätskreis, der Kontakt zu Mouhameds Familie im Senegal aufgenommen hat, formiert sich.Ermittlungen „nicht vertrauensfördernd“Die Staatsanwaltschaft Dortmund ermittelt aus „Neutralitätsgründen“ mit Hilfe der Polizei Recklinghausen – während gleichzeitig die Dortmunder Polizei einem Fall tödlicher Polizeigewalt, der sich nur wenige Tage zuvor in Oer-Erkenschwick ereignet hat und damit in der Zuständigkeit der Recklinghäuser Polizei liegt, nachgeht. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani äußerte sich dazu kritisch auf Twitter: „Das ist nicht ‚neutral‘ und schon gar nicht vertrauensfördernd. Wenn das das übliche Vorgehen sein sollte, braucht es hier unübliches Vorgehen!“ Laut Aussage von Lisa Grüter, Nebenklageanwältin von Mouhameds Familie, gegenüber dem WDR, sollen sogar Polizist:innen der Nordwache die Kriminalpolizei bei Zeug:innenbefragungen im Tatortumfeld unterstützt haben. Während des tödlichen Einsatzes selbst soll keine:r der insgesamt 12 Beamt:innen eine Bodycam aktiviert haben.Vorrauseilendes Verständnis für die PolizeiNRW-Innenminister Herbert Reul behauptet unmittelbar nach der Tat: „Derjenige ist immer aufgeregter, ich sag mal angespannter, aggressiver auf die Polizisten zu gerannt. Und in dieser Situation ging es um die Frage: Sticht der zu – oder schießt die Polizei?“ Offenbar ohne Details zu kennen, stellt Reul sich vorschnell uneingeschränkt hinter die Version der Polizist:innen. Viele tun es ihm gleich: Polizeigewerkschafter:innen wie der Bundesvorsitzende der DPolG Manuel Ostermann, manch ein:e Journalist:in und der aufgehetzte Online-Mob überbieten sich in Verständnis für die Polizist:innen. Getrieben vom rassistischen Narrativ des „Messer-Manns“ skandalisiert Ex-Bild-Chefredakteur Julian Reichelt, dass um einen „Gewalttäter getrauert“ werde. Der Dortmunder AfD-Bundestagsabgeordnete Matthias Helferich schreibt in mehreren Online-Beiträgen von „einem bewaffneten Afrikaner“, dankt explizit der Polizei für ihren Einsatz und wittert eine „Verklärung von Migrantengewalt und Polizeibashing durch linke Kreise“.Anfang September tritt Oberstaatsanwalt Carsten Dombert mit einem Zwischenergebnis an die Öffentlichkeit. Es gibt deutliche Zweifel an der Darstellung der Polizei, sie habe in Notwehr gehandelt. Die Staatsanwaltschaft bewertet den Einsatz nun von Beginn an als „nicht verhältnismäßig“ und weitet die Ermittlungen aus: Gegen den Schützen wird nun wegen Totschlags ermittelt, gegen vier weitere Beamt:innen wegen Körperverletzung im Amt. Erst jetzt folgen dienstrechtliche Konsequenzen seitens des Polizeipräsidiums Dortmund. Der Todesschütze wird vom Dienst suspendiert, vier weitere Beamt:innen werden versetzt.Fall beschäftigt LandespolitikAuch in der Landespolitik wächst der Druck, der Fall beschäftigt sowohl den Rechts- als auch den Innenausschuss des Landtags. In einem Bericht des Innenministeriums heißt es: „Dass der Getötete von den Polizeibeamten zum Weglegen des Messers aufgefordert wurde, haben die Ermittlungen nicht ergeben.“ Weitere Details werden am 13. September bekannt, als dem Rechtsausschuss das Einsatzprotokoll der Polizei vorliegt. Aus diesem geht hervor, dass zwischen der ersten Kontaktaufnahme und den tödlichen Schüssen nur drei Minuten lagen. Darüber hinaus steht nun gar in Zweifel, ob oder in welcher Form sich Mouhamed, nachdem bereits Pfefferspray und Taser angewendet worden waren, überhaupt auf die Beamt:innen zubewegt hat. Von aggressivem Rennen, wie es Reul formulierte, ist keine Rede mehr. Polizeipräsident und Innenminister vollziehen einen kommunikativen Kurswechsel und beginnen, sich behutsam vom polizeilichen Vorgehen in dem Fall zu distanzieren.Im Polizeipräsidium Dortmund bedient man das Narrativ eines tragischen Einzelfalls. Gleichzeitig wird öffentlichkeitswirksam betont, wie sehr die Dortmunder Polizei für Vielfalt, Toleranz und Demokratie stehe, welche Erfolge man bei der Kriminalitätsbekämpfung und im Bereich Rechtsextremismus erzielt habe. Die Aktion „Talk with a Cop“ wird an verschiedenen Orten der Nordstadt gestartet, ohne dabei ein Wort über den Anlass der „neuen Bürgersprechstunde“ – die Erschießung Mouhameds – zu verlieren. Im Dialog im WDR 5 Stadtgespräch zum Thema „Tödliche Schüsse – Wie viel Vertrauen haben wir in die Polizei?“ unterstellt Polizeipräsident Gregor Lange dem hauptsächlich aus Nordstädter:innen bestehenden Publikum jedoch, in ihren kritischen Fragen und Erfahrungsschilderungen „nicht repräsentativ“ zu sein. Die Ermittlungen laufen unterdessen weiter, inzwischen wurden Handys der beteiligten Polizist:innen und die Dienstwaffe des Einsatzleiters beschlagnahmt.Radikal verschiedene Erfahrungswelten„Wenn die Polizei kommt, bin ich in Gefahr.“ Diese Aussage von Jugendlichen aus der Nordstadt, die an einem Talk im städtischen Dietrich-Keuning-Haus teilnahmen, verdeutlicht, dass die Polizei in der Wahrnehmung marginalisierter Gruppen keine Sicherheit bietet. Die vermeintliche Sicherheit der Mehrheitsgesellschaft wird auf Grundlage struktureller Gewalt und Repression gegen einen ganzen Stadtteil geschaffen. Vertrauen kann nur durch positive Erfahrungen hergestellt werden. Polizeiliches Handeln in der Nordstadt ist aber eingebettet in die Bedingungen, die die Polizei und das NRW-Innenministerium durch Reuls „Politik der tausend Nadelstiche“ geschaffen haben (vgl. LOTTA #68 und #78). Sogenannte „verdachtsunabhängige Kontrollen“, die in vielen Fällen schlicht Racial Profiling sind, Polizeigewalt, rassistische und sexistische Vorfälle auf der Nordwache gehören zum Alltag vieler Anwohner:innen. In diesem Klima erschüttert der Tod Mouhameds zwar viele. Überrascht, dass es gerade in der Nordstadt passierte, sind die wenigsten.Wer übernimmt Verantwortung?Über Jahre geschürte rassistische Diskurse sowie die untragbaren Zustände auf der Nordwache sind bisher medial kaum Thema. Kriminologen wie Thomas Feltes problematisieren seit langem eine „Cop Culture“, die sich in die Strukturen der Polizei einschreibt, und fordern deswegen etwa ein Rotationsprinzip für Wachen. Wenngleich es ein Erfolg der Proteste ist, dass diesmal genauer hingeschaut und überhaupt umfassend ermittelt wird, führt die Frage nach der individuellen Verantwortung der Polizist:innen nicht weiter. Vielmehr braucht es strukturelle Veränderungen auch jenseits der Polizeiarbeit.Die anfangs verbreitete Version eines Angriffs von Mouhamed auf die Polizei hat sich als unwahr herausgestellt. Mouhamed stellte keine Gefahr für die Einsatzkräfte dar, sondern hätte Hilfe benötigt. Die Ereignisse werfen einmal mehr die Frage nach kollektiver Verantwortungsübernahme und radikalen Veränderungen auf, denn es ist kein Zufall, dass Todesopfer von Polizeigewalt überwiegend Schwarze, Geflüchtete, Wohnungslose oder Menschen in psychischen Ausnahmesituationen sind.Der Fall Mouhamed erfährt aufgrund des öffentlichen Drucks vergleichsweise viel Aufmerksamkeit, die so schnell nicht verhallen wird. Doch es bleiben Fragen, nicht nur in Dortmund: Wer schützt uns vor der Polizei? Warum bringt der Tod von George Floyd auch in Deutschland Zehntausende auf die Straße, während es hier trotz der massenhaft geteilten Erfahrung von alltäglicher Polizeigewalt bisher keine größere gemeinsame Artikulation von Protest gibt? Und schließlich: Welche Alternativen zur Polizei gibt es? Gesellschaft 7783 Sun, 30 Oct 2022 19:17:14 +0100 LOTTA Mehr Fragen als Antworten Friedrich Kraft, Hannah Tietze Anfang August starben in Deutschland innerhalb weniger Tage vier Menschen durch Polizeigewalt. Der Tod eines 16-jährigen Geflüchteten in Dortmund sorgt dabei bundesweit für Entsetzen. Polizist:innen hatten mit Pfefferspray und Tasern auf den Jugendlichen eingewirkt und ihn anschließend erschossen.Am 8. August 2022 ruft ein Betreuer der Jugendhilfeeinrichtung „St. Antonius“ in der Dortmunder Nordstadt die Polizei. Ein Jugendlicher aus dem Senegal, der sich erst seit einer Woche in Dortmund aufhält, sitzt, mutmaßlich in suizidaler Absicht ein Messer an seinen Bauch haltend, im Innenhof der Einrichtung. Kurze Zeit später ist er tot – getroffen durch vier von sechs aus der Maschinenpistole eines Polizisten abgefeuerten Schüssen.Zunächst ist wenig darüber bekannt, was genau nach dem Eintreffen der Polizei passierte, doch schnell wirft jedes bekanntwerdende Detail neue Fragen auf. Knapp schreibt die Polizei Dortmund am Tattag bei Twitter: „Im Laufe des Einsatzes griff ein 16-jähriger junger Mann die Polizisten mit einem Messer an“, „daraufhin“ sei geschossen worden, man bitte, „von Spekulationen abzusehen“.In Trauer und Wut über den Tod des Jugendlichen versammeln sich am Folgetag Anwohner:innen, Menschen aus der Schwarzen Community und Aktivist:innen zu einer Kundgebung. Viele treten auf dem Kurt-Piehl-Platz unweit des Tatortes in der Holsteiner Straße ans Open Mic, äußern ihre Anteilnahme und stellen Fragen: „Warum greift die Polizei einen Jugendlichen in einer Notsituation mit Pfefferspray und Taser an?“ „Warum wurde kein Dolmetscher geholt, wenn doch angeblich mit ihm geredet wurde?“ „Warum hat die Polizei sich nicht zurückgezogen, als sie Mouhamed nicht davon überzeugen konnte, das Messer fallen zu lassen? Er befand sich doch auf einem abgesperrten Gelände.“„Die Polizei ist ein Rassismusproblem“Zahlreiche Berichte von Erfahrungen mit der Polizei in der Nordstadt und rassistischer Polizeigewalt auf der Nordwache folgen. „Wir erinnern uns an Oury Jalloh, Christy Schwundeck, wir erinnern uns an John Amadi, Dominique Koumadio, Amed Ahmad, Hussam Fadl, Laye Condé, wir erinnern uns an die mindestens 160 Menschen of Color, die in den letzten 30 Jahren von der deutschen Polizei getötet wurden oder in Haft ums Leben kamen. Nein, die Polizei hat kein Rassismusproblem, sie ist ein Rassismusproblem“, schallt es über den Kurt-Piehl-Platz. Im Anschluss ziehen etwa 400 Menschen spontan zur Nordwache, fordern dort die Herausgabe des Namens des Toten, um Angehörige im Senegal informieren zu können.Am nächsten Tag veröffentlichen Lokalmedien den Namen. Auch ein Foto findet wenig später seinen Weg in die Öffentlichkeit. Der Getötete heißt Mouhamed Lamine Dramé. Er soll sich nach traumatisierender Flucht in einer psychischen Ausnahmesituation befunden und sich wenige Tage zuvor noch auf eigenen Wunsch in psychiatrische Behandlung begeben haben.Dortmunds Oberbürgermeister Thomas Westphal und Stadtdirektor Jörg Stüdemann scheinen sich der Auswirkungen des Falles auf die Communitys in der Nordstadt sowie der Sprengkraft in der öffentlichen Wahrnehmung bewusst zu sein. Sie nehmen in einer Moschee am Totengebet für Mouhamed teil, suchen das Gespräch, verweisen jedoch gleichzeitig auf das nun „besonders nötige Vertrauen in den Rechtsstaat“. Nachdem sich die senegalesische Botschaft einschaltet, wird eine bereits geplante Beerdigung in Dortmund in letzter Minute gestoppt und der Leichnam in den Senegal überführt, wo er im Kreis von Mouhameds Familie und Freunden beerdigt wird. Auch im Senegal gibt es Demonstrationen und Forderungen, die Umstände des Todes aufzuklären. In Dortmund finden unterdessen Krisensitzungen, Gespräche und Veranstaltungen mit Vereinen und Akteur:innen in der Nordstadt statt. Ein Solidaritätskreis, der Kontakt zu Mouhameds Familie im Senegal aufgenommen hat, formiert sich.Ermittlungen „nicht vertrauensfördernd“Die Staatsanwaltschaft Dortmund ermittelt aus „Neutralitätsgründen“ mit Hilfe der Polizei Recklinghausen – während gleichzeitig die Dortmunder Polizei einem Fall tödlicher Polizeigewalt, der sich nur wenige Tage zuvor in Oer-Erkenschwick ereignet hat und damit in der Zuständigkeit der Recklinghäuser Polizei liegt, nachgeht. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani äußerte sich dazu kritisch auf Twitter: „Das ist nicht ‚neutral‘ und schon gar nicht vertrauensfördernd. Wenn das das übliche Vorgehen sein sollte, braucht es hier unübliches Vorgehen!“ Laut Aussage von Lisa Grüter, Nebenklageanwältin von Mouhameds Familie, gegenüber dem WDR, sollen sogar Polizist:innen der Nordwache die Kriminalpolizei bei Zeug:innenbefragungen im Tatortumfeld unterstützt haben. Während des tödlichen Einsatzes selbst soll keine:r der insgesamt 12 Beamt:innen eine Bodycam aktiviert haben.Vorrauseilendes Verständnis für die PolizeiNRW-Innenminister Herbert Reul behauptet unmittelbar nach der Tat: „Derjenige ist immer aufgeregter, ich sag mal angespannter, aggressiver auf die Polizisten zu gerannt. Und in dieser Situation ging es um die Frage: Sticht der zu – oder schießt die Polizei?“ Offenbar ohne Details zu kennen, stellt Reul sich vorschnell uneingeschränkt hinter die Version der Polizist:innen. Viele tun es ihm gleich: Polizeigewerkschafter:innen wie der Bundesvorsitzende der DPolG Manuel Ostermann, manch ein:e Journalist:in und der aufgehetzte Online-Mob überbieten sich in Verständnis für die Polizist:innen. Getrieben vom rassistischen Narrativ des „Messer-Manns“ skandalisiert Ex-Bild-Chefredakteur Julian Reichelt, dass um einen „Gewalttäter getrauert“ werde. Der Dortmunder AfD-Bundestagsabgeordnete Matthias Helferich schreibt in mehreren Online-Beiträgen von „einem bewaffneten Afrikaner“, dankt explizit der Polizei für ihren Einsatz und wittert eine „Verklärung von Migrantengewalt und Polizeibashing durch linke Kreise“.Anfang September tritt Oberstaatsanwalt Carsten Dombert mit einem Zwischenergebnis an die Öffentlichkeit. Es gibt deutliche Zweifel an der Darstellung der Polizei, sie habe in Notwehr gehandelt. Die Staatsanwaltschaft bewertet den Einsatz nun von Beginn an als „nicht verhältnismäßig“ und weitet die Ermittlungen aus: Gegen den Schützen wird nun wegen Totschlags ermittelt, gegen vier weitere Beamt:innen wegen Körperverletzung im Amt. Erst jetzt folgen dienstrechtliche Konsequenzen seitens des Polizeipräsidiums Dortmund. Der Todesschütze wird vom Dienst suspendiert, vier weitere Beamt:innen werden versetzt.Fall beschäftigt LandespolitikAuch in der Landespolitik wächst der Druck, der Fall beschäftigt sowohl den Rechts- als auch den Innenausschuss des Landtags. In einem Bericht des Innenministeriums heißt es: „Dass der Getötete von den Polizeibeamten zum Weglegen des Messers aufgefordert wurde, haben die Ermittlungen nicht ergeben.“ Weitere Details werden am 13. September bekannt, als dem Rechtsausschuss das Einsatzprotokoll der Polizei vorliegt. Aus diesem geht hervor, dass zwischen der ersten Kontaktaufnahme und den tödlichen Schüssen nur drei Minuten lagen. Darüber hinaus steht nun gar in Zweifel, ob oder in welcher Form sich Mouhamed, nachdem bereits Pfefferspray und Taser angewendet worden waren, überhaupt auf die Beamt:innen zubewegt hat. Von aggressivem Rennen, wie es Reul formulierte, ist keine Rede mehr. Polizeipräsident und Innenminister vollziehen einen kommunikativen Kurswechsel und beginnen, sich behutsam vom polizeilichen Vorgehen in dem Fall zu distanzieren.Im Polizeipräsidium Dortmund bedient man das Narrativ eines tragischen Einzelfalls. Gleichzeitig wird öffentlichkeitswirksam betont, wie sehr die Dortmunder Polizei für Vielfalt, Toleranz und Demokratie stehe, welche Erfolge man bei der Kriminalitätsbekämpfung und im Bereich Rechtsextremismus erzielt habe. Die Aktion „Talk with a Cop“ wird an verschiedenen Orten der Nordstadt gestartet, ohne dabei ein Wort über den Anlass der „neuen Bürgersprechstunde“ – die Erschießung Mouhameds – zu verlieren. Im Dialog im WDR 5 Stadtgespräch zum Thema „Tödliche Schüsse – Wie viel Vertrauen haben wir in die Polizei?“ unterstellt Polizeipräsident Gregor Lange dem hauptsächlich aus Nordstädter:innen bestehenden Publikum jedoch, in ihren kritischen Fragen und Erfahrungsschilderungen „nicht repräsentativ“ zu sein. Die Ermittlungen laufen unterdessen weiter, inzwischen wurden Handys der beteiligten Polizist:innen und die Dienstwaffe des Einsatzleiters beschlagnahmt.Radikal verschiedene Erfahrungswelten„Wenn die Polizei kommt, bin ich in Gefahr.“ Diese Aussage von Jugendlichen aus der Nordstadt, die an einem Talk im städtischen Dietrich-Keuning-Haus teilnahmen, verdeutlicht, dass die Polizei in der Wahrnehmung marginalisierter Gruppen keine Sicherheit bietet. Die vermeintliche Sicherheit der Mehrheitsgesellschaft wird auf Grundlage struktureller Gewalt und Repression gegen einen ganzen Stadtteil geschaffen. Vertrauen kann nur durch positive Erfahrungen hergestellt werden. Polizeiliches Handeln in der Nordstadt ist aber eingebettet in die Bedingungen, die die Polizei und das NRW-Innenministerium durch Reuls „Politik der tausend Nadelstiche“ geschaffen haben (vgl. LOTTA #68 und #78). Sogenannte „verdachtsunabhängige Kontrollen“, die in vielen Fällen schlicht Racial Profiling sind, Polizeigewalt, rassistische und sexistische Vorfälle auf der Nordwache gehören zum Alltag vieler Anwohner:innen. In diesem Klima erschüttert der Tod Mouhameds zwar viele. Überrascht, dass es gerade in der Nordstadt passierte, sind die wenigsten.Wer übernimmt Verantwortung?Über Jahre geschürte rassistische Diskurse sowie die untragbaren Zustände auf der Nordwache sind bisher medial kaum Thema. Kriminologen wie Thomas Feltes problematisieren seit langem eine „Cop Culture“, die sich in die Strukturen der Polizei einschreibt, und fordern deswegen etwa ein Rotationsprinzip für Wachen. Wenngleich es ein Erfolg der Proteste ist, dass diesmal genauer hingeschaut und überhaupt umfassend ermittelt wird, führt die Frage nach der individuellen Verantwortung der Polizist:innen nicht weiter. Vielmehr braucht es strukturelle Veränderungen auch jenseits der Polizeiarbeit.Die anfangs verbreitete Version eines Angriffs von Mouhamed auf die Polizei hat sich als unwahr herausgestellt. Mouhamed stellte keine Gefahr für die Einsatzkräfte dar, sondern hätte Hilfe benötigt. Die Ereignisse werfen einmal mehr die Frage nach kollektiver Verantwortungsübernahme und radikalen Veränderungen auf, denn es ist kein Zufall, dass Todesopfer von Polizeigewalt überwiegend Schwarze, Geflüchtete, Wohnungslose oder Menschen in psychischen Ausnahmesituationen sind.Der Fall Mouhamed erfährt aufgrund des öffentlichen Drucks vergleichsweise viel Aufmerksamkeit, die so schnell nicht verhallen wird. Doch es bleiben Fragen, nicht nur in Dortmund: Wer schützt uns vor der Polizei? Warum bringt der Tod von George Floyd auch in Deutschland Zehntausende auf die Straße, während es hier trotz der massenhaft geteilten Erfahrung von alltäglicher Polizeigewalt bisher keine größere gemeinsame Artikulation von Protest gibt? Und schließlich: Welche Alternativen zur Polizei gibt es? 2022-10-30T19:17:14+01:00 Rohkost-Guru und „Reichsbürger“-Ideologe | „Mister Raw“ und das „Königreich Deutschland“ in Hessen https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/87/rohkost-guru-und-reichsb-rger-ideologe Für die „Reichsbürger“ des „Königreichs Deutschland“ bietet der Anstieg irrationaler Weltanschauungen im Zuge der Corona-Krise eine Chance, neue Mitglieder zu gewinnen und neue Wohnprojekte für Pandemieleugner*innen zu schaffen. Mit der Hilfe eines Frankfurter Ernährungsberaters entstand im Mai 2022 in Hasselroth erstmals solch ein Projekt in Hessen.„Es gibt bald eine neue Welt Leute,“ sagt David Ekwe-Ebobisse („Mister Raw“) seinen Zuschauer*innen auf YouTube bei der Vorstellung eines „nachhaltigen“ Unternehmens im März 2022, in das er angeblich investiere. Er suggeriert, dass er nicht nur vital, sondern auch wohlhabend sei und man es mit seinem Rat auch werden könne. Dabei hat der vegane Ernährungsberater und Reichsideologe bereits ein Geschäft in den Sand gesetzt: 2021 sah er sich gezwungen, seine Gastronomie in Frankfurt zu schließen. Zur gleichen Zeit bekannte sich Ekwe-Ebobisse zum Königreich Deutschland (KRD).Die organisationsstarke „Reichsbürger“-Sekte2009 gründete Peter Fitzek den Verein NeuDeutschland in Wittenberg, um seine Reichsideologie zu verbreiten. Unter anderem wurde gefordert, die Grenzen des Deutschen Reiches von 1937 wiederherzustellen. 2012 ging hieraus das KRD hervor. Fitzek ließ sich in einer skurrilen Zeremonie zum König krönen. Seitdem nennt er sich hochtrabend „Peter I.“.Fitzek versucht, eine Parallelgesellschaft mit eigenen Ausweisen und Betrieben wie der mit Ebay vergleichbaren Verkaufsplattform Kauf das Richtige (KadaRi), aber auch einer eigenen Krankenkasse, Rentenversicherung und Bank, die sogenannte Gemeinwohlkasse (GWK), aufzubauen. Über die GWK sollen Kredite für Betriebsgründungen vergeben werden. Allen Angeboten ist gemein, dass man einzahlen kann, aber keine Auszahlung erhält. Das Landgericht Dessau-Roßlau stellte 2017 fest, dass Fitzek Anleger*innen um etwa 1,6 Millionen Euro geprellt hat. Wegen dieser und einer Vielzahl anderer Vergehen wird Fitzek immer wieder verurteilt und muss kurze Haftstrafen verbüßen.Anhänger*innen gewinnt er mit dem Versprechen, dass man als Angehörige*r des KRD keine Steuern zahlen müsse. Viele Selbstständige melden sich daher im KRD an und vertreiben über die Plattform KadaRi ihre Waren. Seit der Corona-Pandemie wirbt das KRD vor allem bei Pandemieleugner*innen um neue Mitglieder: Im KRD werden Schutzmasken, Tests und Impfungen strikt abgelehnt.„Weltgesundheitsformel“und „Gottkost“Ekwe-Ebobisse veröffentlichte 2014 eine dreibändige Buchreihe unter dem Titel „Die Weltgesundheitsformel“. Die Reihe ist als Dialog verfasst: zwischen ihm als erleuchteten, allwissenden Welterklärer und einer unwissenden Person, die er nach und nach in vermeintlich geheimes Wissen einweiht und so zur Erleuchtung führt.Er zeichnet eine Welt, die im Wesentlichen durch die Finanzbranche und Lebensmittelindustrie gelenkt werde. In antisemitischer Sprache spielt er immer wieder auf vermeintliche mächtige Kreise an, die die Weltgeschicke lenken würden, wie etwa „satanische Bruderschaften, elitäre Geheimbünde, der Orden der Illuminati und Freimaurer“. Er spricht hinsichtlich der Finanzbranche von einer „Heuschreckenplage“, die Lebensmittelindustrie nennt er „Lebensmittelmafia“ und er relativiert die Shoah, indem er Massentierhaltung als „Tier-KZ“s beschreibt. Als Gegenbewegung dazu preist er vegane Ernährung, die „Teil einer ganzheitlichen Friedensbewegung und Bewusstseinserweiterung des Menschen“ sei. Rohkost sei eine „Verjüngungskur“ für den Körper, durch die normale Alterungsprozesse verhindert werden könnten. Ekwe-Ebobisse verspricht „absolute Gesundheit“ und behauptet, dass man so auch Krebs heilen könne. Fleischkonsum hingegen sei Ausgangspunkt der meisten Menschheitsprobleme. Tierische Proteine seien Gifte, die langsam töten.In anderen Schriften und Videos verspricht er, dass vegane Ernährung Down-Syndrom oder Autismus „heilen“ könne. Er bezeichnet sie als „Gottkost“, die zur Erleuchtung führe. Wer hingegen Fleisch esse, ordne sich „dem Satanismus“ unter, wozu auch „Kinder aufessen“ gehöre. Laut ihm steht eine Apokalypse bevor, auf die man sich vorbereiten müsse.Das GeschäftspaarEkwe-Ebobisses Geschäftspartnerin ist seine Ehefrau Elisa Barrui. Videos zu Ernährung, Politik und Lifestyle werden in ihrer gemeinsamen Wohnung im Stadtteil Seckbach produziert. Barrui tritt in zahlreichen Videos auf, ebenso die beiden Kinder. Sie vermarkten sich als glückliche und gesundheitsbewusste Familie, während sie Nahrungsergänzungsmittel und weitere Produkte, die man über ihren Onlineshop kaufen kann, mit falschen Heilsversprechen bewerben. Geworben wird über zahlreiche Social-Media-Kanäle.Im Juni 2014 eröffneten sie im Sandweg in Frankfurt ihre erste Gastronomie, die vegane Smoothie-Bar Wir essen Blumen. 2016 erweiterten sie ihr Angebot um eine kleine Speisekarte und benannten sich in Greenfoody um. 2018 zogen sie mit ihrem Konzept in die Berger Straße und nannten sich fortan Rohkosteria. Hier konnte man neben Essen und Getränken auch eine Ernährungsberatung mit Ekwe-Ebobisse buchen. Gleichzeitig tritt der als Referent auf, etwa bei der esoterischen Rohvolution-Messe in Speyer 2018. Im Oktober 2018 wurde eine zweite Filiale der Rohkosteria im Franchise-Konzept von neuen Betreibern in Mannheim eröffnet, die aber kaum ein Jahr später geschlossen wurde. Die Frankfurter Rohkosteria musste schließlich 2021 ihre Türen schließen. Seit Pandemiebeginn wurden Hygienemaßnahmen kritisiert und vom Übergang in ein „neues Zeitalter“ fantasiert. In Videos berichtet Ekwe-Ebobisse von Problemen mit dem Finanzamt.Anfang 2021 kündigte er die Wiedereröffnung der Rohkosteria in einem von ihm und vom Ehepaar Matthias und Simone Eckert gegründeten „Gesundheitszentrum“ im bayerischen Oberelsbach an. Diese erfolgte bisher nicht, stattdessen wird Catering angeboten.Die Nachwuchs-GurusAngemeldet ist der „Dr. Raw“-Onlineshop zwar am Hauptsitz des KRD in Wittenberg, allerdings vertreibt auch die im März 2022 eingetragene Stecker Logistik UG in Wächtersbach seine Produkte. Diese wird von Moritz Stecker (@rawlution_) geführt. Stecker wurde bereits als 17-Jähriger von Ekwe-Ebobisse zu vermeintlichen Heilkuren interviewt, durch die „Parasiten“ aus dem Körper entfernt würden. Auch mit anderen Minderjährigen führte dieser ähnliche Interviews. Stecker betätigt sich seitdem als Zögling von Ekwe-Ebobisse im esoterischen Ernährungsberatungsgeschäft und war im Mai 2021 als Referent für den Kongress „Bewusst Leben“ von Jassin Rosstem in Siegburg angekündigt, wo er über die „Faszination der Aromen“ und ätherische Öle sprechen sollte. Rosstem behauptet, sich durch eine Ernährungsumstellung von Krebs geheilt zu haben. Auch Ekwe-Ebobisse war als Redner für den Kongress angekündigt.Stecker ist nicht der einzige Nachwuchs-Ernährungsguru, den Ekwe-Ebobisse um sich schart. Seine junge Mitarbeiterin Anna Bischmann (@annahealthyliving) aus Idstein schreibt etwa Texte für seine Social-Media-Kanäle. Bischmann preist ebenso in sozialen Medien die vermeintlichen Vorzüge von Rohkost an und behauptet, man könne sich durch Gedanken selbst heilen.Der politische AkteurNeben seiner gastronomischen Tätigkeit engagierte sich Ekwe-Ebobisse bei der V-Partei. Bei der Parteigründung 2016 wurde er zum Vizevorsitzenden gewählt. Von diesem Posten trat er jedoch bereits nach drei Monaten zurück, da er in einem Video Massentierhaltung als schlimmeres Verbrechen als den Holocaust bezeichnet hatte. Die Partei distanzierte sich daraufhin von seinen antisemitischen Ausführungen. Als sich die Schließung der Rohkosteria bereits anbahnte, kündigte er Ende 2020 an, sich dem KRD anschließen zu wollen. Fitzek nutzte seinen Beitritt als Werbung. In seinen Videos wirbt Ekwe-Ebobisse seitdem für das KRD, behauptet, die Bundesrepublik sei eine „Firma“, zeigt stolz seinen „Ausweis“ und preist die Steuerfreiheit an, die er dadurch genieße.Netz der SelbstständigenAuch weitere Selbstständige aus der esoterischen Szene bekennen sich zum KRD in Hessen. So etwa die „Heilerin“ Julia von Niebelschütz aus Taunusstein. Sie bezieht sich in ihrer Arbeit auf die „fünf biologischen Naturgesetze“ des antisemitischen Theoretikers Ryke Geerd Hamer (s. LOTTA #59, S. 30 f.). Eine weitere Akteurin ist Manuela Kuhar. Bis 2019 betrieb sie das Massage-Studio Jivaka Castle in Kirchhain-Burgholz. Heute arbeitet sie laut Recherchen von AnonLeaks im Bereich „Redaktion und Öffentlichkeitsarbeit“ für das KRD. In dieser Funktion interviewte sie Becker und Ekwe-Ebobisse im August 2021. Über ihre Webseite bietet sie Coachings und Massagen an.Regionalleiter des KRD für das Rhein-Main-Gebiet ist der studierte Bauingenieur Jens Becker. Wie Kuhar hilft er, Kanäle des KRD bei Telegram zu verwalten, und beantwortet Fragen von Interessierten. Über seine Firma EMX-Exchange bietet er pseudowissenschaftliche Behandlungsmethoden bis hin zu alten Feuerlöschern an. Auch Seminare werden angeboten, etwa zum Thema Kryptowährungen oder zu „Russischer Lichtnahrung“ mit Cornelia Cegar, um sich „unabhängiger von physischer Nahrung“ zu machen. Becker betrieb zudem bis März 2022 die Plattform Comeinspirit für die Vernetzung von Esoteriker*innen im Raum Darmstadt.„Die brauchen wir hier nicht“Becker und Ekwe-Ebobisse suchten schon länger nach einem Raum, um ihren Traum von einem Lebensmittelgeschäft samt GWK umzusetzen. Zunächst wurde seit Januar 2021 über die Anmietung von Räumen in Frankfurt diskutiert, was sich allerdings nicht konkretisierte. Kuhar monierte, eine Stadt sei für ein solches Projekt nicht geeignet, man solle lieber im ländlichen Raum suchen. Im Sommer 2021 erkundigte sich der Aschaffenburger KRD-Tarnverein FairTeilen e.V. um Marco Ginzel und Miriam Stajanovic bei hessischen Kommunen nach geeigneten Grundstücken für die Gründung eines „ökologischen Gemeinwohldorfes“. Dies ist Teil der „Dorf­projekt“-Kampagne des KRD, um autarke Strukturen in ländlichen Räumen zu schaffen.Schließlich wurde im März 2022 die Eröffnung des Projektzentrums Hasselroth samt Lebensmittelladen Paradiesgarten für „Staatsangehörige des KRD“ in Hasselroth-Neunhaßlau angekündigt. Geworben wurde mit dem Versprechen, dass man hier „dauerhaft maskenfrei, testfrei und ohne Impfzwang“ einkaufen könne. Geplant war eine Eröffnungsfeier mit Seminaren von Becker, Ekwe-Ebobisse, Ginzel und dem Frankfurter Antiquitätenhändler und Wirtschaftsberater Johannes Schweppenhäuser. Bei der Bewerbung half Anna Bischmann.Nachdem Antifaschst*innen auf das Projekt hinwiesen, regte sich Widerstand im Ort: „Die brauchen wir hier nicht“, sagte der Bürgermeister bei einer Kundgebung gegen das Projektzentrum. Daraufhin wurde die Eröffnungsfeier abgesagt, auch das geplante Lebensmittelgeschäft wurde vorerst aufgegeben. Stattdessen wurde das Haus von einer unbekannten Anzahl an Personen als Wohnprojekt bezogen. Die Vermieterin behauptet, nichts über den politischen Hintergrund ihrer Mieter*innen gewusst zu haben und den Mietvertrag aufkündigen zu wollen. Ob aus dem Wohnprojekt ein neues politisches Zentrum für die Reichsbürgerbewegung in Hessen erwachsen wird, bleibt abzuwarten. Braunzone 7779 Mon, 29 Aug 2022 12:54:13 +0200 LOTTA Rohkost-Guru und „Reichsbürger“-Ideologe Carl Kinsky Für die „Reichsbürger“ des „Königreichs Deutschland“ bietet der Anstieg irrationaler Weltanschauungen im Zuge der Corona-Krise eine Chance, neue Mitglieder zu gewinnen und neue Wohnprojekte für Pandemieleugner*innen zu schaffen. Mit der Hilfe eines Frankfurter Ernährungsberaters entstand im Mai 2022 in Hasselroth erstmals solch ein Projekt in Hessen.„Es gibt bald eine neue Welt Leute,“ sagt David Ekwe-Ebobisse („Mister Raw“) seinen Zuschauer*innen auf YouTube bei der Vorstellung eines „nachhaltigen“ Unternehmens im März 2022, in das er angeblich investiere. Er suggeriert, dass er nicht nur vital, sondern auch wohlhabend sei und man es mit seinem Rat auch werden könne. Dabei hat der vegane Ernährungsberater und Reichsideologe bereits ein Geschäft in den Sand gesetzt: 2021 sah er sich gezwungen, seine Gastronomie in Frankfurt zu schließen. Zur gleichen Zeit bekannte sich Ekwe-Ebobisse zum Königreich Deutschland (KRD).Die organisationsstarke „Reichsbürger“-Sekte2009 gründete Peter Fitzek den Verein NeuDeutschland in Wittenberg, um seine Reichsideologie zu verbreiten. Unter anderem wurde gefordert, die Grenzen des Deutschen Reiches von 1937 wiederherzustellen. 2012 ging hieraus das KRD hervor. Fitzek ließ sich in einer skurrilen Zeremonie zum König krönen. Seitdem nennt er sich hochtrabend „Peter I.“.Fitzek versucht, eine Parallelgesellschaft mit eigenen Ausweisen und Betrieben wie der mit Ebay vergleichbaren Verkaufsplattform Kauf das Richtige (KadaRi), aber auch einer eigenen Krankenkasse, Rentenversicherung und Bank, die sogenannte Gemeinwohlkasse (GWK), aufzubauen. Über die GWK sollen Kredite für Betriebsgründungen vergeben werden. Allen Angeboten ist gemein, dass man einzahlen kann, aber keine Auszahlung erhält. Das Landgericht Dessau-Roßlau stellte 2017 fest, dass Fitzek Anleger*innen um etwa 1,6 Millionen Euro geprellt hat. Wegen dieser und einer Vielzahl anderer Vergehen wird Fitzek immer wieder verurteilt und muss kurze Haftstrafen verbüßen.Anhänger*innen gewinnt er mit dem Versprechen, dass man als Angehörige*r des KRD keine Steuern zahlen müsse. Viele Selbstständige melden sich daher im KRD an und vertreiben über die Plattform KadaRi ihre Waren. Seit der Corona-Pandemie wirbt das KRD vor allem bei Pandemieleugner*innen um neue Mitglieder: Im KRD werden Schutzmasken, Tests und Impfungen strikt abgelehnt.„Weltgesundheitsformel“und „Gottkost“Ekwe-Ebobisse veröffentlichte 2014 eine dreibändige Buchreihe unter dem Titel „Die Weltgesundheitsformel“. Die Reihe ist als Dialog verfasst: zwischen ihm als erleuchteten, allwissenden Welterklärer und einer unwissenden Person, die er nach und nach in vermeintlich geheimes Wissen einweiht und so zur Erleuchtung führt.Er zeichnet eine Welt, die im Wesentlichen durch die Finanzbranche und Lebensmittelindustrie gelenkt werde. In antisemitischer Sprache spielt er immer wieder auf vermeintliche mächtige Kreise an, die die Weltgeschicke lenken würden, wie etwa „satanische Bruderschaften, elitäre Geheimbünde, der Orden der Illuminati und Freimaurer“. Er spricht hinsichtlich der Finanzbranche von einer „Heuschreckenplage“, die Lebensmittelindustrie nennt er „Lebensmittelmafia“ und er relativiert die Shoah, indem er Massentierhaltung als „Tier-KZ“s beschreibt. Als Gegenbewegung dazu preist er vegane Ernährung, die „Teil einer ganzheitlichen Friedensbewegung und Bewusstseinserweiterung des Menschen“ sei. Rohkost sei eine „Verjüngungskur“ für den Körper, durch die normale Alterungsprozesse verhindert werden könnten. Ekwe-Ebobisse verspricht „absolute Gesundheit“ und behauptet, dass man so auch Krebs heilen könne. Fleischkonsum hingegen sei Ausgangspunkt der meisten Menschheitsprobleme. Tierische Proteine seien Gifte, die langsam töten.In anderen Schriften und Videos verspricht er, dass vegane Ernährung Down-Syndrom oder Autismus „heilen“ könne. Er bezeichnet sie als „Gottkost“, die zur Erleuchtung führe. Wer hingegen Fleisch esse, ordne sich „dem Satanismus“ unter, wozu auch „Kinder aufessen“ gehöre. Laut ihm steht eine Apokalypse bevor, auf die man sich vorbereiten müsse.Das GeschäftspaarEkwe-Ebobisses Geschäftspartnerin ist seine Ehefrau Elisa Barrui. Videos zu Ernährung, Politik und Lifestyle werden in ihrer gemeinsamen Wohnung im Stadtteil Seckbach produziert. Barrui tritt in zahlreichen Videos auf, ebenso die beiden Kinder. Sie vermarkten sich als glückliche und gesundheitsbewusste Familie, während sie Nahrungsergänzungsmittel und weitere Produkte, die man über ihren Onlineshop kaufen kann, mit falschen Heilsversprechen bewerben. Geworben wird über zahlreiche Social-Media-Kanäle.Im Juni 2014 eröffneten sie im Sandweg in Frankfurt ihre erste Gastronomie, die vegane Smoothie-Bar Wir essen Blumen. 2016 erweiterten sie ihr Angebot um eine kleine Speisekarte und benannten sich in Greenfoody um. 2018 zogen sie mit ihrem Konzept in die Berger Straße und nannten sich fortan Rohkosteria. Hier konnte man neben Essen und Getränken auch eine Ernährungsberatung mit Ekwe-Ebobisse buchen. Gleichzeitig tritt der als Referent auf, etwa bei der esoterischen Rohvolution-Messe in Speyer 2018. Im Oktober 2018 wurde eine zweite Filiale der Rohkosteria im Franchise-Konzept von neuen Betreibern in Mannheim eröffnet, die aber kaum ein Jahr später geschlossen wurde. Die Frankfurter Rohkosteria musste schließlich 2021 ihre Türen schließen. Seit Pandemiebeginn wurden Hygienemaßnahmen kritisiert und vom Übergang in ein „neues Zeitalter“ fantasiert. In Videos berichtet Ekwe-Ebobisse von Problemen mit dem Finanzamt.Anfang 2021 kündigte er die Wiedereröffnung der Rohkosteria in einem von ihm und vom Ehepaar Matthias und Simone Eckert gegründeten „Gesundheitszentrum“ im bayerischen Oberelsbach an. Diese erfolgte bisher nicht, stattdessen wird Catering angeboten.Die Nachwuchs-GurusAngemeldet ist der „Dr. Raw“-Onlineshop zwar am Hauptsitz des KRD in Wittenberg, allerdings vertreibt auch die im März 2022 eingetragene Stecker Logistik UG in Wächtersbach seine Produkte. Diese wird von Moritz Stecker (@rawlution_) geführt. Stecker wurde bereits als 17-Jähriger von Ekwe-Ebobisse zu vermeintlichen Heilkuren interviewt, durch die „Parasiten“ aus dem Körper entfernt würden. Auch mit anderen Minderjährigen führte dieser ähnliche Interviews. Stecker betätigt sich seitdem als Zögling von Ekwe-Ebobisse im esoterischen Ernährungsberatungsgeschäft und war im Mai 2021 als Referent für den Kongress „Bewusst Leben“ von Jassin Rosstem in Siegburg angekündigt, wo er über die „Faszination der Aromen“ und ätherische Öle sprechen sollte. Rosstem behauptet, sich durch eine Ernährungsumstellung von Krebs geheilt zu haben. Auch Ekwe-Ebobisse war als Redner für den Kongress angekündigt.Stecker ist nicht der einzige Nachwuchs-Ernährungsguru, den Ekwe-Ebobisse um sich schart. Seine junge Mitarbeiterin Anna Bischmann (@annahealthyliving) aus Idstein schreibt etwa Texte für seine Social-Media-Kanäle. Bischmann preist ebenso in sozialen Medien die vermeintlichen Vorzüge von Rohkost an und behauptet, man könne sich durch Gedanken selbst heilen.Der politische AkteurNeben seiner gastronomischen Tätigkeit engagierte sich Ekwe-Ebobisse bei der V-Partei. Bei der Parteigründung 2016 wurde er zum Vizevorsitzenden gewählt. Von diesem Posten trat er jedoch bereits nach drei Monaten zurück, da er in einem Video Massentierhaltung als schlimmeres Verbrechen als den Holocaust bezeichnet hatte. Die Partei distanzierte sich daraufhin von seinen antisemitischen Ausführungen. Als sich die Schließung der Rohkosteria bereits anbahnte, kündigte er Ende 2020 an, sich dem KRD anschließen zu wollen. Fitzek nutzte seinen Beitritt als Werbung. In seinen Videos wirbt Ekwe-Ebobisse seitdem für das KRD, behauptet, die Bundesrepublik sei eine „Firma“, zeigt stolz seinen „Ausweis“ und preist die Steuerfreiheit an, die er dadurch genieße.Netz der SelbstständigenAuch weitere Selbstständige aus der esoterischen Szene bekennen sich zum KRD in Hessen. So etwa die „Heilerin“ Julia von Niebelschütz aus Taunusstein. Sie bezieht sich in ihrer Arbeit auf die „fünf biologischen Naturgesetze“ des antisemitischen Theoretikers Ryke Geerd Hamer (s. LOTTA #59, S. 30 f.). Eine weitere Akteurin ist Manuela Kuhar. Bis 2019 betrieb sie das Massage-Studio Jivaka Castle in Kirchhain-Burgholz. Heute arbeitet sie laut Recherchen von AnonLeaks im Bereich „Redaktion und Öffentlichkeitsarbeit“ für das KRD. In dieser Funktion interviewte sie Becker und Ekwe-Ebobisse im August 2021. Über ihre Webseite bietet sie Coachings und Massagen an.Regionalleiter des KRD für das Rhein-Main-Gebiet ist der studierte Bauingenieur Jens Becker. Wie Kuhar hilft er, Kanäle des KRD bei Telegram zu verwalten, und beantwortet Fragen von Interessierten. Über seine Firma EMX-Exchange bietet er pseudowissenschaftliche Behandlungsmethoden bis hin zu alten Feuerlöschern an. Auch Seminare werden angeboten, etwa zum Thema Kryptowährungen oder zu „Russischer Lichtnahrung“ mit Cornelia Cegar, um sich „unabhängiger von physischer Nahrung“ zu machen. Becker betrieb zudem bis März 2022 die Plattform Comeinspirit für die Vernetzung von Esoteriker*innen im Raum Darmstadt.„Die brauchen wir hier nicht“Becker und Ekwe-Ebobisse suchten schon länger nach einem Raum, um ihren Traum von einem Lebensmittelgeschäft samt GWK umzusetzen. Zunächst wurde seit Januar 2021 über die Anmietung von Räumen in Frankfurt diskutiert, was sich allerdings nicht konkretisierte. Kuhar monierte, eine Stadt sei für ein solches Projekt nicht geeignet, man solle lieber im ländlichen Raum suchen. Im Sommer 2021 erkundigte sich der Aschaffenburger KRD-Tarnverein FairTeilen e.V. um Marco Ginzel und Miriam Stajanovic bei hessischen Kommunen nach geeigneten Grundstücken für die Gründung eines „ökologischen Gemeinwohldorfes“. Dies ist Teil der „Dorf­projekt“-Kampagne des KRD, um autarke Strukturen in ländlichen Räumen zu schaffen.Schließlich wurde im März 2022 die Eröffnung des Projektzentrums Hasselroth samt Lebensmittelladen Paradiesgarten für „Staatsangehörige des KRD“ in Hasselroth-Neunhaßlau angekündigt. Geworben wurde mit dem Versprechen, dass man hier „dauerhaft maskenfrei, testfrei und ohne Impfzwang“ einkaufen könne. Geplant war eine Eröffnungsfeier mit Seminaren von Becker, Ekwe-Ebobisse, Ginzel und dem Frankfurter Antiquitätenhändler und Wirtschaftsberater Johannes Schweppenhäuser. Bei der Bewerbung half Anna Bischmann.Nachdem Antifaschst*innen auf das Projekt hinwiesen, regte sich Widerstand im Ort: „Die brauchen wir hier nicht“, sagte der Bürgermeister bei einer Kundgebung gegen das Projektzentrum. Daraufhin wurde die Eröffnungsfeier abgesagt, auch das geplante Lebensmittelgeschäft wurde vorerst aufgegeben. Stattdessen wurde das Haus von einer unbekannten Anzahl an Personen als Wohnprojekt bezogen. Die Vermieterin behauptet, nichts über den politischen Hintergrund ihrer Mieter*innen gewusst zu haben und den Mietvertrag aufkündigen zu wollen. Ob aus dem Wohnprojekt ein neues politisches Zentrum für die Reichsbürgerbewegung in Hessen erwachsen wird, bleibt abzuwarten. 2022-08-29T12:54:13+02:00 „Das käme einem Todesurteil gleich….“ | Vor 30 Jahren wurde Abdelkader Rhiourhi in Dortmund getötet https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/87/das-k-me-einem-todesurteil-gleich Am 4. Oktober 1992 erschoss ein Rechtsradikaler auf offener Straße in Dortmund-Westerfilde Abdelkader Rhiourhi. Auch dessen zwei Begleiter wurden durch Schüsse zum Teil schwer verletzt. Da der Täter stark alkoholisiert war, verurteilte ihn das Landgericht Dortmund wegen „Vollrausches“. Ein rassistisches Motiv sah es nicht vorliegen, auch weil der Tat ein Streit in einer Kneipe vorangegangen war.Am späten Abend des „Tags der deutschen Einheit“ betrat der bereits alkoholisierte Rechtsradikale Fred Seitz die Kneipe Westerfilder Stübchen, in der er weiter Bier trank. Gäste der Kneipe waren auch die späteren Opfer, mit denen es zu einem Streitgespräch kam. Dabei soll Seitz vor allem mit dem späteren Todesopfer Abdelkader Rhiourhi aneinandergeraten sein. Worum es in dem lautstark geführten Streit ging, konnte nicht im Detail geklärt werden, da sich auf Französisch unterhalten wurde. Thema war aber der Einsatz der Fremdenlegion in Nordafrika. Nachdem der Wirt gegen 4:00 Uhr Seitz und die drei anderen Männer vor die Tür gesetzt hatte, eskalierte wenig später die Situation. Der Angeklagte gab vor Gericht an, dass Rhiourhi ihm ins Gesicht gespuckt habe. Daraufhin zog er seine Pistole und schoss ihm aus nächster Nähe in die Brust. Rhiourhi verstarb wenige Stunden später im Krankenhaus. Seitz attackierte auch Rhiourhis Begleiter, schoss mindestens sechs Mal. Die zwei ebenfalls aus dem Maghreb stammenden Männer im Alter von 36 und 45 Jahren wurden durch die Schüsse verletzt. Bei einem Opfer mussten in einer Notoperation drei Kugeln aus dem Bauchraum entfernt werden. Beide kämpften noch lange mit den gesundheitlichen Folgen der Tat. Über die Opfer ist nur wenig bekannt. Aus der damaligen Medienberichterstattung ist nur zu erfahren, dass der damals 30-jährige Rhiourhi eine junge Familie hinterließ.Um 9:00 Uhr am Morgen nahm die Polizei Seitz in seiner Wohnung fest. Sie fand ihn seinen Rausch ausschlafend auf dem Sofa, die Tatwaffe in der Hand und eine Flasche „Mariacron“ vor sich. Ein Blutalkoholtest zeigte weit über drei Promille an. Bei seiner Festnahme soll Seitz den Polizist*innen mitgeteilt haben, die „Araber“ hätten ihn als „Drecksdeutschen“ beschimpft und angespuckt. Eine solche Handlung käme einem Todesurteil gleich. Die Lokalzeitung beschrieb den Täter als 43-jährigen Familienvater, der im Stadtteil wegen seiner früheren Tätigkeit bei der Fremdenlegion als „der Franzose“ bekannt sei. Bereits als Jugendlicher war Seitz in der DDR wegen Vorbereitung der „Republikflucht“ inhaftiert worden. Ein weiterer Fluchtversuch führte zu weiteren dreieinhalb Jahren Haft im DDR-Gefängnis und zur Abschiebung in die BRD, wo er seit 1972 lebte. Hier absolvierte er seinen Wehrdienst bei der Bundeswehr, wurde aber wegen Leistungsfunktionsstörungen frühzeitig entlassen. Er verpflichtete sich dann bei der Fremdenlegion, wo er eine Sprengstoff-Ausbildung erhielt und einige Zeit in Französisch-Guayana stationiert war. Als er in den von Kriegswirren gezeichneten Tschad versetzt werden sollte, desertierte er nach Deutschland. 1984 wurde er in den Niederlanden wegen des Raubüberfalls auf einen Juwelier zu einer Haftstrafe verurteilt.Verurteilt wegen „Vollrausch“Für die Schüsse auf Rhiourhi und seine Begleiter wurde Seitz im Juli 1993 nicht wegen Mordes oder Totschlags verurteilt, sondern nach §323a StGB wegen „Vollrausches“. Dieser Paragraph nimmt eine Sonderstellung ein, denn er bestraft Personen, die zwar eine rechtswidrige Tat verübten, aber zugleich als schuldunfähig gelten, da sie sich bei der Tat in einem Rauschzustand befanden. Mit Höchststrafe von fünf Jahren Haft wird deshalb nicht die rechtswidrige Tat als solche — hier die Schüsse auf die drei Männer — sondern nur die Handlung bestraft, sich vorsätzlich oder fahrlässig in einen Rausch versetzt zu haben. Gegen Seitz verhängte das Landgericht Dortmund eine Freiheitsstrafe von vier Jahren. Dabei konnte weder mit vollständiger Sicherheit geklärt werden, dass Seitz tatsächlich angespuckt worden war, noch genau bestimmt werden, wie stark alkoholisiert er bei der Tat war. Es ist gut möglich, dass er nach der Tat zuhause weiter Schnaps konsumierte. Doch das Gericht entschied „im Zweifel für den Angeklagten“.Zwar nahm das Gericht die rassistische Einstellung des Täters, insbesondere sein „verwurzelte[s] Vorurteil“ gegenüber Nordafrikanern, wahr, es sei aber nicht feststellbar, dass die Tat durch „eine allgemeine ausländerfeindliche Gesinnung mitmotiviert war“, so das Gericht in seinem Urteil. Darin heißt es: „Vor dem Hintergrund der erheblichen Alkoholisierung und der durch das nicht ausschließbare Anspucken aufgebauten affektiven Bewusstseinslage ist es nicht ausschließbar, daß allein diese Faktoren tatauslösend waren und eine möglicherweise vorhandene ausländerfeindliche Einstellung hierdurch vollständig in den Hintergrund gedrängt worden ist“. Im vorangegangenen Streit und vor allem in der „Provokation“ durch das Opfer sah das Gericht die Gründe für die Schüsse, gleichwohl es festhielt, dass Seitz vollkommen unangemessen auf diesen Tatanlass reagiert habe. Die Nebenklage war von „Ausländerhaß“ als Motiv ausgegangen.Kein großes ThemaAls rechtsmotiviert ist die Gewalttat nicht eingestuft worden, auch nicht nachträglich. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung spielte der Hintergrund des Täters keine große Rolle. Dabei fielen die Schüsse in einer von rassistischen Anschlägen geprägten Zeit, die sich nach den Pogromen von Rostock-Lichtenhagen im August 1992 stark häuften. Die politische Debatte um die Beschneidung des Grundrechts auf Asyl steuerte auf einem Höhepunkt zu, zugleich mehrten sich sorgenvolle Berichte über die Wirkung der Neonazi-Gewalt auf „Investoren“ und das „Ansehen Deutschlands im Ausland“. Die Tatnacht folgt dem „Tag der deutschen Einheit“, der 1992 bestimmt war von rechter Gewalt, einer Neonazi-Mobilisierung nach Dresden und Antifa-Demos in mehreren Großstädten. Im Dortmunder Stadtteil Wambel verunstalteten Unbekannte in derselben Nacht auf dem Jüdischen Friedhof 30 Gräber und sprühten Parolen wie „Hass auf Juden“ und Hakenkreuze. Die erste Seite des Lokalteils der Westfälischen Rundschau berichtete sowohl über diese Schmierereien als auch über die Schüsse in Westerfilde. Den Hintergrund letzterer sah die Zeitung in „viel Alkohol, vermutlich eine[r] gehörige Portion Ausländerhaß, speziell gegen Afrikaner; schließlich ein Streit“. Zwar wurde erwähnt, dass der Täter die Opfer als „Schwarzfüße“ beschimpft habe, aber auch hier dominiert die Deutung der Tat als Folge eines Kneipenstreits. Wenige Tage später beklagte der Dortmunder Oberbürgermeister den „Höhepunkt der Ausländerfeindlichkeit“ und forderte, dass die „Anständigen“ mobilisiert werden müssten. Doch ebenso wie die folgenden Kundgebungen „gegen Rechts“ nahm er auf die Schüsse von Westerfilde keinen Bezug. Auch bei Prozessbeginn, nur wenige Tage nach dem tödlichen Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç in Solingen, blieb das öffentliche Interesse begrenzt. Rechte Gewalt war ein großes Thema, die Schüsse von Westerfilde wurden aber nicht in diesen Kontext gestellt. In der Folge geriet die Gewalttat in Vergessenheit.Hinweise im NSU-KontextNach seiner Haftentlassung lebte Seitz weiter in Dortmund-Westerfilde. Die Ruhrnachrichten schrieben 2017, er sei ein guter Bekannter von Siegfried Borchardt gewesen, mit dem er immer mal wieder zusammen im Garten gesessen habe. Als Aktivist der lokalen Neonazi-Szene fiel er aber nicht auf. In den Blick der Öffentlichkeit geriet Seitz erst im Zuge der NSU-Aufarbeitung. Kurz nach der Selbstenttarnung der Terrorgruppe erzählte Sebastian Seemann, ein ehemaliger V-Mann des NRW-Verfassungschutzes und Neonazi aus Lünen, den Beamt*innen des Polizeilichen Staatsschutzes in zwei Gesprächen von der Bildung einer Combat 18-Zelle Mitte der 2000er Jahre, der er selbst sowie sechs weitere Dortmunder Neonazis aus der Oidoxie Streetfighting Crew angehört hätten. Als Vorbild der Zelle sollten die Ausführungen in den „Turner Diaries“ dienen. Es hätten Pläne existiert, sich zu bewaffnen. Seemann verfügte zum damaligen Zeitpunkt über mehrere Schusswaffen, darunter auch „aufgebohrte“ Pump-Action-Schrotflinten, die in „scharfe“ Schusswaffen verwandelt worden waren. Er gab der Polizei auch einen Hinweis, wer für solche Umbauarbeiten an Schreckschuss- und Dekowaffen in Betracht käme: Fred Seitz. Es war nicht das erste Mal, dass Seemann von diesen Sachverhalten berichtete. Dem NRW-Verfassungsschutz hatte er davon schon 2005, zu Beginn der Zusammenarbeit, erzählt. Und dem Polizeilichen Staatsschutz Dortmund lagen seit 2004 Hinweise vor, dass Seitz für Seemann Schusswaffen umgebaut haben soll.Waffen für die NeonaziszeneEine rechtskräftige Verurteilung aus dem Jahr 2000 stärkt die Glaubwürdigkeit dieser Vorwürfe. Als Seitz und ein Komplize am 17. April 2000 auf einem Parkplatz in der Nähe des Kamener Kreuzes zwei Schusswaffen verkaufen wollten, nahm ein Sondereinsatzkommando die beiden fest. Bei Seitz zu Hause stellte die Polizei zahlreiche Schusswaffen und Munition sicher. Das Amtsgericht Unna verurteilte ihn daraufhin „wegen Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Kriegswaffe in Tateinheit mit Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Schußwaffe und wesentliche Teile von Schußwaffen in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer Schußwaffe sowie unerlaubten Herstellens von Schußwaffen“ zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, die allerdings zu Bewährung ausgesetzt wurde. 2003 notierte die Polizei in einem Vermerk, Seitz sei „,mindestens ein Deutschnationaler […], möglicherweise auch ein Rechtsradikaler. Er haßt die Ausländer und ist ein Waffennarr.“ Auch eine familiäre Verbindung stützt den Verdacht, dass Seitz ein möglicher Waffenlieferant militanter Neonazis in Dortmund war: Sein Sohn war nachweislich Teil der Oidoxie Streetfighting Crew und wurde von Seemann auch als ein Mitglied der Dortmunder C18-Zelle genannt.Drei Jahre verstrichen ungenutzt, bis die Hinweise von Seemann zu Ermittlungen des Generalbundesanwaltes führten. Erst nachdem die Nebenklage im Münchener NSU-Prozess Beweisanträge zur Vernehmung von Seemann und dem Oidoxie-Frontmann Marko Gottschalk gestellt hatte, wurden diese 2014 vom BKA befragt. Dabei hatte Seemann angeboten, abzuklären, ob die vom NSU bei zwei Morden benutzte „scharfgemachte“ Schreckschusspistole „Bruni“ eine Arbeit von Seitz gewesen sei. Als man ihm endlich Fotos der Waffe zeigte, erklärte er, ihm sei nicht bekannt sei, dass Seitz jemals eine solche Waffe umgebaut habe. Seitz selbst wurde weder im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München noch von einem Untersuchungsausschuss und soweit bekannt auch nicht durch das BKA vernommen. Auch in einem anderen Verfahren wegen Neonazi-Gewalt tauchte er als Zeuge nicht auf. Im Juni 2000 erschoss Michael Berger in Dortmund und Waltrop drei Polizist*innen. Wer Berger, übrigens ein Freund von Seemann, seine — allerdings nicht „scharf“ gemachten — Waffen verkaufte, konnte nie geklärt werden. Am 11. September 2019 verstarb Seitz in Dortmund. Extreme Rechte 7776 Mon, 29 Aug 2022 12:50:18 +0200 LOTTA „Das käme einem Todesurteil gleich….“ Jan-Henning Schmitt Am 4. Oktober 1992 erschoss ein Rechtsradikaler auf offener Straße in Dortmund-Westerfilde Abdelkader Rhiourhi. Auch dessen zwei Begleiter wurden durch Schüsse zum Teil schwer verletzt. Da der Täter stark alkoholisiert war, verurteilte ihn das Landgericht Dortmund wegen „Vollrausches“. Ein rassistisches Motiv sah es nicht vorliegen, auch weil der Tat ein Streit in einer Kneipe vorangegangen war.Am späten Abend des „Tags der deutschen Einheit“ betrat der bereits alkoholisierte Rechtsradikale Fred Seitz die Kneipe Westerfilder Stübchen, in der er weiter Bier trank. Gäste der Kneipe waren auch die späteren Opfer, mit denen es zu einem Streitgespräch kam. Dabei soll Seitz vor allem mit dem späteren Todesopfer Abdelkader Rhiourhi aneinandergeraten sein. Worum es in dem lautstark geführten Streit ging, konnte nicht im Detail geklärt werden, da sich auf Französisch unterhalten wurde. Thema war aber der Einsatz der Fremdenlegion in Nordafrika. Nachdem der Wirt gegen 4:00 Uhr Seitz und die drei anderen Männer vor die Tür gesetzt hatte, eskalierte wenig später die Situation. Der Angeklagte gab vor Gericht an, dass Rhiourhi ihm ins Gesicht gespuckt habe. Daraufhin zog er seine Pistole und schoss ihm aus nächster Nähe in die Brust. Rhiourhi verstarb wenige Stunden später im Krankenhaus. Seitz attackierte auch Rhiourhis Begleiter, schoss mindestens sechs Mal. Die zwei ebenfalls aus dem Maghreb stammenden Männer im Alter von 36 und 45 Jahren wurden durch die Schüsse verletzt. Bei einem Opfer mussten in einer Notoperation drei Kugeln aus dem Bauchraum entfernt werden. Beide kämpften noch lange mit den gesundheitlichen Folgen der Tat. Über die Opfer ist nur wenig bekannt. Aus der damaligen Medienberichterstattung ist nur zu erfahren, dass der damals 30-jährige Rhiourhi eine junge Familie hinterließ.Um 9:00 Uhr am Morgen nahm die Polizei Seitz in seiner Wohnung fest. Sie fand ihn seinen Rausch ausschlafend auf dem Sofa, die Tatwaffe in der Hand und eine Flasche „Mariacron“ vor sich. Ein Blutalkoholtest zeigte weit über drei Promille an. Bei seiner Festnahme soll Seitz den Polizist*innen mitgeteilt haben, die „Araber“ hätten ihn als „Drecksdeutschen“ beschimpft und angespuckt. Eine solche Handlung käme einem Todesurteil gleich. Die Lokalzeitung beschrieb den Täter als 43-jährigen Familienvater, der im Stadtteil wegen seiner früheren Tätigkeit bei der Fremdenlegion als „der Franzose“ bekannt sei. Bereits als Jugendlicher war Seitz in der DDR wegen Vorbereitung der „Republikflucht“ inhaftiert worden. Ein weiterer Fluchtversuch führte zu weiteren dreieinhalb Jahren Haft im DDR-Gefängnis und zur Abschiebung in die BRD, wo er seit 1972 lebte. Hier absolvierte er seinen Wehrdienst bei der Bundeswehr, wurde aber wegen Leistungsfunktionsstörungen frühzeitig entlassen. Er verpflichtete sich dann bei der Fremdenlegion, wo er eine Sprengstoff-Ausbildung erhielt und einige Zeit in Französisch-Guayana stationiert war. Als er in den von Kriegswirren gezeichneten Tschad versetzt werden sollte, desertierte er nach Deutschland. 1984 wurde er in den Niederlanden wegen des Raubüberfalls auf einen Juwelier zu einer Haftstrafe verurteilt.Verurteilt wegen „Vollrausch“Für die Schüsse auf Rhiourhi und seine Begleiter wurde Seitz im Juli 1993 nicht wegen Mordes oder Totschlags verurteilt, sondern nach §323a StGB wegen „Vollrausches“. Dieser Paragraph nimmt eine Sonderstellung ein, denn er bestraft Personen, die zwar eine rechtswidrige Tat verübten, aber zugleich als schuldunfähig gelten, da sie sich bei der Tat in einem Rauschzustand befanden. Mit Höchststrafe von fünf Jahren Haft wird deshalb nicht die rechtswidrige Tat als solche — hier die Schüsse auf die drei Männer — sondern nur die Handlung bestraft, sich vorsätzlich oder fahrlässig in einen Rausch versetzt zu haben. Gegen Seitz verhängte das Landgericht Dortmund eine Freiheitsstrafe von vier Jahren. Dabei konnte weder mit vollständiger Sicherheit geklärt werden, dass Seitz tatsächlich angespuckt worden war, noch genau bestimmt werden, wie stark alkoholisiert er bei der Tat war. Es ist gut möglich, dass er nach der Tat zuhause weiter Schnaps konsumierte. Doch das Gericht entschied „im Zweifel für den Angeklagten“.Zwar nahm das Gericht die rassistische Einstellung des Täters, insbesondere sein „verwurzelte[s] Vorurteil“ gegenüber Nordafrikanern, wahr, es sei aber nicht feststellbar, dass die Tat durch „eine allgemeine ausländerfeindliche Gesinnung mitmotiviert war“, so das Gericht in seinem Urteil. Darin heißt es: „Vor dem Hintergrund der erheblichen Alkoholisierung und der durch das nicht ausschließbare Anspucken aufgebauten affektiven Bewusstseinslage ist es nicht ausschließbar, daß allein diese Faktoren tatauslösend waren und eine möglicherweise vorhandene ausländerfeindliche Einstellung hierdurch vollständig in den Hintergrund gedrängt worden ist“. Im vorangegangenen Streit und vor allem in der „Provokation“ durch das Opfer sah das Gericht die Gründe für die Schüsse, gleichwohl es festhielt, dass Seitz vollkommen unangemessen auf diesen Tatanlass reagiert habe. Die Nebenklage war von „Ausländerhaß“ als Motiv ausgegangen.Kein großes ThemaAls rechtsmotiviert ist die Gewalttat nicht eingestuft worden, auch nicht nachträglich. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung spielte der Hintergrund des Täters keine große Rolle. Dabei fielen die Schüsse in einer von rassistischen Anschlägen geprägten Zeit, die sich nach den Pogromen von Rostock-Lichtenhagen im August 1992 stark häuften. Die politische Debatte um die Beschneidung des Grundrechts auf Asyl steuerte auf einem Höhepunkt zu, zugleich mehrten sich sorgenvolle Berichte über die Wirkung der Neonazi-Gewalt auf „Investoren“ und das „Ansehen Deutschlands im Ausland“. Die Tatnacht folgt dem „Tag der deutschen Einheit“, der 1992 bestimmt war von rechter Gewalt, einer Neonazi-Mobilisierung nach Dresden und Antifa-Demos in mehreren Großstädten. Im Dortmunder Stadtteil Wambel verunstalteten Unbekannte in derselben Nacht auf dem Jüdischen Friedhof 30 Gräber und sprühten Parolen wie „Hass auf Juden“ und Hakenkreuze. Die erste Seite des Lokalteils der Westfälischen Rundschau berichtete sowohl über diese Schmierereien als auch über die Schüsse in Westerfilde. Den Hintergrund letzterer sah die Zeitung in „viel Alkohol, vermutlich eine[r] gehörige Portion Ausländerhaß, speziell gegen Afrikaner; schließlich ein Streit“. Zwar wurde erwähnt, dass der Täter die Opfer als „Schwarzfüße“ beschimpft habe, aber auch hier dominiert die Deutung der Tat als Folge eines Kneipenstreits. Wenige Tage später beklagte der Dortmunder Oberbürgermeister den „Höhepunkt der Ausländerfeindlichkeit“ und forderte, dass die „Anständigen“ mobilisiert werden müssten. Doch ebenso wie die folgenden Kundgebungen „gegen Rechts“ nahm er auf die Schüsse von Westerfilde keinen Bezug. Auch bei Prozessbeginn, nur wenige Tage nach dem tödlichen Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç in Solingen, blieb das öffentliche Interesse begrenzt. Rechte Gewalt war ein großes Thema, die Schüsse von Westerfilde wurden aber nicht in diesen Kontext gestellt. In der Folge geriet die Gewalttat in Vergessenheit.Hinweise im NSU-KontextNach seiner Haftentlassung lebte Seitz weiter in Dortmund-Westerfilde. Die Ruhrnachrichten schrieben 2017, er sei ein guter Bekannter von Siegfried Borchardt gewesen, mit dem er immer mal wieder zusammen im Garten gesessen habe. Als Aktivist der lokalen Neonazi-Szene fiel er aber nicht auf. In den Blick der Öffentlichkeit geriet Seitz erst im Zuge der NSU-Aufarbeitung. Kurz nach der Selbstenttarnung der Terrorgruppe erzählte Sebastian Seemann, ein ehemaliger V-Mann des NRW-Verfassungschutzes und Neonazi aus Lünen, den Beamt*innen des Polizeilichen Staatsschutzes in zwei Gesprächen von der Bildung einer Combat 18-Zelle Mitte der 2000er Jahre, der er selbst sowie sechs weitere Dortmunder Neonazis aus der Oidoxie Streetfighting Crew angehört hätten. Als Vorbild der Zelle sollten die Ausführungen in den „Turner Diaries“ dienen. Es hätten Pläne existiert, sich zu bewaffnen. Seemann verfügte zum damaligen Zeitpunkt über mehrere Schusswaffen, darunter auch „aufgebohrte“ Pump-Action-Schrotflinten, die in „scharfe“ Schusswaffen verwandelt worden waren. Er gab der Polizei auch einen Hinweis, wer für solche Umbauarbeiten an Schreckschuss- und Dekowaffen in Betracht käme: Fred Seitz. Es war nicht das erste Mal, dass Seemann von diesen Sachverhalten berichtete. Dem NRW-Verfassungsschutz hatte er davon schon 2005, zu Beginn der Zusammenarbeit, erzählt. Und dem Polizeilichen Staatsschutz Dortmund lagen seit 2004 Hinweise vor, dass Seitz für Seemann Schusswaffen umgebaut haben soll.Waffen für die NeonaziszeneEine rechtskräftige Verurteilung aus dem Jahr 2000 stärkt die Glaubwürdigkeit dieser Vorwürfe. Als Seitz und ein Komplize am 17. April 2000 auf einem Parkplatz in der Nähe des Kamener Kreuzes zwei Schusswaffen verkaufen wollten, nahm ein Sondereinsatzkommando die beiden fest. Bei Seitz zu Hause stellte die Polizei zahlreiche Schusswaffen und Munition sicher. Das Amtsgericht Unna verurteilte ihn daraufhin „wegen Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Kriegswaffe in Tateinheit mit Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Schußwaffe und wesentliche Teile von Schußwaffen in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer Schußwaffe sowie unerlaubten Herstellens von Schußwaffen“ zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, die allerdings zu Bewährung ausgesetzt wurde. 2003 notierte die Polizei in einem Vermerk, Seitz sei „,mindestens ein Deutschnationaler […], möglicherweise auch ein Rechtsradikaler. Er haßt die Ausländer und ist ein Waffennarr.“ Auch eine familiäre Verbindung stützt den Verdacht, dass Seitz ein möglicher Waffenlieferant militanter Neonazis in Dortmund war: Sein Sohn war nachweislich Teil der Oidoxie Streetfighting Crew und wurde von Seemann auch als ein Mitglied der Dortmunder C18-Zelle genannt.Drei Jahre verstrichen ungenutzt, bis die Hinweise von Seemann zu Ermittlungen des Generalbundesanwaltes führten. Erst nachdem die Nebenklage im Münchener NSU-Prozess Beweisanträge zur Vernehmung von Seemann und dem Oidoxie-Frontmann Marko Gottschalk gestellt hatte, wurden diese 2014 vom BKA befragt. Dabei hatte Seemann angeboten, abzuklären, ob die vom NSU bei zwei Morden benutzte „scharfgemachte“ Schreckschusspistole „Bruni“ eine Arbeit von Seitz gewesen sei. Als man ihm endlich Fotos der Waffe zeigte, erklärte er, ihm sei nicht bekannt sei, dass Seitz jemals eine solche Waffe umgebaut habe. Seitz selbst wurde weder im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München noch von einem Untersuchungsausschuss und soweit bekannt auch nicht durch das BKA vernommen. Auch in einem anderen Verfahren wegen Neonazi-Gewalt tauchte er als Zeuge nicht auf. Im Juni 2000 erschoss Michael Berger in Dortmund und Waltrop drei Polizist*innen. Wer Berger, übrigens ein Freund von Seemann, seine — allerdings nicht „scharf“ gemachten — Waffen verkaufte, konnte nie geklärt werden. Am 11. September 2019 verstarb Seitz in Dortmund. 2022-08-29T12:50:18+02:00 Am Desaster vorbeigeschrammt | AfD rettet sich mit Mühe und 5,44 Prozent wieder in den NRW-Landtag https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/87/am-desaster-vorbeigeschrammt Bei der „Wahlparty“ der AfD versuchte man am Wahlabend, gute Miene zum — aus eigener Sicht — bösen Spiel zu machen. Freudig beklatscht wurden die fünfeinhalb, sechs Prozent, als die Prognosen der Fernsehanstalten über die Bildschirme flimmerten. Spitzenkandidat Markus Wagner sagte es in jedes erreichbare Mikrofon: Die AfD habe doch geschafft, was noch keiner anderen neuen Partei gelungen sei — zum zweiten Mal angetreten und zum zweiten Mal ins Parlament eingezogen.Soweit das aus Sicht der AfD Positive. Doch wer genau hinlauschte, hörte die Steine vom Herzen zu Boden plumpsen. Es hätte auch anders kommen können. Komplett verwundert hätte es nach dem Desaster in Schleswig-Holstein eine Woche zuvor kaum jemanden, wenn die Partei auch in NRW gescheitert wäre. Die Meinungsumfragen verhießen mit sechs bis acht Prozent zwar stabil eine Rückkehr ins Parlament. Doch die Alarmzeichen waren seit Monaten deutlich gewesen: zunächst das miserable Ergebnis bei der NRW-Kommunalwahl 2020, im Jahr darauf dann die enormen Verluste in anderen westdeutschen Flächenländern, als die AfD dort 40 Prozent ihrer Wähler:innen verlor, drittens die Furcht vor der doppelten Konkurrenz durch Freie Wähler einerseits und dieBasis andererseits, viertens die sichere Erwartung, dass für die AfD mobilisierende Themen diesmal fehlen würden, und schließlich die Verdachtsfalleinstufung durch den Verfassungsschutz mit ihrer abschreckenden Wirkung.Als auch die letzte Stimme ausgezählt war, stand die Partei bei 5,44 Prozent, fast zwei Prozentpunkte weniger als 2017. Von den 627.000 Wähler:innen damals waren ihr noch 389.000 geblieben. Rund 38 Prozent hatten das Weite gesucht — hatten für die CDU gestimmt oder waren erst gar nicht wählen gegangen.„Die Marke ‚AfD‘ ist im Westen tot“Während die Parteivorderen TV-gerecht noch das Positive suchten, waren es eher die Randfiguren, die Klartext sprachen — und dabei die Agenden ihrer jeweiligen parteiinternen Lager bedienten. Als „desaströs“ bezeichnete Nils Hartwig das Wahlergebnis. Für Markus Scheer war die Wahl „vergeigt“ und der AfD-Landesverband ein „Haufen Elend“. Der ehemalige stellvertretende AfD-Landessprecher Michael Schild befand kurz und knapp: „Die Marke ‚AfD‘ ist im Westen tot.“ Von einer „Wahlklatsche“ sprach Markus Mohr, Kreisvorsitzender in der Stadt Aachen.Die Agenden der eigenen Lager? Bei Hartwig, Mitglied im Bundesvorstand der Jungen Alternative (JA), stellvertretender Sprecher der AfD im Kreis Unna und Direktkandidat im Hochsauerlandkreis, ist das eine weitere Radikalisierung der Partei. Ihm, dem seine Prägung durch die Identitäre Bewegung auf Schritt und Tritt anzumerken ist, darf man unterstellen, dass er, wenn er einen „richtigen Generationenwechsel“ fordert, weniger eine Verjüngung als vielmehr einen Richtungswechsel nach noch weiter rechtsaußen meint. Der als „Flügel“-nah geltende Mohr, der einen „verwüsteten Landesverband“ beklagte, dürfte dies ähnlich sehen.Scheer und Schild stehen auf der anderen Seite des Meinungsspektrums in der AfD. Bochums Ex-Kreisvorsitzender Scheer war jahrelang der wichtigste Strippenzieher, wenn es galt, Getreue des eigenen, angeblich „gemäßigten“ Lagers in Vorstandsposten oder auf vordere Listenplätze zu hieven. Selbst wichtige Mandate anzupeilen wäre für ihn eine heikle Sache gewesen — zu groß war die Gefahr, dass seine Biographie samt JVA-Erfahrung zur Sprache kommen würde. Und Schild? Der hatte sich daran erfreut, im Landesvorstand den „Gemäßigten“ geben zu können, bis er bei der Nominierung der Bundestagskandidaten mit 66 zu 300 Stimmen gegen Parteirechtsaußen Matthias Helferich aus dem Rennen geworfen wurde. Über die AfD sagt er nach der Landtagswahl: „Ein totes Pferd braucht keine Medizin, sondern den Abdecker.“Ruhrgebiet mit höchsten VerlustenIn 15 Wahlkreisen hatte die AfD 2017 zweistellige Ergebnisse vorzuweisen — nur noch in Gelsenkirchen II (10,7 %) und Duisburg III (10,1 %). Die beiden Wahlkreise zeichnet im übrigen aus, dass hier die Wahlbeteiligung am niedrigsten war. Wie bei früheren Wahlen erzielte die AfD überdurchschnittliche Ergebnisse im Ruhrgebiet, insbesondere im Norden des Reviers. Acht der zehn Wahlkreise mit ihren höchsten Werten befinden sich dort. Zwei Wahlkreise, die nicht zum Ruhrgebiet gehören, sind diesmal in den Top Ten mit den höchsten AfD-Werten zu finden: der Oberbergische Kreis II mit 9,2 % und Lippe I mit 8,2 %.Ruhrgebietswahlkreise waren es auch, in denen die AfD ihre empfindlichsten Verluste hinnehmen musste. Die zehn Wahlkreise mit den stärksten Einbußen der AfD sind allesamt im Ruhrgebiet zu finden, in der Spitze Essen I (minus 5,3 Prozentpunkte) und Gelsenkirchen II (minus 4,5 Prozentpunkte). Insbesondere zwei Großstädte im Osten des Reviers drückten das Ergebnis. In den drei Bochumer Wahlkreisen erreichte die AfD nur noch zwischen 3,8 und 6,3 %, in den vier Dortmunder Wahlkreisen zwischen 5,2 und 5,9 % — und das bei überdurchschnittlichen Verlusten.Ähnlich empfindlich musste es die AfD treffen, dass es ihr nicht gelang, regionale „Schwachstellen“ auszubügeln. Besonders dürftige Werte verzeichnete sie im Münsterland und einem Teil der Großstädte in NRW, insbesondere solchen mit einem überdurchschnittlich hohen Dienstleistungsanteil und traditionellen Universitätsstandorten. In sieben Wahlkreisen reichte es nicht einmal für drei Prozent. Ganz am Ende des AfD-Rankings finden sich die Wahlkreise Köln II sowie Münster III — Coesfeld III mit gerade einmal 2,1 %.In 123 Wahlkreisen schrumpfte die AfD. Nur fünf Mal konnte sie (zwischen 0,2 und 1,0 %) zulegen: in zwei Wahlkreisen im Oberbergischen und drei Mal in Ostwestfalen-Lippe. Während die AfD 260.000 Wählende des Jahres 2017 auch 2022 halten konnte, verlor sie diesmal massiv an das Lager der Nichtwähler:innen: 180.000 frühere AfD-Wähler:innen enthielten sich den Zahlen von Infratest dimap zufolge durch Nichtwahl. Strukturell hat sich in ihrer Klientel wenig geändert. Männer wählen sehr viel häufiger als Frauen AfD. In den Altersgruppen dominieren die 30- bis 59-Jährigen. Unter Arbeiter:innen erzielt sie deutlich höhere Zahlen als unter Angestellten, Beamt:innen, Selbstständigen oder Rentner:innen.Eine merkliche Verschiebung freilich gab es: Nur noch die Hälfte der AfD-Wählenden begründeten ihre Stimmabgabe damit, dass sie von anderen Parteien enttäuscht seien. Das waren 13 Prozentpunkte weniger als 2017. Hingegen sagten mittlerweile 40 Prozent (plus 8 Prozentpunkte), dass sie von ihrer Partei überzeugt seien. Landessprecher Martin Vincentz folgerte daraus voreilig, „dass wir Protestwähler in Stammwähler umwandeln können und nun auf einem stabilen Fundament stehen“.Spitzenkandidat abgesägtZwölf Abgeordnete — elf Männer und eine Frau — gehören der neuen AfD-Fraktion an. Sechs waren bereits in der vorigen Wahlperiode Mitglieder des Landtags. Für die anderen sechs ist die Rolle als Abgeordnete neu — was allerdings für die meisten nicht bedeutet, dass sie parlamentarisch oder parteipolitisch unerfahren sind: Vier „Neulinge“ arbeiteten in der vorherigen Wahlperiode als Mitarbeiter:innen für die AfD-Fraktion beziehungsweise für AfD-Abgeordnete (vgl. LOTTA #77, S. 28 ff.). Ein weiterer neuer Abgeordneter ist Landesgeschäftsführer der NRW-AfD. Lediglich Neu-MdL Daniel Zerbin weist solche Bezüge zu Partei oder Fraktion nicht auf. Er ist als Professor für Kriminalwissenschaften an der privaten Northern Business School in Hamburg tätig.Eine der ersten Amtshandlungen der neuen Abgeordneten war die Verabschiedung des bisherigen Fraktionschefs Markus Wagner. Eigentlich hatte der Ostwestfale, der als Listen-Erster in den Wahlkampf gezogen war, erneut für das Amt an der Spitze der Fraktion kandidieren wollen. Doch der Unmut wegen des schwachen Wahlergebnisses war zu groß. Die Junge Freiheit meldete, er sei bei einer Abstimmung mit vier Ja- und sieben Nein-Stimmen durchgefallen. Sein Nachfolger wurde der Landesvorsitzende Martin Vincentz. Dass Wagner — erst recht nach einem schwachen Ergebnis an den Urnen — beim Versuch, sich wiederwählen zu lassen, einen schweren Stand haben könnte, war bereits im vergangenen Herbst deutlich geworden. Bei einem Parteitag in Essen kam er bei der Wahl des Spitzenkandidaten nur auf magere 52 Prozent der Stimmen, während ein landespolitisch gänzlich unerfahrener Gegenkandidat immerhin 34 Prozent auf sich vereinen konnte. Zwar war Wagner in der Partei positiv angerechnet worden, dass er einerseits Konflikte unter den Abgeordneten weitestgehend intern und andererseits die Fraktion möglichst erfolgreich aus den Streitereien in der Partei herausgehalten hatte, doch zugleich wurde ihm angekreidet, dass es der AfD kaum einmal gelang, mit ihrer Arbeit im Parlament öffentlich wahrgenommen zu werden.Auch seine Relativierungen am Wahlabend sorgten intern für Kritik. Der Aachener AfD-Vorsitzende Markus Mohr: „Schon alleine bei der Schönrederei des gestrigen NRW-Wahlergebnisses dreht sich dem kritischen Beobachter alles um. Spitzenkandidat Markus Wagner hätte sofort unumwunden die Niederlage einräumen und den Weg für einen personellen Neuanfang frei machen müssen. Stattdessen: ‚Blablabla‘“.AbgängeDer Streit über den bundespolitischen Kurs der AfD, dazu das schlechte Ergebnis bei der Landtagswahl: Beides dürfte dafür sorgen, dass auch die NRW-AfD weitere Abgänge und Austritte wird registrieren müssen. Gleich am Tag nach der Wahl verließ die gesamte Bochumer Stadtratsfraktion die AfD. Der nun vollzogene Austritt sei der letzte Schritt einer Entwicklung, die sich seit Monaten angebahnt habe, hieß es in ihrer Erklärung. Die Bochumer AfD habe immer für „einen moderaten und konservativen Kurs“ gestanden — „leider war dieser Kurs in der Partei immer weniger durchzusetzen“, erklärten die Ratsmitglieder. Man werde „nicht blind hinter den Zielen einiger Protagonisten in der Partei herlaufen, die die Ziele der ursprünglichen AfD nicht mehr vertreten“. Seinen Austritt aus der Partei hat auch Markus Scheer angekündigt.Ob es nach dem Desaster der angeblich „Gemäßigten“ beim Bundesparteitag der AfD bei einzelnen Abgängen bleibt oder daraus eine Welle wird, werden die nächsten Wochen zeigen.Die neue Landtags-FraktionDie zwölf AfD-Abgeordneten in der Reihenfolge der AfD-Landesliste:1. Markus Wagner (Bad Oeynhausen, * 1964),2. Martin Vincentz (Krefeld, * 1986, Fraktionsvorsitzender),3. Andreas Keith-Volkmer (Leverkusen, * 1967, Parlamentarischer Geschäftsführer),4. Christian Loose (Bochum, * 1975),5. Christian Blex (Wadersloh, * 1975),6. Sven Tritschler (Köln, * 1981, Fraktionsvize),7. Enxhi Seli-Zacharias (Gelsenkirchen, * 1993, Fraktionsvize),8. Carlo Clemens (Bergisch Gladbach, * 1989),9. Hartmut Beucker (Wuppertal, * 1962),10. Klaus Esser (Düren, * 1981, Fraktionsvize),11. Daniel Zerbin (Dorsten, * 1973),12. Zacharias Schalley (Meerbusch, * 1991).Thomas Röckemann, Helmut Seifen und Iris Dworeck-Danielowski, die dem Landtag in der vorigen Wahlperiode angehörten, hatten auf den Listenplätzen 13 bis 15 kandidiert. Sie verfehlten diesmal den Einzug ins Parlament. Extreme Rechte 7772 Mon, 29 Aug 2022 12:42:34 +0200 LOTTA Am Desaster vorbeigeschrammt Rainer Roeser Bei der „Wahlparty“ der AfD versuchte man am Wahlabend, gute Miene zum — aus eigener Sicht — bösen Spiel zu machen. Freudig beklatscht wurden die fünfeinhalb, sechs Prozent, als die Prognosen der Fernsehanstalten über die Bildschirme flimmerten. Spitzenkandidat Markus Wagner sagte es in jedes erreichbare Mikrofon: Die AfD habe doch geschafft, was noch keiner anderen neuen Partei gelungen sei — zum zweiten Mal angetreten und zum zweiten Mal ins Parlament eingezogen.Soweit das aus Sicht der AfD Positive. Doch wer genau hinlauschte, hörte die Steine vom Herzen zu Boden plumpsen. Es hätte auch anders kommen können. Komplett verwundert hätte es nach dem Desaster in Schleswig-Holstein eine Woche zuvor kaum jemanden, wenn die Partei auch in NRW gescheitert wäre. Die Meinungsumfragen verhießen mit sechs bis acht Prozent zwar stabil eine Rückkehr ins Parlament. Doch die Alarmzeichen waren seit Monaten deutlich gewesen: zunächst das miserable Ergebnis bei der NRW-Kommunalwahl 2020, im Jahr darauf dann die enormen Verluste in anderen westdeutschen Flächenländern, als die AfD dort 40 Prozent ihrer Wähler:innen verlor, drittens die Furcht vor der doppelten Konkurrenz durch Freie Wähler einerseits und dieBasis andererseits, viertens die sichere Erwartung, dass für die AfD mobilisierende Themen diesmal fehlen würden, und schließlich die Verdachtsfalleinstufung durch den Verfassungsschutz mit ihrer abschreckenden Wirkung.Als auch die letzte Stimme ausgezählt war, stand die Partei bei 5,44 Prozent, fast zwei Prozentpunkte weniger als 2017. Von den 627.000 Wähler:innen damals waren ihr noch 389.000 geblieben. Rund 38 Prozent hatten das Weite gesucht — hatten für die CDU gestimmt oder waren erst gar nicht wählen gegangen.„Die Marke ‚AfD‘ ist im Westen tot“Während die Parteivorderen TV-gerecht noch das Positive suchten, waren es eher die Randfiguren, die Klartext sprachen — und dabei die Agenden ihrer jeweiligen parteiinternen Lager bedienten. Als „desaströs“ bezeichnete Nils Hartwig das Wahlergebnis. Für Markus Scheer war die Wahl „vergeigt“ und der AfD-Landesverband ein „Haufen Elend“. Der ehemalige stellvertretende AfD-Landessprecher Michael Schild befand kurz und knapp: „Die Marke ‚AfD‘ ist im Westen tot.“ Von einer „Wahlklatsche“ sprach Markus Mohr, Kreisvorsitzender in der Stadt Aachen.Die Agenden der eigenen Lager? Bei Hartwig, Mitglied im Bundesvorstand der Jungen Alternative (JA), stellvertretender Sprecher der AfD im Kreis Unna und Direktkandidat im Hochsauerlandkreis, ist das eine weitere Radikalisierung der Partei. Ihm, dem seine Prägung durch die Identitäre Bewegung auf Schritt und Tritt anzumerken ist, darf man unterstellen, dass er, wenn er einen „richtigen Generationenwechsel“ fordert, weniger eine Verjüngung als vielmehr einen Richtungswechsel nach noch weiter rechtsaußen meint. Der als „Flügel“-nah geltende Mohr, der einen „verwüsteten Landesverband“ beklagte, dürfte dies ähnlich sehen.Scheer und Schild stehen auf der anderen Seite des Meinungsspektrums in der AfD. Bochums Ex-Kreisvorsitzender Scheer war jahrelang der wichtigste Strippenzieher, wenn es galt, Getreue des eigenen, angeblich „gemäßigten“ Lagers in Vorstandsposten oder auf vordere Listenplätze zu hieven. Selbst wichtige Mandate anzupeilen wäre für ihn eine heikle Sache gewesen — zu groß war die Gefahr, dass seine Biographie samt JVA-Erfahrung zur Sprache kommen würde. Und Schild? Der hatte sich daran erfreut, im Landesvorstand den „Gemäßigten“ geben zu können, bis er bei der Nominierung der Bundestagskandidaten mit 66 zu 300 Stimmen gegen Parteirechtsaußen Matthias Helferich aus dem Rennen geworfen wurde. Über die AfD sagt er nach der Landtagswahl: „Ein totes Pferd braucht keine Medizin, sondern den Abdecker.“Ruhrgebiet mit höchsten VerlustenIn 15 Wahlkreisen hatte die AfD 2017 zweistellige Ergebnisse vorzuweisen — nur noch in Gelsenkirchen II (10,7 %) und Duisburg III (10,1 %). Die beiden Wahlkreise zeichnet im übrigen aus, dass hier die Wahlbeteiligung am niedrigsten war. Wie bei früheren Wahlen erzielte die AfD überdurchschnittliche Ergebnisse im Ruhrgebiet, insbesondere im Norden des Reviers. Acht der zehn Wahlkreise mit ihren höchsten Werten befinden sich dort. Zwei Wahlkreise, die nicht zum Ruhrgebiet gehören, sind diesmal in den Top Ten mit den höchsten AfD-Werten zu finden: der Oberbergische Kreis II mit 9,2 % und Lippe I mit 8,2 %.Ruhrgebietswahlkreise waren es auch, in denen die AfD ihre empfindlichsten Verluste hinnehmen musste. Die zehn Wahlkreise mit den stärksten Einbußen der AfD sind allesamt im Ruhrgebiet zu finden, in der Spitze Essen I (minus 5,3 Prozentpunkte) und Gelsenkirchen II (minus 4,5 Prozentpunkte). Insbesondere zwei Großstädte im Osten des Reviers drückten das Ergebnis. In den drei Bochumer Wahlkreisen erreichte die AfD nur noch zwischen 3,8 und 6,3 %, in den vier Dortmunder Wahlkreisen zwischen 5,2 und 5,9 % — und das bei überdurchschnittlichen Verlusten.Ähnlich empfindlich musste es die AfD treffen, dass es ihr nicht gelang, regionale „Schwachstellen“ auszubügeln. Besonders dürftige Werte verzeichnete sie im Münsterland und einem Teil der Großstädte in NRW, insbesondere solchen mit einem überdurchschnittlich hohen Dienstleistungsanteil und traditionellen Universitätsstandorten. In sieben Wahlkreisen reichte es nicht einmal für drei Prozent. Ganz am Ende des AfD-Rankings finden sich die Wahlkreise Köln II sowie Münster III — Coesfeld III mit gerade einmal 2,1 %.In 123 Wahlkreisen schrumpfte die AfD. Nur fünf Mal konnte sie (zwischen 0,2 und 1,0 %) zulegen: in zwei Wahlkreisen im Oberbergischen und drei Mal in Ostwestfalen-Lippe. Während die AfD 260.000 Wählende des Jahres 2017 auch 2022 halten konnte, verlor sie diesmal massiv an das Lager der Nichtwähler:innen: 180.000 frühere AfD-Wähler:innen enthielten sich den Zahlen von Infratest dimap zufolge durch Nichtwahl. Strukturell hat sich in ihrer Klientel wenig geändert. Männer wählen sehr viel häufiger als Frauen AfD. In den Altersgruppen dominieren die 30- bis 59-Jährigen. Unter Arbeiter:innen erzielt sie deutlich höhere Zahlen als unter Angestellten, Beamt:innen, Selbstständigen oder Rentner:innen.Eine merkliche Verschiebung freilich gab es: Nur noch die Hälfte der AfD-Wählenden begründeten ihre Stimmabgabe damit, dass sie von anderen Parteien enttäuscht seien. Das waren 13 Prozentpunkte weniger als 2017. Hingegen sagten mittlerweile 40 Prozent (plus 8 Prozentpunkte), dass sie von ihrer Partei überzeugt seien. Landessprecher Martin Vincentz folgerte daraus voreilig, „dass wir Protestwähler in Stammwähler umwandeln können und nun auf einem stabilen Fundament stehen“.Spitzenkandidat abgesägtZwölf Abgeordnete — elf Männer und eine Frau — gehören der neuen AfD-Fraktion an. Sechs waren bereits in der vorigen Wahlperiode Mitglieder des Landtags. Für die anderen sechs ist die Rolle als Abgeordnete neu — was allerdings für die meisten nicht bedeutet, dass sie parlamentarisch oder parteipolitisch unerfahren sind: Vier „Neulinge“ arbeiteten in der vorherigen Wahlperiode als Mitarbeiter:innen für die AfD-Fraktion beziehungsweise für AfD-Abgeordnete (vgl. LOTTA #77, S. 28 ff.). Ein weiterer neuer Abgeordneter ist Landesgeschäftsführer der NRW-AfD. Lediglich Neu-MdL Daniel Zerbin weist solche Bezüge zu Partei oder Fraktion nicht auf. Er ist als Professor für Kriminalwissenschaften an der privaten Northern Business School in Hamburg tätig.Eine der ersten Amtshandlungen der neuen Abgeordneten war die Verabschiedung des bisherigen Fraktionschefs Markus Wagner. Eigentlich hatte der Ostwestfale, der als Listen-Erster in den Wahlkampf gezogen war, erneut für das Amt an der Spitze der Fraktion kandidieren wollen. Doch der Unmut wegen des schwachen Wahlergebnisses war zu groß. Die Junge Freiheit meldete, er sei bei einer Abstimmung mit vier Ja- und sieben Nein-Stimmen durchgefallen. Sein Nachfolger wurde der Landesvorsitzende Martin Vincentz. Dass Wagner — erst recht nach einem schwachen Ergebnis an den Urnen — beim Versuch, sich wiederwählen zu lassen, einen schweren Stand haben könnte, war bereits im vergangenen Herbst deutlich geworden. Bei einem Parteitag in Essen kam er bei der Wahl des Spitzenkandidaten nur auf magere 52 Prozent der Stimmen, während ein landespolitisch gänzlich unerfahrener Gegenkandidat immerhin 34 Prozent auf sich vereinen konnte. Zwar war Wagner in der Partei positiv angerechnet worden, dass er einerseits Konflikte unter den Abgeordneten weitestgehend intern und andererseits die Fraktion möglichst erfolgreich aus den Streitereien in der Partei herausgehalten hatte, doch zugleich wurde ihm angekreidet, dass es der AfD kaum einmal gelang, mit ihrer Arbeit im Parlament öffentlich wahrgenommen zu werden.Auch seine Relativierungen am Wahlabend sorgten intern für Kritik. Der Aachener AfD-Vorsitzende Markus Mohr: „Schon alleine bei der Schönrederei des gestrigen NRW-Wahlergebnisses dreht sich dem kritischen Beobachter alles um. Spitzenkandidat Markus Wagner hätte sofort unumwunden die Niederlage einräumen und den Weg für einen personellen Neuanfang frei machen müssen. Stattdessen: ‚Blablabla‘“.AbgängeDer Streit über den bundespolitischen Kurs der AfD, dazu das schlechte Ergebnis bei der Landtagswahl: Beides dürfte dafür sorgen, dass auch die NRW-AfD weitere Abgänge und Austritte wird registrieren müssen. Gleich am Tag nach der Wahl verließ die gesamte Bochumer Stadtratsfraktion die AfD. Der nun vollzogene Austritt sei der letzte Schritt einer Entwicklung, die sich seit Monaten angebahnt habe, hieß es in ihrer Erklärung. Die Bochumer AfD habe immer für „einen moderaten und konservativen Kurs“ gestanden — „leider war dieser Kurs in der Partei immer weniger durchzusetzen“, erklärten die Ratsmitglieder. Man werde „nicht blind hinter den Zielen einiger Protagonisten in der Partei herlaufen, die die Ziele der ursprünglichen AfD nicht mehr vertreten“. Seinen Austritt aus der Partei hat auch Markus Scheer angekündigt.Ob es nach dem Desaster der angeblich „Gemäßigten“ beim Bundesparteitag der AfD bei einzelnen Abgängen bleibt oder daraus eine Welle wird, werden die nächsten Wochen zeigen.Die neue Landtags-FraktionDie zwölf AfD-Abgeordneten in der Reihenfolge der AfD-Landesliste:1. Markus Wagner (Bad Oeynhausen, * 1964),2. Martin Vincentz (Krefeld, * 1986, Fraktionsvorsitzender),3. Andreas Keith-Volkmer (Leverkusen, * 1967, Parlamentarischer Geschäftsführer),4. Christian Loose (Bochum, * 1975),5. Christian Blex (Wadersloh, * 1975),6. Sven Tritschler (Köln, * 1981, Fraktionsvize),7. Enxhi Seli-Zacharias (Gelsenkirchen, * 1993, Fraktionsvize),8. Carlo Clemens (Bergisch Gladbach, * 1989),9. Hartmut Beucker (Wuppertal, * 1962),10. Klaus Esser (Düren, * 1981, Fraktionsvize),11. Daniel Zerbin (Dorsten, * 1973),12. Zacharias Schalley (Meerbusch, * 1991).Thomas Röckemann, Helmut Seifen und Iris Dworeck-Danielowski, die dem Landtag in der vorigen Wahlperiode angehörten, hatten auf den Listenplätzen 13 bis 15 kandidiert. Sie verfehlten diesmal den Einzug ins Parlament. 2022-08-29T12:42:34+02:00 „Wie geht’s weiter, NPD?“ | Von einer Wahlpartei zum „Netzwerker und Dienstleister des patriotischen Protests“? https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/87/wie-geht-s-weiter-npd Am 14. und 15. Mai 2022 fand im hessischen Altenstadt der Bundesparteitag der NPD statt. Er sollte die Weichen für eine Neuausrichtung der Partei stellen: bei der Strategie und auch beim Namen. Mit dem neuen Namen wurde es am Ende nichts, aber die Spaltung der Partei zeigte sich deutlich.„Nachgefragt — Wie geht’s weiter, NPD?“: So der Titel einer von der Partei im Vorfeld des Parteitags initiierten Debatte auf YouTube, bei der Partei-Funktionäre ihre Vorstellungen präsentieren durften. Auch Beiträge in der Parteizeitung Deutsche Stimme sollten die innerparteiliche Diskussion befeuern. Für Mitglieder wurden — teils regionale und digitale — Konferenzen organisiert, um das neue Konzept in die Partei zu tragen. Der Zeitpunkt, wieder grundsätzliche Debatten über die Ausrichtung der NPD zu führen, kann kaum verwundern: Die 1964 gegründete Partei befindet sich mal wieder im Niedergang. Selbst in ihren ehemaligen Hochburgen Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern erreichte sie bei den letzten Landtagswahlen nicht einmal 1 Prozent der abgegebenen Stimmen. Damit hat sie keinen Anspruch mehr auf eine staatliche Teilfinanzierung. Die AfD hat den elektoralen Niedergang der NPD seit 2013 weiter beschleunigt. Seit 2016 verfügt die NPD jenseits der kommunalen Ebene über keine Abgeordneten mehr in Parlamenten.Schon im Vorfeld des Parteitages zeigte sich, dass die Spannung zwischen den Parteilagern groß zu sein scheint. Unter dem Titel „Grundvoraussetzung: Neuer Name“ veröffentlichte der Bundesvorstand der Jungen Nationalisten eine Erklärung, in der es heißt: „Wir […] unterstützen einen aufrichtigen Neuaufstellungsversuch der Mutterpartei und sind bereit, sie an den Puls der Zeit zu rücken. Ein weiteres Dahindümpeln wird es aber nur ohne uns geben.“ Der NPD-Bundesvorsitzende Frank Franz hatte seine erneute Kandidatur an die Ergebnisse der Abstimmung zu Strategie und Namen gebunden. Dennoch konnten er und der Parteivorstand nicht die nötige 2/3-Mehrheit hinter sich bringen. Es fehlten drei Stimmen, so dass die NPD vorerst die NPD bleibt und nicht als Die Heimat auftreten wird. Franz bleibt dennoch Vorsitzender. Trotz seiner vorherigen Ankündigung stellte er sich wieder zur Wahl und wurde bestätigt. Ein großer Teil des Vorstandes wäre ohne ihn als Vorsitzenden nicht mehr angetreten, was ihn erneut zur Kandidatur bewegt habe, so Franz. Und auch die JN zeigte sich nun deutlich versöhnlicher: „Im Übrigen sind im neuen Parteivorstand keine Namens-Nostalgiker mehr zu finden. Die Arbeit hat begonnen, der Weg vorwärts ist glasklar. Und die NPD — bald ‚Die Heimat‘ — soll sich der Unterstützung ihrer Jugendorganisation gewiss sein.“Spaltung der ParteiDie innere Zerstrittenheit der Partei war auch während des Parteitages zu erkennen. Nach der gescheiterten Abstimmung sprach Franz von einer „überwiegend destruktiven Minderheit“, an der die Umbenennung gescheitert sei. Er habe von seinen Gegenspielern keinen einzigen „vernünftigen Gegenvorschlag“ wahrgenommen. Diesen sei es nur darum gegangen, „alte Rechnungen zu begleichen“. Personell kulminierten die Gegner auf dem Parteitag in Lennart Schwarzbach, dem Landesvorsitzenden der NPD in Hamburg, einem Gegner der Umbenennung, der gegen Franz für das Amt des Parteivorsitzenden kandidierte. Er unterlag deutlich. Im Nachgang äußerte er sich dahingehend, dass die „NPD-Abschaffung“ verhindert worden sei. Die Vorstellung aber, „einen Vorsitzenden zu haben, der die NPD abwickeln möchte“, sei „dem politischen Erfolg sicher weniger dienlich“. Die NPD-Funktionärin Ricarda Walter aus Rheinland-Pfalz sprach mit Bezug auf den Parteitag von „zwei Blöcken“, innerhalb derer sie „aber auch noch mehrere Gruppierungen“ festgestellt habe. Walter: „Man hatte das Gefühl, niemand hatte einen Plan in der Tasche. Am Ende blieb alles beim Alten […] Einziger Unterschied ist nun, daß wir von einer Geschlossenheit erstmal nicht mehr reden müssen. Da sind wir weit entfernt.“Strategie und Zukunft der ParteiFür Frank Franz und andere NPD-Funktionäre hat die NPD vor allem auch wegen ihrer gewachsenen und bestehenden Strukturen eine Zukunft. Die Parteispitze verwies in ihren Stellungnahmen auf die geschulten Kader, die Immobilien und Parteijuristen, die eine wichtige Ressource für die „nationale Bewegung“ darstellen würden. Franz selbst verwies auch auf die gute finanzielle Situation der Partei, die allein auf einem Hauptkonto über eine halbe Millionen Euro Vermögen zur Verfügung hätte. Strategisch hat sich die Partei aber von Wahlerfolgen bereits verabschiedet. Der ehemalige NPD-Landtagsabgeordnete Jürgen Gansel brachte dies bereits im Vorfeld des Parteitages zum Ausdruck: „Das muss ganz illusionsfrei zu der Einschätzung führen, dass die NPD als Wahlpartei fürs Erste gestorben ist. Das kann aber den Weg für eine strategische Neuausrichtung als völkische Graswurzelbewegung im ländlichen Raum freimachen.“ Dabei scheint bei einigen NPD-Funktionären die „neurechte“ Organisation Ein Prozent, bei der auch ehemalige NPD-Funktionäre untergekommen sind, als Vorbild zu gelten. So schrieb Ronny Zasowk, die NPD „sollte sich künftig als Netzwerker und Dienstleister des patriotischen Protests sehen“, also eine Funktion, die schon vor Jahren von Ein Prozent angestrebt wurde. Die Rückkehr zur lokalen Verankerung scheint dabei aber sicher.Passend dazu kehrte mit Patrick Wieschke aus Thüringen ein Neonazi in den Bundesvorstand zurück, der äußerst erfolgreich Lokalpolitik betreibt. Wieschke hat im thüringischen Eisenach eine Immobilie zur Verfügung, in der Konzerte stattfinden, junge Neonazis Kampfsport trainieren sowie Disco-Partys und soziale Veranstaltungen für „Deutsche“ stattfinden. Die Eisenacher Bevölkerung dankte es ihm 2019 bei der Stadtratswahl mit 10,2 Prozent der Stimmen. Aktuell dürfte die NPD nirgendwo ein ähnliches Ergebnis einfahren können. Wieschke wirkte auch in zentraler Rolle bei den Eisenacher Pandemie-Leugner:innen-Protesten mit, die bis zu 3.000 Menschen auf die Straße brachten. Bezugnehmend auf einen von ihm gehaltenen Vortrag Anfang Juni auf dem Landesparteitag der NPD Bayern schrieb er: „Am Beispiel meiner Heimat Eisenach habe ich heute […] das neue Konzept des Parteivorstandes plastisch und greifbar darzustellen versucht. Die Säulen des Konzeptes wie Regionalisierung, Dienstleister des Widerstandes, Netzwerker, Anti-Parteienbewegung und gelebte Heterogenität müssen mit Leben gefüllt werden. Wir erfinden die Partei neu und auf dem nächsten Parteitag soll das auch in einem neuen Namen münden.“Da Franz und auch die JN klar gemacht haben, dass man weiterhin die Partei nach dem gefassten Plan umbauen will und auch eine Namensänderung nicht vom Tisch ist, werden die Konflikte die Partei wohl weiterhin begleiten. Der Umbau zur lokal agierenden extrem rechten NGO soll weiter vorangetrieben werden. Städte wie Eisenach, wo die NPD zwischen Disco-Partys und der Unterstützung der militanten Neonazi-Szene agiert, scheinen als Vorbild zu dienen. Schwerpunkt 7765 Mon, 29 Aug 2022 12:26:06 +0200 LOTTA „Wie geht’s weiter, NPD?“ Felix M. Steiner Am 14. und 15. Mai 2022 fand im hessischen Altenstadt der Bundesparteitag der NPD statt. Er sollte die Weichen für eine Neuausrichtung der Partei stellen: bei der Strategie und auch beim Namen. Mit dem neuen Namen wurde es am Ende nichts, aber die Spaltung der Partei zeigte sich deutlich.„Nachgefragt — Wie geht’s weiter, NPD?“: So der Titel einer von der Partei im Vorfeld des Parteitags initiierten Debatte auf YouTube, bei der Partei-Funktionäre ihre Vorstellungen präsentieren durften. Auch Beiträge in der Parteizeitung Deutsche Stimme sollten die innerparteiliche Diskussion befeuern. Für Mitglieder wurden — teils regionale und digitale — Konferenzen organisiert, um das neue Konzept in die Partei zu tragen. Der Zeitpunkt, wieder grundsätzliche Debatten über die Ausrichtung der NPD zu führen, kann kaum verwundern: Die 1964 gegründete Partei befindet sich mal wieder im Niedergang. Selbst in ihren ehemaligen Hochburgen Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern erreichte sie bei den letzten Landtagswahlen nicht einmal 1 Prozent der abgegebenen Stimmen. Damit hat sie keinen Anspruch mehr auf eine staatliche Teilfinanzierung. Die AfD hat den elektoralen Niedergang der NPD seit 2013 weiter beschleunigt. Seit 2016 verfügt die NPD jenseits der kommunalen Ebene über keine Abgeordneten mehr in Parlamenten.Schon im Vorfeld des Parteitages zeigte sich, dass die Spannung zwischen den Parteilagern groß zu sein scheint. Unter dem Titel „Grundvoraussetzung: Neuer Name“ veröffentlichte der Bundesvorstand der Jungen Nationalisten eine Erklärung, in der es heißt: „Wir […] unterstützen einen aufrichtigen Neuaufstellungsversuch der Mutterpartei und sind bereit, sie an den Puls der Zeit zu rücken. Ein weiteres Dahindümpeln wird es aber nur ohne uns geben.“ Der NPD-Bundesvorsitzende Frank Franz hatte seine erneute Kandidatur an die Ergebnisse der Abstimmung zu Strategie und Namen gebunden. Dennoch konnten er und der Parteivorstand nicht die nötige 2/3-Mehrheit hinter sich bringen. Es fehlten drei Stimmen, so dass die NPD vorerst die NPD bleibt und nicht als Die Heimat auftreten wird. Franz bleibt dennoch Vorsitzender. Trotz seiner vorherigen Ankündigung stellte er sich wieder zur Wahl und wurde bestätigt. Ein großer Teil des Vorstandes wäre ohne ihn als Vorsitzenden nicht mehr angetreten, was ihn erneut zur Kandidatur bewegt habe, so Franz. Und auch die JN zeigte sich nun deutlich versöhnlicher: „Im Übrigen sind im neuen Parteivorstand keine Namens-Nostalgiker mehr zu finden. Die Arbeit hat begonnen, der Weg vorwärts ist glasklar. Und die NPD — bald ‚Die Heimat‘ — soll sich der Unterstützung ihrer Jugendorganisation gewiss sein.“Spaltung der ParteiDie innere Zerstrittenheit der Partei war auch während des Parteitages zu erkennen. Nach der gescheiterten Abstimmung sprach Franz von einer „überwiegend destruktiven Minderheit“, an der die Umbenennung gescheitert sei. Er habe von seinen Gegenspielern keinen einzigen „vernünftigen Gegenvorschlag“ wahrgenommen. Diesen sei es nur darum gegangen, „alte Rechnungen zu begleichen“. Personell kulminierten die Gegner auf dem Parteitag in Lennart Schwarzbach, dem Landesvorsitzenden der NPD in Hamburg, einem Gegner der Umbenennung, der gegen Franz für das Amt des Parteivorsitzenden kandidierte. Er unterlag deutlich. Im Nachgang äußerte er sich dahingehend, dass die „NPD-Abschaffung“ verhindert worden sei. Die Vorstellung aber, „einen Vorsitzenden zu haben, der die NPD abwickeln möchte“, sei „dem politischen Erfolg sicher weniger dienlich“. Die NPD-Funktionärin Ricarda Walter aus Rheinland-Pfalz sprach mit Bezug auf den Parteitag von „zwei Blöcken“, innerhalb derer sie „aber auch noch mehrere Gruppierungen“ festgestellt habe. Walter: „Man hatte das Gefühl, niemand hatte einen Plan in der Tasche. Am Ende blieb alles beim Alten […] Einziger Unterschied ist nun, daß wir von einer Geschlossenheit erstmal nicht mehr reden müssen. Da sind wir weit entfernt.“Strategie und Zukunft der ParteiFür Frank Franz und andere NPD-Funktionäre hat die NPD vor allem auch wegen ihrer gewachsenen und bestehenden Strukturen eine Zukunft. Die Parteispitze verwies in ihren Stellungnahmen auf die geschulten Kader, die Immobilien und Parteijuristen, die eine wichtige Ressource für die „nationale Bewegung“ darstellen würden. Franz selbst verwies auch auf die gute finanzielle Situation der Partei, die allein auf einem Hauptkonto über eine halbe Millionen Euro Vermögen zur Verfügung hätte. Strategisch hat sich die Partei aber von Wahlerfolgen bereits verabschiedet. Der ehemalige NPD-Landtagsabgeordnete Jürgen Gansel brachte dies bereits im Vorfeld des Parteitages zum Ausdruck: „Das muss ganz illusionsfrei zu der Einschätzung führen, dass die NPD als Wahlpartei fürs Erste gestorben ist. Das kann aber den Weg für eine strategische Neuausrichtung als völkische Graswurzelbewegung im ländlichen Raum freimachen.“ Dabei scheint bei einigen NPD-Funktionären die „neurechte“ Organisation Ein Prozent, bei der auch ehemalige NPD-Funktionäre untergekommen sind, als Vorbild zu gelten. So schrieb Ronny Zasowk, die NPD „sollte sich künftig als Netzwerker und Dienstleister des patriotischen Protests sehen“, also eine Funktion, die schon vor Jahren von Ein Prozent angestrebt wurde. Die Rückkehr zur lokalen Verankerung scheint dabei aber sicher.Passend dazu kehrte mit Patrick Wieschke aus Thüringen ein Neonazi in den Bundesvorstand zurück, der äußerst erfolgreich Lokalpolitik betreibt. Wieschke hat im thüringischen Eisenach eine Immobilie zur Verfügung, in der Konzerte stattfinden, junge Neonazis Kampfsport trainieren sowie Disco-Partys und soziale Veranstaltungen für „Deutsche“ stattfinden. Die Eisenacher Bevölkerung dankte es ihm 2019 bei der Stadtratswahl mit 10,2 Prozent der Stimmen. Aktuell dürfte die NPD nirgendwo ein ähnliches Ergebnis einfahren können. Wieschke wirkte auch in zentraler Rolle bei den Eisenacher Pandemie-Leugner:innen-Protesten mit, die bis zu 3.000 Menschen auf die Straße brachten. Bezugnehmend auf einen von ihm gehaltenen Vortrag Anfang Juni auf dem Landesparteitag der NPD Bayern schrieb er: „Am Beispiel meiner Heimat Eisenach habe ich heute […] das neue Konzept des Parteivorstandes plastisch und greifbar darzustellen versucht. Die Säulen des Konzeptes wie Regionalisierung, Dienstleister des Widerstandes, Netzwerker, Anti-Parteienbewegung und gelebte Heterogenität müssen mit Leben gefüllt werden. Wir erfinden die Partei neu und auf dem nächsten Parteitag soll das auch in einem neuen Namen münden.“Da Franz und auch die JN klar gemacht haben, dass man weiterhin die Partei nach dem gefassten Plan umbauen will und auch eine Namensänderung nicht vom Tisch ist, werden die Konflikte die Partei wohl weiterhin begleiten. Der Umbau zur lokal agierenden extrem rechten NGO soll weiter vorangetrieben werden. Städte wie Eisenach, wo die NPD zwischen Disco-Partys und der Unterstützung der militanten Neonazi-Szene agiert, scheinen als Vorbild zu dienen. 2022-08-29T12:26:06+02:00 Was geschah mit Matiullah? | Zum Umgang mit den polizeilichen Todesschüssen in Fulda https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/87/was-geschah-mit-matiullah Am 13. April 2018 wird der 19-jährige Matiullah Jabarkhel in Fulda von einem Polizisten erschossen. Eine aus seinem Umfeld gegründete Initiative zweifelt die Darstellung des Hergangs durch die Polizei sowie die Begründung des Polizisten, in Notwehr gehandelt zu haben, an. Gegen Kritik am polizeilichen Vorgehen wird rigide vorgegangen und Protest in der lokalen Presse diskreditiert.Laut der knappen Pressemeldung der Polizei vom 13. April 2018 wurden an diesem Morgen Einsatzkräfte gerufen, da „ein Randalierer […] einen Bäckereiladen und mehrere Personen angegriffen und teilweise schwer verletzt“ habe. Die eintreffenden Polizisten seien „sofort mit Steinen“ angegriffen worden. In den darauffolgenden Ermittlungen heißt es, Matiullah Jabarkhel habe außerdem einen Schlagstock entwendet und sei geflohen. Erst zwei Straßen weiter wurde er offenbar eingeholt, ein Polizist schoss insgesamt zwölfmal, darunter sollen sich Warnschüsse befunden haben. Vier der Schüsse trafen den 19-Jährigen, laut Autopsie sollen zwei tödlich gewesen sein. Der Polizist gibt später an, Todesangst gehabt zu haben, und stellt die Schüsse als Notwehr da.Zweifel und WidersprücheDie Initiative Matiullah bezweifelt den beschriebenen Hergang. Bis heute konnten Widersprüche nicht schlüssig erklärt werden. Warum es nicht gelungen ist, den 19-Jährigen mit insgesamt fünf Beamt*innen festzunehmen, bleibt weitestgehend unbeantwortet. Wieso hat ein einzelner Polizist versucht, den weglaufenden Matiullah zu stellen, anstatt auf Verstärkung zu warten? Auch hierfür gibt es keine ausreichende Begründung. Ein Handyvideo, das zumindest einen Teil der Auseinandersetzung vor der Bäckerei zeigt, wirft ebenfalls Fragen auf. Der Initiative zufolge stellt sich Matiullahs Verhalten auf dem Video wesentlich passiver dar als von der Polizei geschildert. Und es sei zu sehen, wie er flüchtet. Das Video führte 2019 zu erneuten Ermittlungen, die aber wiederum eingestellt wurden. Aus Sicht der Ermittelnden liege kein strafbares Verhalten seitens der Polizei vor und die Begründung der Notwehr sei glaubhaft. Auch nachdem im August 2020 der Bruder Matiullahs Beschwerde gegen die Einstellung einlegte, kam die Staatsanwaltschaft Fulda zum gleichen Ergebnis.Die Zweifel bleiben. In einem Statement beschreibt die Initiative, dass Matiullah in den Monaten vor seinem Tod psychische Probleme hatte, die offenbar durch den Druck des Asylverfahrens und die Ablehnung des Asylantrags sowie seine Lebensrealität in der Sammelunterkunft in Fulda verstärkt wurden. In dieser Zeit zeigte er sich öfter verwirrt, hatte Auseinandersetzungen mit Mitbewohnern und versuchte, Suizid zu begehen. Infolgedessen gab es Polizeieinsätze, bei denen es aber keine nennenswerten Probleme gegeben habe. Sein gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich unterdessen zusehends. Obwohl dies Sozialarbeiter*innen bekannt gewesen sei, so kritisiert die Initiative, sei ihm nur unzureichend geholfen, sondern Druck aufgebaut worden, um ihn zu einer „freiwilligen Rückkehr“ nach Afghanistan zu bewegen. Dieser stimmte er kurz vor seinem Tod auch zu, obwohl noch eine Klage wegen seines abgelehnten Asylantrags anhängig war.Protest und RepressionAm Wochenende nach den Todesschüssen hat die afghanische Community, aus deren Kreis die Initiative Matiullah hervorging, in Fulda zwei Kundgebungen durchgeführt, bei denen sie das Vorgehen der Polizei und strukturellen Rassismus kritisierte. Es folgten Repressionen, Beleidigungen und Bedrohungen. So erhielt der Anmelder der Demonstration, Abdulkerim Demir, der auch Vorsitzender des Ausländerbeirates in Fulda ist, in den folgenden Monaten mehrere Drohschreiben. Wegen seiner Kritik an der Polizei wandten sich der Landrat von Fulda, Bernd Woide, und der Fuldaer Oberbürgermeister Heiko Wingenfeld (beide CDU) mit der Aufforderung an das Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Demirs Zulassung als Leiter von Integrationskursen zu überprüfen.Auch nach einer Demonstration zum ersten Todestag 2019 folgten insgesamt sechs Anzeigen wegen Beleidigung, Verleumdung und übler Nachrede mit mittlerweile zwei verhängten Geldstrafen. Bei der Demonstration kam es zu Anfeindungen durch Passant*innen.Anzeigen und Hausdurchsuchung„Auch während einer Schweigeminute am Todesort provozierte ein Anwohner die Trauernden lautstark“, berichtete Belltower.News im April 2019 in einem Text über die Todesschüsse und das Gedenken. Wenige Wochen nach der Veröffentlichung wurde den Autoren mitgeteilt, dass aufgrund des Textes wegen des Verdachts der Beleidigung, der üblen Nachrede und der Verleumdung ein Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet worden sei. Die Anzeige war vom Fuldaer Polizeipräsidenten Günther Voß gestellt worden, da die Autoren fälschlicherweise von „zwölf tödlichen Schüssen“ geschrieben hatten. Im Oktober 2019 folgte in Fulda eine Hausdurchsuchung beim Administrator der Facebook-Seite „Netzwerk Fulda aktiv gegen Rassismus“, der den Text auf der Seite geteilt hatte. Nachdem ihm damit gedroht worden sei, seinen Computer zu beschlagnahmen, habe er den Polizist*innen das Passwort für die Facebook-Gruppe gegeben, schildert der Betroffene. Einer der Polizisten habe sich unter seinem Namen eingeloggt und den Artikel eigenhändig von der Seite gelöscht. Kurz darauf sei das Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt worden.Zuspruch erfährt die Polizei hingegen von der regionalen Nachrichtenseite Osthessen|News. Bereits 2019 veröffentlichte deren Chefredakteur Christian P. Stadtfeld einen Kommentar zur Gedenkveranstaltung, in dem er den Beteiligten „fehlenden Integrationswillen“ vorwarf und die Aussagen auf der Demonstration als „skandalös und ein versuchter Angriff auf unseren deutschen Rechtsstaat“ bewertete. Anlässlich der Kundgebung zum vierten Todestag in diesem Jahr kommentierte Stadtfeld dann unter dem Titel „Die Polizei ist nicht der Feind, liebe Linke!“ Die AfD hatte schon zwei Wochen nach den Geschehnissen 2018 eine Kundgebung in Fulda unter dem Motto „Danke Polizei“ organisiert, an der auch Funktionäre der hessischen NPD teilnahmen.Für Sichtbarkeit und AufklärungSchon der Umgang mit rassistischen Angriffen und Anschlägen in anderen Orten im östlichen Teil Hessens wie etwa zuletzt in Schlüchtern (vgl. LOTTA #84, S. 4 ff) zeigt, dass von Rassismus betroffene Menschen in der Region oft nur auf wenig Unterstützung zählen können. Die Initative Matiullah hingegen will weiterhin die Angehörigen in Afghanistan unterstützen und mit rechtlichen Mitteln für eine lückenlose Aufklärung kämpfen. Auch wollen sie die Erinnerung an Matiullah Jabarkhel wach halten und auf die Geschehnisse überregional aufmerksam machen. Im vergangene Jahr stellten sie seinen Nachlass der Ausstellung „Ich sehe was, was Du nicht siehst. Rassismus, Widerstand und Empowerment“ im Historischen Museum Frankfurt zur Verfügung. Gesellschaft 7764 Mon, 29 Aug 2022 12:22:59 +0200 LOTTA Was geschah mit Matiullah? Sebastian Hell Am 13. April 2018 wird der 19-jährige Matiullah Jabarkhel in Fulda von einem Polizisten erschossen. Eine aus seinem Umfeld gegründete Initiative zweifelt die Darstellung des Hergangs durch die Polizei sowie die Begründung des Polizisten, in Notwehr gehandelt zu haben, an. Gegen Kritik am polizeilichen Vorgehen wird rigide vorgegangen und Protest in der lokalen Presse diskreditiert.Laut der knappen Pressemeldung der Polizei vom 13. April 2018 wurden an diesem Morgen Einsatzkräfte gerufen, da „ein Randalierer […] einen Bäckereiladen und mehrere Personen angegriffen und teilweise schwer verletzt“ habe. Die eintreffenden Polizisten seien „sofort mit Steinen“ angegriffen worden. In den darauffolgenden Ermittlungen heißt es, Matiullah Jabarkhel habe außerdem einen Schlagstock entwendet und sei geflohen. Erst zwei Straßen weiter wurde er offenbar eingeholt, ein Polizist schoss insgesamt zwölfmal, darunter sollen sich Warnschüsse befunden haben. Vier der Schüsse trafen den 19-Jährigen, laut Autopsie sollen zwei tödlich gewesen sein. Der Polizist gibt später an, Todesangst gehabt zu haben, und stellt die Schüsse als Notwehr da.Zweifel und WidersprücheDie Initiative Matiullah bezweifelt den beschriebenen Hergang. Bis heute konnten Widersprüche nicht schlüssig erklärt werden. Warum es nicht gelungen ist, den 19-Jährigen mit insgesamt fünf Beamt*innen festzunehmen, bleibt weitestgehend unbeantwortet. Wieso hat ein einzelner Polizist versucht, den weglaufenden Matiullah zu stellen, anstatt auf Verstärkung zu warten? Auch hierfür gibt es keine ausreichende Begründung. Ein Handyvideo, das zumindest einen Teil der Auseinandersetzung vor der Bäckerei zeigt, wirft ebenfalls Fragen auf. Der Initiative zufolge stellt sich Matiullahs Verhalten auf dem Video wesentlich passiver dar als von der Polizei geschildert. Und es sei zu sehen, wie er flüchtet. Das Video führte 2019 zu erneuten Ermittlungen, die aber wiederum eingestellt wurden. Aus Sicht der Ermittelnden liege kein strafbares Verhalten seitens der Polizei vor und die Begründung der Notwehr sei glaubhaft. Auch nachdem im August 2020 der Bruder Matiullahs Beschwerde gegen die Einstellung einlegte, kam die Staatsanwaltschaft Fulda zum gleichen Ergebnis.Die Zweifel bleiben. In einem Statement beschreibt die Initiative, dass Matiullah in den Monaten vor seinem Tod psychische Probleme hatte, die offenbar durch den Druck des Asylverfahrens und die Ablehnung des Asylantrags sowie seine Lebensrealität in der Sammelunterkunft in Fulda verstärkt wurden. In dieser Zeit zeigte er sich öfter verwirrt, hatte Auseinandersetzungen mit Mitbewohnern und versuchte, Suizid zu begehen. Infolgedessen gab es Polizeieinsätze, bei denen es aber keine nennenswerten Probleme gegeben habe. Sein gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich unterdessen zusehends. Obwohl dies Sozialarbeiter*innen bekannt gewesen sei, so kritisiert die Initiative, sei ihm nur unzureichend geholfen, sondern Druck aufgebaut worden, um ihn zu einer „freiwilligen Rückkehr“ nach Afghanistan zu bewegen. Dieser stimmte er kurz vor seinem Tod auch zu, obwohl noch eine Klage wegen seines abgelehnten Asylantrags anhängig war.Protest und RepressionAm Wochenende nach den Todesschüssen hat die afghanische Community, aus deren Kreis die Initiative Matiullah hervorging, in Fulda zwei Kundgebungen durchgeführt, bei denen sie das Vorgehen der Polizei und strukturellen Rassismus kritisierte. Es folgten Repressionen, Beleidigungen und Bedrohungen. So erhielt der Anmelder der Demonstration, Abdulkerim Demir, der auch Vorsitzender des Ausländerbeirates in Fulda ist, in den folgenden Monaten mehrere Drohschreiben. Wegen seiner Kritik an der Polizei wandten sich der Landrat von Fulda, Bernd Woide, und der Fuldaer Oberbürgermeister Heiko Wingenfeld (beide CDU) mit der Aufforderung an das Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Demirs Zulassung als Leiter von Integrationskursen zu überprüfen.Auch nach einer Demonstration zum ersten Todestag 2019 folgten insgesamt sechs Anzeigen wegen Beleidigung, Verleumdung und übler Nachrede mit mittlerweile zwei verhängten Geldstrafen. Bei der Demonstration kam es zu Anfeindungen durch Passant*innen.Anzeigen und Hausdurchsuchung„Auch während einer Schweigeminute am Todesort provozierte ein Anwohner die Trauernden lautstark“, berichtete Belltower.News im April 2019 in einem Text über die Todesschüsse und das Gedenken. Wenige Wochen nach der Veröffentlichung wurde den Autoren mitgeteilt, dass aufgrund des Textes wegen des Verdachts der Beleidigung, der üblen Nachrede und der Verleumdung ein Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet worden sei. Die Anzeige war vom Fuldaer Polizeipräsidenten Günther Voß gestellt worden, da die Autoren fälschlicherweise von „zwölf tödlichen Schüssen“ geschrieben hatten. Im Oktober 2019 folgte in Fulda eine Hausdurchsuchung beim Administrator der Facebook-Seite „Netzwerk Fulda aktiv gegen Rassismus“, der den Text auf der Seite geteilt hatte. Nachdem ihm damit gedroht worden sei, seinen Computer zu beschlagnahmen, habe er den Polizist*innen das Passwort für die Facebook-Gruppe gegeben, schildert der Betroffene. Einer der Polizisten habe sich unter seinem Namen eingeloggt und den Artikel eigenhändig von der Seite gelöscht. Kurz darauf sei das Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt worden.Zuspruch erfährt die Polizei hingegen von der regionalen Nachrichtenseite Osthessen|News. Bereits 2019 veröffentlichte deren Chefredakteur Christian P. Stadtfeld einen Kommentar zur Gedenkveranstaltung, in dem er den Beteiligten „fehlenden Integrationswillen“ vorwarf und die Aussagen auf der Demonstration als „skandalös und ein versuchter Angriff auf unseren deutschen Rechtsstaat“ bewertete. Anlässlich der Kundgebung zum vierten Todestag in diesem Jahr kommentierte Stadtfeld dann unter dem Titel „Die Polizei ist nicht der Feind, liebe Linke!“ Die AfD hatte schon zwei Wochen nach den Geschehnissen 2018 eine Kundgebung in Fulda unter dem Motto „Danke Polizei“ organisiert, an der auch Funktionäre der hessischen NPD teilnahmen.Für Sichtbarkeit und AufklärungSchon der Umgang mit rassistischen Angriffen und Anschlägen in anderen Orten im östlichen Teil Hessens wie etwa zuletzt in Schlüchtern (vgl. LOTTA #84, S. 4 ff) zeigt, dass von Rassismus betroffene Menschen in der Region oft nur auf wenig Unterstützung zählen können. Die Initative Matiullah hingegen will weiterhin die Angehörigen in Afghanistan unterstützen und mit rechtlichen Mitteln für eine lückenlose Aufklärung kämpfen. Auch wollen sie die Erinnerung an Matiullah Jabarkhel wach halten und auf die Geschehnisse überregional aufmerksam machen. Im vergangene Jahr stellten sie seinen Nachlass der Ausstellung „Ich sehe was, was Du nicht siehst. Rassismus, Widerstand und Empowerment“ im Historischen Museum Frankfurt zur Verfügung. 2022-08-29T12:22:59+02:00 „Nationale Sozialisten“ im Abseits? | Neonazi-Szene und extreme Rechte im Wandel https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/87/nationale-sozialisten-im-abseits Die extreme Rechte war in den vergangenen Jahren von Entwicklungen geprägt, die gegenläufig scheinen. Zum einen formierten und radikalisierten sich unter Labels wie PEGIDA zehntausende Rechte, die politisch bislang eher unauffällig gewesen waren, und es etablierte sich mit der AfD eine Rechtsaußen-Partei. Demgegenüber verloren Strukturen an Bedeutung, die den organisierten Neonazismus in den vergangenen Dekaden geprägt hatten. Hierzu zählen insbesondere die NPD und die „Freien Kameradschaften“. Im virtuellen Raum entstanden indes völlig neue Netzwerk- und Organisationsformate.Zunächst: Im Fokus dieser Betrachtung stehen die Bundesländer Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Der Rückgang „klassischer“ Neonazi-Strukturen findet nicht überall in Deutschland statt. Noch immer gibt es Orte, in denen offen auftretende neonazistische Gruppen das Klima prägen und Angsträume schaffen. Ob diese sich „Kameradschaft“ nennen oder nicht, macht für Betroffene rechter Gewalt ohnehin keinen Unterschied.Bewegung von RechtsDen Beginn einer neuen Bewegung von Rechts markieren Ereignisse im Oktober 2014. Rechte Hooligans hatten zu einer rassistischen Demonstration am 26. Oktober in Köln aufgerufen, an der über 4.000 Personen teilnahmen. Die Bilder von Krawallen und einer überforderten Polizei bestimmten tagelang die Medien. Der extremen Rechten gab dies einen enormen Schub. Im selben Monat entstand in Dresden PEGIDA, die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes. Das Label verbreitete sich rasant. Im Januar 2015 gingen wöchentlich in Dresden um die 20.000 Personen auf die Straße, in ganz Deutschland und anderen europäischen Ländern formierten sich PEGIDA-Ableger und Nachahmer. Die rechte Gewalt stieg deutlich an. 2016 zählten die Opferberatungsstellen in Deutschland 1.984 rechte Angriffe, hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer nicht angezeigter Taten.Das Geflecht um PEGIDA integrierte nahezu alle Spektren der extremen Rechten, als Sprachrohr stellte sich die AfD auf. Alle verbindet die Überzeugung, dass Deutschland von „Volksverrätern“ regiert und der Fortbestand einer weißen christlichen Bevölkerung durch Einwanderungsgesellschaft und „Gleichmacherei“ bedroht werde. Taktgeber der Bewegung sind „Angry White Men“ — rechte Männer, die viel zu lange davon ausgehen konnten, dass ihnen qua Geschlecht, Herkunft und Nationalität privilegierte Rollen im (öffentlichen) Leben zustünden. Sie entfesselten nun ihren ganzen Zorn gegen die, die dies in Frage stellen. Dies als letztes Aufbäumen einer „alten“ patriarchalen Ordnung abzutun, wäre allerdings zu optimistisch.Der Rückgang „klassischer“ Neonazi-StrukturenNeonazis durften und dürfen in dieser Bewegung mitmachen. An einzelnen Orten präg(t)en sie die Versammlungen mit ihren Schlagworten und ihrer Symbolik sogar, doch vielerorts ist ein offenes Bekenntnis zum Nationalsozialismus unerwünscht. Auch das Organisierungsangebot von NPD und „Freien Kameradschaften“ ist hier kaum gefragt. Stattdessen erkennen viele Neonazis in der AfD ein Label, das Erfolg verspricht. Sie sind bereit, hierfür ihre neonazistischen Bekenntnisse zurückzustellen. Die NPD geriet durch den Aufstieg der AfD in eine existenzbedrohende Krise, da nun selbst auf lokaler Ebene Nachwuchs und Wahlerfolge ausblieben. Die Partei Die Rechte ist sowieso nur in wenigen Orten — wie beispielsweise in Dortmund — erfahrbar und irrlichtert perspektivlos durch die politische Landschaft.Aber die Neonazi-Szenen sind nicht verschwunden. Zulauf gerade von jüngeren Neonazis hat die Partei Der III. Weg, die heute erheblich mehr als 500 Mitglieder haben dürfte. Der III.Weg setzt nicht auf Masse und modernes Erscheinungsbild, sondern grenzt sich davon mit elitärem Gestus ab. Diverse Freundeskreise und Organisationen wie beispielsweise die Artgemeinschaft halten den harten Kern zusammen. Völkische Aussteiger und Aussteigerinnen schaffen Parallelwelten in Siedlungsgemeinschaften, deren Zahl stetig zunimmt. Dort sollen eigene Wirtschaftskreisläufe Unabhängigkeit herstellen und rigide Zugangskriterien und arrangierte Ehen die Exklusivität und Homogenität der Gemeinschaft sichern. Zuspruch finden diese Siedlungskonzepte auch unter „Reichsbürgern“ und im esoterischen Spektrum.Soziales Abseits und lebensweltliche VeränderungenIn der Kommunikation von Neonazis ist der Grundtenor zu vernehmen, dass das Szeneleben langweilig geworden sei. Neonazi zu sein, macht vielerorts einsam. Es fehlen Impulse und Erlebnisräume. Repression und insbesondere gesellschaftliche Gegenbewegungen haben ihre Spielräume erheblich verengt. Viele Treffpunkte sind geschlossen, durch Auflagen unattraktiv geworden, und es mangelt an Aktiven, die diese mit Engagement füllen. Konnte sich eine „Freie Kameradschaft“ noch vor wenigen Jahren auf „unpolitischen“ Rock-Festivals in der Region aufstellen und dabei auf die Akzeptanz von Besucher*innen und Veranstalter*innen verlassen, so hängt heute auf vielen dieser Events das „Gegen Nazis“-Banner an der Bühne, und die Security verweigert schon wegen Thor Steinar-Kleidung den Zutritt. In vielen Fußballstadien war die Entwicklung ähnlich.Patrick Schröder aus Bayern, einer der wenigen Neonazis, der einen analytischen Blick auf seine Szene hat, veranschaulichte das Problem in einem Video, das im Mai 2022 online ging. Das Thema: „Frauen kennenlernen als >Rechter<?“. Er beklagt, dass die Möglichkeiten „sehr gering“ seien, in der „feminisierten Gesellschaft“ eine Frau fürs Leben zu finden, und gibt Tipps, wie es dennoch klappen könnte. „Nationale Sozialisten“ sehen sich vielerorts im sozialen Abseits. Was dazu führt, dass Mann sich um ein attraktiveres Erscheinungsbild bemüht.Neonazistische Organisationen, die in den letzten Jahren Bedeutung erlangten, nennen sich beispielsweise Bruderschaft Deutschland und Kampf der Nibelungen. Erstere nutzt als Gruppensymbol die Zeichnung einer Faust, zweitere ein Lindenblatt im einem Achteck. Dass Neonazigruppen ihre politische Identität nicht im Namen und Logo deutlich machen, ist vor allem Ausdruck einer lebensweltlichen Verschiebung. So wie die Zahl der Kameradschaften zurückging, organisierten sich Neonazis zunehmend in „Bruderschaften“ im Stil von Rocker-Gruppen. Der Trend hält bis heute an. An die Stelle der politischen Kampfgemeinschaft tritt der elitär aufgeblasene Männerbund. Darüber entzogen sich viele Neonazis den Verpflichtungen und Konsequenzen, die der Aktivismus in einer explizit politischen Gruppe mit sich bringt. Die „Politik“ der Bruderschaft Deutschland, die ihren Schwerpunkt im Großraum Düsseldorf hat, besteht darin, kämpferische Männlichkeit auszustrahlen und ein Territorium zu reklamieren. Doch hat sie in den mittlerweile sechs Jahren ihres Bestehens vermutlich nicht eine einzige Schulungsveranstaltung durchgeführt. Seit 2020 ist von dieser Gruppe allerdings immer weniger zu hören und zu sehen, der Zusammenhang besteht aber weiterhin.Die „Bruderschaften“ kennzeichnen auch einen Abschied von der Jugendkultur. Was zur Frage führt, was im Jahr 2022 neonazistische Jugendkultur ausmacht. RechtsRock ist es nicht mehr. Die Szenekonzerte waren früher zentrale Orte des Kennenlernens und der Integration, heute trifft man dort kaum mehr Jugendliche an. Junge Neonazis finden sich nun vor allem in Kampfsportszenen. Das Modell der „Freien Kameradschaft“ hat sich in extrem rechte Kampfsport-Gruppen transformiert. Ihr politisches Ziel ist es, sich und andere für den Straßenkampf und „Tag X“ auszubilden. Doch bei vielen steht das Ego im Vordergrund: die Optimierung von Körper, Kraft und Männlichkeit. Das Kampfsportturnier am Wochenende ist dann eben wichtiger als die Teilnahme an einem Aufmarsch.Neonazistische Erlebniswelt im KleinformatAufmärsche finden sowieso immer seltener statt. Selbst die NS-„Heldengedenken“, in früheren Zeiten unverzichtbar zur Selbstvergewisserung der Szene, locken nur noch wenige. Das „Gedenken“ an deutsche Kriegsgefangene im britischen Lager bei Remagen (Rheinland-Pfalz) mobilisierte in den vergangenen Jahren hunderte Neonazis aus ganz Deutschland. Am 13. November 2021 stand dann ein Häuflein von 50 Neonazis 600 Antifaschist*innen gegenüber.So stellt sich die Frage: Was treibt die „Nationale Jugend“ am Wochenende, wenn sich der Aufmarsch nicht lohnt und auch kein Kampfsport-Event ansteht? Viele sitzen dann am Computer, nicht wenige gehen auch wandern. Tatsächlich ist der Wandertag für manche Gruppen zur Hauptbeschäftigung geworden. Der allgemeine Trend zu Outdoor und Fitness ist hierfür nur ein Grund. Das Wandern wird ideologisch aufgeladen durch Phrasen von Heimatliebe und einem gesunden Körper. Zumeist führen die Ausflüge zu Denkmälern oder historischen Orten, wo Vorträge über deutsche Geschichte gehalten werden. Vor allem aber bietet Wandern das Erlebnis von Gemeinschaft in einem sicheren Terrain: Antifaschistische Blockaden und polizeiliche Kontrollen sind nicht zu befürchten. Im tiefen Wald ist eben niemand, der sich über sie beschwert.Bürgerwehren und „Schattenarmee“Parallel zum Rückgang „klassischer“ Neonazi-Szenen wachsen Gefahren aus anderen Spektren. Enorm gestiegen ist in den letzten Jahren die Bedeutung der „Reichsbürger“. Ihre Propaganda, wonach Deutschland kein souveräner Staat und deshalb herrschende Gesetze nicht bindend wären, strahlt weit über die eigene Szene hinaus und verfängt sich derzeit in den Protesten der Pandemieleugner*innen und Impfgegner*innen. Sie geht nicht selten einher mit Umsturz-Fantasien und Bewaffnung.Im Jahr 2015 begannen Rechte, sich vielerorts als „Bürgerwehren“ gegen Geflüchtete aufzustellen, für sie wurde aus den Debatten über die US-amerikanische „Militia“-Bewegung der Begriff des Vigilantismus übertragen. Er beschreibt Personen, die glauben, Recht und Gesetz in die eigenen Hände nehmen und „ihre“ Territorien und Privilegien gegen jene verteidigen zu müssen und dürfen, die von ihnen als Feinde angesehen werden. Im Milieu von „Reichsbürgern“ und selbsternannten „Bürgerwehren“ entstanden Gruppen, die in den vergangenen Jahren Schlagzeilen machten, weil sie sich bewaffneten und Terroranschläge planten. Dass einige Pläne im Vorfeld aufflogen, ist vor allem der Unerfahrenheit ungeschulter Akteure geschuldet, die mitunter äußerst dilettantisch agierten. Viele Personen, die heute im Fokus stehen, sind Männer zwischen 40 und 60 Jahren, die keine Sozialisation in der Neonazi-Szene durchlaufen haben und oft nur lose mit dieser verbunden sind. Für Antifaschist*innen waren sie deshalb nicht greifbar.Ein enorme Bedrohung sind die rechten Netzwerke in den Sicherheitsbehörden. Rechte Polizei- und Militärangehörige, unter ihnen etliche „Reichsbürger“ und Neonazis, formieren und vernetzen sich als eine Art „Schattenarmee“. Ziel ist es, durch Anschläge und Sabotageakte den Staat zu destabilisieren und am ersehnten „Tag X“ einen Umsturz herbeizuführen und die Macht zu übernehmen. Gruppen wie Nordkreuz planen auch die Liquidierung politischer Gegner*innen. Diese Netzwerke haben Zugang zu Kriegswaffen, Sprengstoff und Datenbanken. Der staatliche Umgang mit dieser Bedrohung ist bestimmt vom Bemühen, rechte Kräfte in Polizei und Armee nicht weiter gegen sich aufzubringen und das Problem als „Einzelfälle“ zu verharmlosen, gefolgt von Lippenbekenntnissen und Symbolpolitik.Corona-Maßnahmen-Proteste als rechtes AktionsfeldIn den Protesten gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie eröffnete sich extrem Rechten ein neues Aktionsfeld. Dort, wo sie gut aufgestellt sind, prägen sie diese Proteste sogar, anderswo dürfen sie immerhin mitmachen. Die Bewegung der Pandemieleugner*innen und Impfgegner*innen ist indes viel zu heterogen, als dass man sie als extrem rechte Bewegung verallgemeinern könnte. Antisemitismus, Biologismus, Verschwörungserzählungen sowie eine grundlegende Gesellschaftsfeindlichkeit sind dort jedoch allgegenwärtig. Viele Corona-Leugner*innen und Impfgegner*innen sind empfänglich für „Reichsbürger“-Erzählungen und für die Verheißung eines „neuen Lebens“ in einer abgeschotteten völkischen Gemeinschaft.Einen Erfolg kann die Bewegung darin verbuchen, dass sie der politischen Linken das Label des Rebellischen streitig macht, indem sie sich den Kampf gegen staatliche Bevormundung auf die Fahnen schreibt, wenngleich ihr Verständnis davon nicht über egoistische Interessen hinausgeht. In den Protesten der Pandemieleugner*innen und Impfgegner*innen tritt eine Szene in Erscheinung, die als politische Akteurin bislang oft nicht ernst genommen wurde: ein esoterisches Spektrum, das mit voller Wucht sein reaktionäres Potential entfaltet und Antifaschist*innen an vielen Orten rat- und tatenlos macht. „Nazis raus“-Sprechchöre von Gegendemonstrant*innen verpuffen gegenüber Personen, die sich selbst im Kampf gegen eine „Corona-Diktatur“ und gegen „Pharmafaschismus“ wähnen, aber zumeist keinerlei Probleme damit haben, Schulter an Schulter mit AfD und Neonazis zu demonstrieren. Die Szenen verfließen.Die virtuelle „nationale Bewegung“Was der Propaganda und Organisierung völlig neue Möglichkeiten eröffnete, ist die virtuelle Welt der Sozialen Netzwerke, Foren und Chatrooms. Hier findet der*die Einzelne mit wenigen Mausklicks Anschluss an die „Nationale Bewegung“. Hier gibt es offene Räume, in denen man unverbindlich mitmachen kann, und konspirative Nischen für die, die es mit „Untergrund“ und „Tag X“ ernst meinen. Hier können Gruppen ohne viel Aufwand ihre Aktionen vermitteln. Das Anbringen eines Banners frühmorgens an einer abseits gelegen Brücke wird per Videoclip als spektakuläre Tat aufbereitet und online gestellt. Man braucht zur Bestätigung kein Echo politischer Gegner*innen oder Medien, man verschafft sich die Bestätigung selbst.Vor allem aber verbindet und organisiert „das Netz“ Menschen in den Regionen und zu speziellen Themen. Der Neonazi, der am 11. Oktober 2019 in Halle die jüdische Jom-Kippur-Feier überfallen wollte und zwei Menschen ermordete, fand seine Unterstützer und Unterstützerinnen ausschließlich in Internetforen. Er hatte, soweit festgestellt werden konnte, keine soziale und politische Anbindung außerhalb virtueller Räume. Und als aktuelles Beispiel: In der Gruppe „Aktive Veteranen und Patrioten“ im Messenger-Dienst Telegram formierte sich ein harter Kern, der Schusswaffen beschaffte und einen Minister entführen wollte. Im April 2022 wurde die Gruppe ausgehoben.DiskursverschiebungenErfolge erlebte die extreme Rechte darin, dass sich gesellschaftliche Diskurse in ihrem Sinne verschoben. So schafften es rechte Kreise, vielen Menschen durch ständiges Insistieren glaubhaft zu machen, dass in der Ära Merkel ein dramatischer Linksruck in Staat und Gesellschaft stattgefunden hätte. Als Beweis hierfür werden gerne auch Unisex-Toiletten in öffentlichen Gebäuden angeführt. Kaum eine Straßenumbenennung, ohne dass zornige weiße Männer in den Feuilletons in Wallung geraten und lautstark ihre eingebildete Diskriminierung beklagen. Tatsächlich rückte der Staat auf vielen Ebenen nach rechts. Beispiele hierfür sind das massenhafte Sterben an Europas Grenzen durch ein Migrationsregime, in dem Menschenrechtsverletzungen alltäglich sind, sowie Polizei- und Geheimdienstgesetze, die einen weiteren Schritt zum Überwachungs- und Polizeistaat markieren.Und schließlich: Von den Opferberatungsstellen wurden 2019 bis 2022 jährlich zwischen 1.300 und 1.400 rechte, rassistische und antisemitische Angriffe in Deutschland gezählt. Die Gewaltbereitschaft der Rechten ist nach wie vor enorm hoch und angesichts der Vielzahl gewaltbereiter Personen noch unkalkulierbarer geworden. Klassische, offen auftretende Neonazis spielen hierbei schon länger nicht mehr die Hauptrolle. Schwerpunkt 7763 Fri, 26 Aug 2022 22:30:39 +0200 LOTTA „Nationale Sozialisten“ im Abseits? Simon Tolvaj Die extreme Rechte war in den vergangenen Jahren von Entwicklungen geprägt, die gegenläufig scheinen. Zum einen formierten und radikalisierten sich unter Labels wie PEGIDA zehntausende Rechte, die politisch bislang eher unauffällig gewesen waren, und es etablierte sich mit der AfD eine Rechtsaußen-Partei. Demgegenüber verloren Strukturen an Bedeutung, die den organisierten Neonazismus in den vergangenen Dekaden geprägt hatten. Hierzu zählen insbesondere die NPD und die „Freien Kameradschaften“. Im virtuellen Raum entstanden indes völlig neue Netzwerk- und Organisationsformate.Zunächst: Im Fokus dieser Betrachtung stehen die Bundesländer Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Der Rückgang „klassischer“ Neonazi-Strukturen findet nicht überall in Deutschland statt. Noch immer gibt es Orte, in denen offen auftretende neonazistische Gruppen das Klima prägen und Angsträume schaffen. Ob diese sich „Kameradschaft“ nennen oder nicht, macht für Betroffene rechter Gewalt ohnehin keinen Unterschied.Bewegung von RechtsDen Beginn einer neuen Bewegung von Rechts markieren Ereignisse im Oktober 2014. Rechte Hooligans hatten zu einer rassistischen Demonstration am 26. Oktober in Köln aufgerufen, an der über 4.000 Personen teilnahmen. Die Bilder von Krawallen und einer überforderten Polizei bestimmten tagelang die Medien. Der extremen Rechten gab dies einen enormen Schub. Im selben Monat entstand in Dresden PEGIDA, die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes. Das Label verbreitete sich rasant. Im Januar 2015 gingen wöchentlich in Dresden um die 20.000 Personen auf die Straße, in ganz Deutschland und anderen europäischen Ländern formierten sich PEGIDA-Ableger und Nachahmer. Die rechte Gewalt stieg deutlich an. 2016 zählten die Opferberatungsstellen in Deutschland 1.984 rechte Angriffe, hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer nicht angezeigter Taten.Das Geflecht um PEGIDA integrierte nahezu alle Spektren der extremen Rechten, als Sprachrohr stellte sich die AfD auf. Alle verbindet die Überzeugung, dass Deutschland von „Volksverrätern“ regiert und der Fortbestand einer weißen christlichen Bevölkerung durch Einwanderungsgesellschaft und „Gleichmacherei“ bedroht werde. Taktgeber der Bewegung sind „Angry White Men“ — rechte Männer, die viel zu lange davon ausgehen konnten, dass ihnen qua Geschlecht, Herkunft und Nationalität privilegierte Rollen im (öffentlichen) Leben zustünden. Sie entfesselten nun ihren ganzen Zorn gegen die, die dies in Frage stellen. Dies als letztes Aufbäumen einer „alten“ patriarchalen Ordnung abzutun, wäre allerdings zu optimistisch.Der Rückgang „klassischer“ Neonazi-StrukturenNeonazis durften und dürfen in dieser Bewegung mitmachen. An einzelnen Orten präg(t)en sie die Versammlungen mit ihren Schlagworten und ihrer Symbolik sogar, doch vielerorts ist ein offenes Bekenntnis zum Nationalsozialismus unerwünscht. Auch das Organisierungsangebot von NPD und „Freien Kameradschaften“ ist hier kaum gefragt. Stattdessen erkennen viele Neonazis in der AfD ein Label, das Erfolg verspricht. Sie sind bereit, hierfür ihre neonazistischen Bekenntnisse zurückzustellen. Die NPD geriet durch den Aufstieg der AfD in eine existenzbedrohende Krise, da nun selbst auf lokaler Ebene Nachwuchs und Wahlerfolge ausblieben. Die Partei Die Rechte ist sowieso nur in wenigen Orten — wie beispielsweise in Dortmund — erfahrbar und irrlichtert perspektivlos durch die politische Landschaft.Aber die Neonazi-Szenen sind nicht verschwunden. Zulauf gerade von jüngeren Neonazis hat die Partei Der III. Weg, die heute erheblich mehr als 500 Mitglieder haben dürfte. Der III.Weg setzt nicht auf Masse und modernes Erscheinungsbild, sondern grenzt sich davon mit elitärem Gestus ab. Diverse Freundeskreise und Organisationen wie beispielsweise die Artgemeinschaft halten den harten Kern zusammen. Völkische Aussteiger und Aussteigerinnen schaffen Parallelwelten in Siedlungsgemeinschaften, deren Zahl stetig zunimmt. Dort sollen eigene Wirtschaftskreisläufe Unabhängigkeit herstellen und rigide Zugangskriterien und arrangierte Ehen die Exklusivität und Homogenität der Gemeinschaft sichern. Zuspruch finden diese Siedlungskonzepte auch unter „Reichsbürgern“ und im esoterischen Spektrum.Soziales Abseits und lebensweltliche VeränderungenIn der Kommunikation von Neonazis ist der Grundtenor zu vernehmen, dass das Szeneleben langweilig geworden sei. Neonazi zu sein, macht vielerorts einsam. Es fehlen Impulse und Erlebnisräume. Repression und insbesondere gesellschaftliche Gegenbewegungen haben ihre Spielräume erheblich verengt. Viele Treffpunkte sind geschlossen, durch Auflagen unattraktiv geworden, und es mangelt an Aktiven, die diese mit Engagement füllen. Konnte sich eine „Freie Kameradschaft“ noch vor wenigen Jahren auf „unpolitischen“ Rock-Festivals in der Region aufstellen und dabei auf die Akzeptanz von Besucher*innen und Veranstalter*innen verlassen, so hängt heute auf vielen dieser Events das „Gegen Nazis“-Banner an der Bühne, und die Security verweigert schon wegen Thor Steinar-Kleidung den Zutritt. In vielen Fußballstadien war die Entwicklung ähnlich.Patrick Schröder aus Bayern, einer der wenigen Neonazis, der einen analytischen Blick auf seine Szene hat, veranschaulichte das Problem in einem Video, das im Mai 2022 online ging. Das Thema: „Frauen kennenlernen als >Rechter<?“. Er beklagt, dass die Möglichkeiten „sehr gering“ seien, in der „feminisierten Gesellschaft“ eine Frau fürs Leben zu finden, und gibt Tipps, wie es dennoch klappen könnte. „Nationale Sozialisten“ sehen sich vielerorts im sozialen Abseits. Was dazu führt, dass Mann sich um ein attraktiveres Erscheinungsbild bemüht.Neonazistische Organisationen, die in den letzten Jahren Bedeutung erlangten, nennen sich beispielsweise Bruderschaft Deutschland und Kampf der Nibelungen. Erstere nutzt als Gruppensymbol die Zeichnung einer Faust, zweitere ein Lindenblatt im einem Achteck. Dass Neonazigruppen ihre politische Identität nicht im Namen und Logo deutlich machen, ist vor allem Ausdruck einer lebensweltlichen Verschiebung. So wie die Zahl der Kameradschaften zurückging, organisierten sich Neonazis zunehmend in „Bruderschaften“ im Stil von Rocker-Gruppen. Der Trend hält bis heute an. An die Stelle der politischen Kampfgemeinschaft tritt der elitär aufgeblasene Männerbund. Darüber entzogen sich viele Neonazis den Verpflichtungen und Konsequenzen, die der Aktivismus in einer explizit politischen Gruppe mit sich bringt. Die „Politik“ der Bruderschaft Deutschland, die ihren Schwerpunkt im Großraum Düsseldorf hat, besteht darin, kämpferische Männlichkeit auszustrahlen und ein Territorium zu reklamieren. Doch hat sie in den mittlerweile sechs Jahren ihres Bestehens vermutlich nicht eine einzige Schulungsveranstaltung durchgeführt. Seit 2020 ist von dieser Gruppe allerdings immer weniger zu hören und zu sehen, der Zusammenhang besteht aber weiterhin.Die „Bruderschaften“ kennzeichnen auch einen Abschied von der Jugendkultur. Was zur Frage führt, was im Jahr 2022 neonazistische Jugendkultur ausmacht. RechtsRock ist es nicht mehr. Die Szenekonzerte waren früher zentrale Orte des Kennenlernens und der Integration, heute trifft man dort kaum mehr Jugendliche an. Junge Neonazis finden sich nun vor allem in Kampfsportszenen. Das Modell der „Freien Kameradschaft“ hat sich in extrem rechte Kampfsport-Gruppen transformiert. Ihr politisches Ziel ist es, sich und andere für den Straßenkampf und „Tag X“ auszubilden. Doch bei vielen steht das Ego im Vordergrund: die Optimierung von Körper, Kraft und Männlichkeit. Das Kampfsportturnier am Wochenende ist dann eben wichtiger als die Teilnahme an einem Aufmarsch.Neonazistische Erlebniswelt im KleinformatAufmärsche finden sowieso immer seltener statt. Selbst die NS-„Heldengedenken“, in früheren Zeiten unverzichtbar zur Selbstvergewisserung der Szene, locken nur noch wenige. Das „Gedenken“ an deutsche Kriegsgefangene im britischen Lager bei Remagen (Rheinland-Pfalz) mobilisierte in den vergangenen Jahren hunderte Neonazis aus ganz Deutschland. Am 13. November 2021 stand dann ein Häuflein von 50 Neonazis 600 Antifaschist*innen gegenüber.So stellt sich die Frage: Was treibt die „Nationale Jugend“ am Wochenende, wenn sich der Aufmarsch nicht lohnt und auch kein Kampfsport-Event ansteht? Viele sitzen dann am Computer, nicht wenige gehen auch wandern. Tatsächlich ist der Wandertag für manche Gruppen zur Hauptbeschäftigung geworden. Der allgemeine Trend zu Outdoor und Fitness ist hierfür nur ein Grund. Das Wandern wird ideologisch aufgeladen durch Phrasen von Heimatliebe und einem gesunden Körper. Zumeist führen die Ausflüge zu Denkmälern oder historischen Orten, wo Vorträge über deutsche Geschichte gehalten werden. Vor allem aber bietet Wandern das Erlebnis von Gemeinschaft in einem sicheren Terrain: Antifaschistische Blockaden und polizeiliche Kontrollen sind nicht zu befürchten. Im tiefen Wald ist eben niemand, der sich über sie beschwert.Bürgerwehren und „Schattenarmee“Parallel zum Rückgang „klassischer“ Neonazi-Szenen wachsen Gefahren aus anderen Spektren. Enorm gestiegen ist in den letzten Jahren die Bedeutung der „Reichsbürger“. Ihre Propaganda, wonach Deutschland kein souveräner Staat und deshalb herrschende Gesetze nicht bindend wären, strahlt weit über die eigene Szene hinaus und verfängt sich derzeit in den Protesten der Pandemieleugner*innen und Impfgegner*innen. Sie geht nicht selten einher mit Umsturz-Fantasien und Bewaffnung.Im Jahr 2015 begannen Rechte, sich vielerorts als „Bürgerwehren“ gegen Geflüchtete aufzustellen, für sie wurde aus den Debatten über die US-amerikanische „Militia“-Bewegung der Begriff des Vigilantismus übertragen. Er beschreibt Personen, die glauben, Recht und Gesetz in die eigenen Hände nehmen und „ihre“ Territorien und Privilegien gegen jene verteidigen zu müssen und dürfen, die von ihnen als Feinde angesehen werden. Im Milieu von „Reichsbürgern“ und selbsternannten „Bürgerwehren“ entstanden Gruppen, die in den vergangenen Jahren Schlagzeilen machten, weil sie sich bewaffneten und Terroranschläge planten. Dass einige Pläne im Vorfeld aufflogen, ist vor allem der Unerfahrenheit ungeschulter Akteure geschuldet, die mitunter äußerst dilettantisch agierten. Viele Personen, die heute im Fokus stehen, sind Männer zwischen 40 und 60 Jahren, die keine Sozialisation in der Neonazi-Szene durchlaufen haben und oft nur lose mit dieser verbunden sind. Für Antifaschist*innen waren sie deshalb nicht greifbar.Ein enorme Bedrohung sind die rechten Netzwerke in den Sicherheitsbehörden. Rechte Polizei- und Militärangehörige, unter ihnen etliche „Reichsbürger“ und Neonazis, formieren und vernetzen sich als eine Art „Schattenarmee“. Ziel ist es, durch Anschläge und Sabotageakte den Staat zu destabilisieren und am ersehnten „Tag X“ einen Umsturz herbeizuführen und die Macht zu übernehmen. Gruppen wie Nordkreuz planen auch die Liquidierung politischer Gegner*innen. Diese Netzwerke haben Zugang zu Kriegswaffen, Sprengstoff und Datenbanken. Der staatliche Umgang mit dieser Bedrohung ist bestimmt vom Bemühen, rechte Kräfte in Polizei und Armee nicht weiter gegen sich aufzubringen und das Problem als „Einzelfälle“ zu verharmlosen, gefolgt von Lippenbekenntnissen und Symbolpolitik.Corona-Maßnahmen-Proteste als rechtes AktionsfeldIn den Protesten gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie eröffnete sich extrem Rechten ein neues Aktionsfeld. Dort, wo sie gut aufgestellt sind, prägen sie diese Proteste sogar, anderswo dürfen sie immerhin mitmachen. Die Bewegung der Pandemieleugner*innen und Impfgegner*innen ist indes viel zu heterogen, als dass man sie als extrem rechte Bewegung verallgemeinern könnte. Antisemitismus, Biologismus, Verschwörungserzählungen sowie eine grundlegende Gesellschaftsfeindlichkeit sind dort jedoch allgegenwärtig. Viele Corona-Leugner*innen und Impfgegner*innen sind empfänglich für „Reichsbürger“-Erzählungen und für die Verheißung eines „neuen Lebens“ in einer abgeschotteten völkischen Gemeinschaft.Einen Erfolg kann die Bewegung darin verbuchen, dass sie der politischen Linken das Label des Rebellischen streitig macht, indem sie sich den Kampf gegen staatliche Bevormundung auf die Fahnen schreibt, wenngleich ihr Verständnis davon nicht über egoistische Interessen hinausgeht. In den Protesten der Pandemieleugner*innen und Impfgegner*innen tritt eine Szene in Erscheinung, die als politische Akteurin bislang oft nicht ernst genommen wurde: ein esoterisches Spektrum, das mit voller Wucht sein reaktionäres Potential entfaltet und Antifaschist*innen an vielen Orten rat- und tatenlos macht. „Nazis raus“-Sprechchöre von Gegendemonstrant*innen verpuffen gegenüber Personen, die sich selbst im Kampf gegen eine „Corona-Diktatur“ und gegen „Pharmafaschismus“ wähnen, aber zumeist keinerlei Probleme damit haben, Schulter an Schulter mit AfD und Neonazis zu demonstrieren. Die Szenen verfließen.Die virtuelle „nationale Bewegung“Was der Propaganda und Organisierung völlig neue Möglichkeiten eröffnete, ist die virtuelle Welt der Sozialen Netzwerke, Foren und Chatrooms. Hier findet der*die Einzelne mit wenigen Mausklicks Anschluss an die „Nationale Bewegung“. Hier gibt es offene Räume, in denen man unverbindlich mitmachen kann, und konspirative Nischen für die, die es mit „Untergrund“ und „Tag X“ ernst meinen. Hier können Gruppen ohne viel Aufwand ihre Aktionen vermitteln. Das Anbringen eines Banners frühmorgens an einer abseits gelegen Brücke wird per Videoclip als spektakuläre Tat aufbereitet und online gestellt. Man braucht zur Bestätigung kein Echo politischer Gegner*innen oder Medien, man verschafft sich die Bestätigung selbst.Vor allem aber verbindet und organisiert „das Netz“ Menschen in den Regionen und zu speziellen Themen. Der Neonazi, der am 11. Oktober 2019 in Halle die jüdische Jom-Kippur-Feier überfallen wollte und zwei Menschen ermordete, fand seine Unterstützer und Unterstützerinnen ausschließlich in Internetforen. Er hatte, soweit festgestellt werden konnte, keine soziale und politische Anbindung außerhalb virtueller Räume. Und als aktuelles Beispiel: In der Gruppe „Aktive Veteranen und Patrioten“ im Messenger-Dienst Telegram formierte sich ein harter Kern, der Schusswaffen beschaffte und einen Minister entführen wollte. Im April 2022 wurde die Gruppe ausgehoben.DiskursverschiebungenErfolge erlebte die extreme Rechte darin, dass sich gesellschaftliche Diskurse in ihrem Sinne verschoben. So schafften es rechte Kreise, vielen Menschen durch ständiges Insistieren glaubhaft zu machen, dass in der Ära Merkel ein dramatischer Linksruck in Staat und Gesellschaft stattgefunden hätte. Als Beweis hierfür werden gerne auch Unisex-Toiletten in öffentlichen Gebäuden angeführt. Kaum eine Straßenumbenennung, ohne dass zornige weiße Männer in den Feuilletons in Wallung geraten und lautstark ihre eingebildete Diskriminierung beklagen. Tatsächlich rückte der Staat auf vielen Ebenen nach rechts. Beispiele hierfür sind das massenhafte Sterben an Europas Grenzen durch ein Migrationsregime, in dem Menschenrechtsverletzungen alltäglich sind, sowie Polizei- und Geheimdienstgesetze, die einen weiteren Schritt zum Überwachungs- und Polizeistaat markieren.Und schließlich: Von den Opferberatungsstellen wurden 2019 bis 2022 jährlich zwischen 1.300 und 1.400 rechte, rassistische und antisemitische Angriffe in Deutschland gezählt. Die Gewaltbereitschaft der Rechten ist nach wie vor enorm hoch und angesichts der Vielzahl gewaltbereiter Personen noch unkalkulierbarer geworden. Klassische, offen auftretende Neonazis spielen hierbei schon länger nicht mehr die Hauptrolle. 2022-08-26T22:30:39+02:00 Offene Wunden Osteuropas | https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/87/offene-wunden-osteuropas Das Wissen um die Dimensionen des deutschen Vernichtungskriegs in Osteuropa ist in der deutschen Gesellschaft bis heute gering. Zusammen mit Studierenden haben die Osteuropa-Historiker_innen Franziska Davies und Katja Makhotina Erinnerungsorte mit Bezug zum Zweiten Weltkrieg besucht. Die dabei gesammelten Erfahrungen und die Auseinandersetzung mit den Orten haben sie in dem im Frühjahr 2022 erschienenen Band zusammengefasst. In zehn gut lesbaren Essays setzen sich die Autor_innen mit den Aufständen im Warschauer Ghetto (1943) und in Warschau (1944) und dem „Holocaust by Bullets“ auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, in Belarus und dem Baltikum auseinander, beispielsweise mit den Massenerschießungen von Jüdinnen_Juden in der Schlucht von Babyn Jar in Kiew. Mit der NS-„Aktion Reinhardt“ beschäftigen sie sich anhand des Mordlagers in Bełżec und des KZ und Mordlagers Majdanek in Lublin. Der Erinnerung an die im deutschen Kontext kaum thematisierte Belagerung der Städte Leningrad und Stalingrad durch die deutsche Wehrmacht widmet sich jeweils ein weiteres Kapitel. Ebenfalls wenig bekannt dürften vielen Leser_innen die Pogrome, Massaker und Vertreibungen durch polnische und ukrainischen Nationalisten, die am Beispiel der Stadt Lwiw (ehemals „Lemberg“) thematisiert werden, sein. Es gelingt den Autor_innen, ohne Relativierung oder Gleichsetzung auch die sowjetische Besatzungspraxis im Baltikum und in Ostpolen, vor deren Hintergrund die Wehrmacht zum Teil bis heute als „Befreier“ wahrgenommen wird, und die vielschichtigen nationalen und ethnischen Erinnerungskulturen zu thematisieren.Das Buch ist ein guter Einstieg in die Auseinandersetzung mit der Erinnerung an die Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs in Osteuropa. Die Autor_innen plädieren für eine kritische und empathische Erinnerungskultur, die die vielschichtigen Perspektiven der Opfer des deutschen Vernichtungskrieges in Osteuropa ins Zentrum rückt.Davies, Franziska / Makhotina, Katja:Offene Wunden Osteuropas. Reise zu Erinnerungsorten des zweiten Weltkriegswbg Theiss, Darmstadt 2022288 Seiten, 28 Euro Rezension 7762 Fri, 26 Aug 2022 21:30:15 +0200 LOTTA Offene Wunden Osteuropas Johannes Hartwig Das Wissen um die Dimensionen des deutschen Vernichtungskriegs in Osteuropa ist in der deutschen Gesellschaft bis heute gering. Zusammen mit Studierenden haben die Osteuropa-Historiker_innen Franziska Davies und Katja Makhotina Erinnerungsorte mit Bezug zum Zweiten Weltkrieg besucht. Die dabei gesammelten Erfahrungen und die Auseinandersetzung mit den Orten haben sie in dem im Frühjahr 2022 erschienenen Band zusammengefasst. In zehn gut lesbaren Essays setzen sich die Autor_innen mit den Aufständen im Warschauer Ghetto (1943) und in Warschau (1944) und dem „Holocaust by Bullets“ auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, in Belarus und dem Baltikum auseinander, beispielsweise mit den Massenerschießungen von Jüdinnen_Juden in der Schlucht von Babyn Jar in Kiew. Mit der NS-„Aktion Reinhardt“ beschäftigen sie sich anhand des Mordlagers in Bełżec und des KZ und Mordlagers Majdanek in Lublin. Der Erinnerung an die im deutschen Kontext kaum thematisierte Belagerung der Städte Leningrad und Stalingrad durch die deutsche Wehrmacht widmet sich jeweils ein weiteres Kapitel. Ebenfalls wenig bekannt dürften vielen Leser_innen die Pogrome, Massaker und Vertreibungen durch polnische und ukrainischen Nationalisten, die am Beispiel der Stadt Lwiw (ehemals „Lemberg“) thematisiert werden, sein. Es gelingt den Autor_innen, ohne Relativierung oder Gleichsetzung auch die sowjetische Besatzungspraxis im Baltikum und in Ostpolen, vor deren Hintergrund die Wehrmacht zum Teil bis heute als „Befreier“ wahrgenommen wird, und die vielschichtigen nationalen und ethnischen Erinnerungskulturen zu thematisieren.Das Buch ist ein guter Einstieg in die Auseinandersetzung mit der Erinnerung an die Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs in Osteuropa. Die Autor_innen plädieren für eine kritische und empathische Erinnerungskultur, die die vielschichtigen Perspektiven der Opfer des deutschen Vernichtungskrieges in Osteuropa ins Zentrum rückt.Davies, Franziska / Makhotina, Katja:Offene Wunden Osteuropas. Reise zu Erinnerungsorten des zweiten Weltkriegswbg Theiss, Darmstadt 2022288 Seiten, 28 Euro 2022-08-26T21:30:15+02:00 Rufe aus der Vergangenheit | https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/87/rufe-aus-der-vergangenheit Als die Graphic Novel 2021 in den USA erschien, wurde sie schnell zu einem Erfolg. Nun ist sie endlich auch auf Deutsch erschienen. Die Juristin und Historikerin Rebecca Hall nimmt Leser*innen mit auf ihre Reise bei der Erforschung der Geschichten widerständiger versklavter Schwarzer Frauen im Rahmen des transatlantischen Sklavenhandels. Hall betont die zentrale Rolle, die Frauen immer wieder bei Aufständen auf Schiffen während der Überfahrt übernahmen, und beleuchtet ihre Führungsrollen bei wenig bekannten Aufständen in den englischen Kolonien in Nordamerika im 18. Jahrhundert, aus denen die heutigen USA hervorgingen. Dabei gelingt es ihr geschickt, auch ihre eigene Familiengeschichte einzubauen und die Auswirkungen von Versklavung und gesellschaftlicher Diskriminierung aufzuzeigen, insbesondere wenn ersteres nur wenige Generationen zurückliegt. Angesichts neu entfachter politischer Debatten über Reparationen an die Nachkommen von Versklavten als Mittel des sozialen Ausgleichs ist das ein besonders relevanter Aspekt. Rechercheinteressierten wird gefallen, wie Hall die kleinteilige und lange Forschungsarbeit in Archiven darstellt, sowie die Hürden, die sie überwinden musste, um an Informationen zu kommen. Ein besonders zu betonender Aspekt ist, dass es Hall gelingt, die Verflechtungen des transatlantischen Sklavenhandels zwischen Nordamerika, Europa und Afrika anhand konkreter Geschichten auf allen drei Kontinenten und dem Atlantik greifbar zu machen. Ebenso den kontinuierlichen Widerstand derjenigen, die darunter litten. Auch die Zeichnungen des Künstlers Hugo Martínez tragen hierzu bei und schaffen den atmosphärischen Rahmen, der zwischen Verzweiflung und hoffnungsvoller Aufbruchsstimmung pendelt. Hervorzuheben ist, dass die Graphic Novel die Relevanz der Vergangenheit für die Gegenwart eindringlich zu vermitteln weiß. Sie gehört nicht nur deshalb in jedes gut sortierte Bücherregal.Rebecca Hall/ Hugo Martínez:Rufe aus der Vergangenheit — Von Frauen geführte VersklavtenaufständeUnrast Verlag, Münster 2022208 Seiten, 18 Euro Rezension 7761 Fri, 26 Aug 2022 21:28:54 +0200 LOTTA Rufe aus der Vergangenheit Carl Kinsky Als die Graphic Novel 2021 in den USA erschien, wurde sie schnell zu einem Erfolg. Nun ist sie endlich auch auf Deutsch erschienen. Die Juristin und Historikerin Rebecca Hall nimmt Leser*innen mit auf ihre Reise bei der Erforschung der Geschichten widerständiger versklavter Schwarzer Frauen im Rahmen des transatlantischen Sklavenhandels. Hall betont die zentrale Rolle, die Frauen immer wieder bei Aufständen auf Schiffen während der Überfahrt übernahmen, und beleuchtet ihre Führungsrollen bei wenig bekannten Aufständen in den englischen Kolonien in Nordamerika im 18. Jahrhundert, aus denen die heutigen USA hervorgingen. Dabei gelingt es ihr geschickt, auch ihre eigene Familiengeschichte einzubauen und die Auswirkungen von Versklavung und gesellschaftlicher Diskriminierung aufzuzeigen, insbesondere wenn ersteres nur wenige Generationen zurückliegt. Angesichts neu entfachter politischer Debatten über Reparationen an die Nachkommen von Versklavten als Mittel des sozialen Ausgleichs ist das ein besonders relevanter Aspekt. Rechercheinteressierten wird gefallen, wie Hall die kleinteilige und lange Forschungsarbeit in Archiven darstellt, sowie die Hürden, die sie überwinden musste, um an Informationen zu kommen. Ein besonders zu betonender Aspekt ist, dass es Hall gelingt, die Verflechtungen des transatlantischen Sklavenhandels zwischen Nordamerika, Europa und Afrika anhand konkreter Geschichten auf allen drei Kontinenten und dem Atlantik greifbar zu machen. Ebenso den kontinuierlichen Widerstand derjenigen, die darunter litten. Auch die Zeichnungen des Künstlers Hugo Martínez tragen hierzu bei und schaffen den atmosphärischen Rahmen, der zwischen Verzweiflung und hoffnungsvoller Aufbruchsstimmung pendelt. Hervorzuheben ist, dass die Graphic Novel die Relevanz der Vergangenheit für die Gegenwart eindringlich zu vermitteln weiß. Sie gehört nicht nur deshalb in jedes gut sortierte Bücherregal.Rebecca Hall/ Hugo Martínez:Rufe aus der Vergangenheit — Von Frauen geführte VersklavtenaufständeUnrast Verlag, Münster 2022208 Seiten, 18 Euro 2022-08-26T21:28:54+02:00 Privatstädte | https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/87/privatst-dte Mit „Privatstädte. Labore für einen neuen Manchesterkapitalismus“ wendet sich Andreas Kemper einem spannenden Thema sowie einer meist nur wenig beachteten politischen Akteursgruppe zu. Marktradikale Rechte träumen seit einiger Zeit davon, privatrechtlich organisierte Städte zu gründen, die letztlich außerhalb des Einflussbereiches existierender Staaten und damit auch jenseits demokratischer Willensbildung liegen. Auf einer Insel in Honduras steht dieser Traum fast vor der Realisierung, weil hier eine willfährige Regierung bereit ist, in Sonderwirtschaftszonen staatliche Souveränität an die Privatstadt-Investor*innen zu überantworten. An dem Projekt beteiligt sind auch Deutsche wie Titus Gebel, eine Firma der TU München und der Architekt Patrik Schumacher, der bereits im Schwerpunkt von LOTTA #84 Thema war. Die Privatstadt-Projekte vorantreibenden Akteur*innen bezeichnen sich selbst oftmals als „Libertäre“, ein Begriff, den Kemper in diesem Zusammenhang zurückweist, denn nicht Herrschaftsfreiheit, sondern Eigentum steht im Mittelpunkt einer Ideologie, die besser als Proprietarismus (von „proprius“, lateinisch für Eigentum) bezeichnet wird.Das Buch ist Ergebnis von Kempers auf die Akteur*innen und ihre Netzwerke konzentrierten Recherchen. Ein stärker eingreifendes Lektorat hätte dem Buch gut getan, angefangen bei der Einrückung sämtlicher langen wörtlichen Zitate über die Einführung von Fußnoten für eher ergänzende Informationen bis hin zu einer besseren Strukturierung der Argumentation. Glücklicherweise hat der Autor ein Glossar der Personen und Organisationen ergänzt, das die Orientierung im Text etwas erleichtert. Fazit: spannendes Thema, nicht gut dargestellt.Andreas Kemper:Privatstädte. Labore für einen neuen ManchesterkapitalismusUnrast Verlag, Münster 2022184 Seiten, 14 Euro Rezension 7760 Fri, 26 Aug 2022 21:27:58 +0200 LOTTA Privatstädte Torben Heine Mit „Privatstädte. Labore für einen neuen Manchesterkapitalismus“ wendet sich Andreas Kemper einem spannenden Thema sowie einer meist nur wenig beachteten politischen Akteursgruppe zu. Marktradikale Rechte träumen seit einiger Zeit davon, privatrechtlich organisierte Städte zu gründen, die letztlich außerhalb des Einflussbereiches existierender Staaten und damit auch jenseits demokratischer Willensbildung liegen. Auf einer Insel in Honduras steht dieser Traum fast vor der Realisierung, weil hier eine willfährige Regierung bereit ist, in Sonderwirtschaftszonen staatliche Souveränität an die Privatstadt-Investor*innen zu überantworten. An dem Projekt beteiligt sind auch Deutsche wie Titus Gebel, eine Firma der TU München und der Architekt Patrik Schumacher, der bereits im Schwerpunkt von LOTTA #84 Thema war. Die Privatstadt-Projekte vorantreibenden Akteur*innen bezeichnen sich selbst oftmals als „Libertäre“, ein Begriff, den Kemper in diesem Zusammenhang zurückweist, denn nicht Herrschaftsfreiheit, sondern Eigentum steht im Mittelpunkt einer Ideologie, die besser als Proprietarismus (von „proprius“, lateinisch für Eigentum) bezeichnet wird.Das Buch ist Ergebnis von Kempers auf die Akteur*innen und ihre Netzwerke konzentrierten Recherchen. Ein stärker eingreifendes Lektorat hätte dem Buch gut getan, angefangen bei der Einrückung sämtlicher langen wörtlichen Zitate über die Einführung von Fußnoten für eher ergänzende Informationen bis hin zu einer besseren Strukturierung der Argumentation. Glücklicherweise hat der Autor ein Glossar der Personen und Organisationen ergänzt, das die Orientierung im Text etwas erleichtert. Fazit: spannendes Thema, nicht gut dargestellt.Andreas Kemper:Privatstädte. Labore für einen neuen ManchesterkapitalismusUnrast Verlag, Münster 2022184 Seiten, 14 Euro 2022-08-26T21:27:58+02:00 Antifa | https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/87/antifa Eines vorweg: Die Behauptung des Verlages, dass es sich um das erste Buch handele, das die Geschichte antifaschistischer Bewegungen in Deutschland beleuchtet, ist schlichtweg falsch. Hierzu sind schon einige Bücher verfasst worden. Ironischerweise werden sie sogar als Quellen zitiert. Aber seien wir gnädig und lassen eine solche Behauptung, die offenbar Werbezwecken dient, einmal durchgehen. Zum Inhalt: Der Historiker Richard Rohrmoser bietet eine knappe Übersicht zur Geschichte antifaschistischen Engagements in Deutschland. Der Fokus der Analyse wird auf „das Spannungsfeld zwischen zivilgesellschaftlichem Engagement und radikaler Gewaltbereitschaft“ gesetzt. In etwas mehr als der Hälfte des Buches geht es daher um Antifa-Gruppen als Teil der autonomen Bewegung. Insgesamt wird eine ordentliche — wenn auch oberflächliche — Zusammenfassung wichtiger historischer Ereignisse in dieser Zeit geliefert. Von der Straßenschlacht in Fallingbostel, über den Mord an Günter Sare und bundesweite Vernetzungsstrukturen hin zu einer schemenhaften Darstellung der Selbstidentifikation „antideutsch“ oder „antimperialistisch“. Auch die Gründung von Archiven und Zeitschriften zur längerfristigen Recherche und Aufklärung werden erwähnt, allerdings wird die LOTTA — trotz ihrer für (post-)autonome Verhältnisse langen Wirkungsgeschichte — einfach ausgelassen. Dabei hätte die Lektüre wichtiges Kontextwissen, etwa zum extrem rechten Bombenanschlag am Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn, für das Buch bieten können. Lobenswert ist, dass Rohrmoser in seiner Analyse ohne Rückgriff auf das Extremismusmodell auskommt und eine ausgewogene Darstellung bietet, die auch militante Politik in ihrem gesellschaftlichen Kontext erklärt. Rohrmoser postuliert, dass die Gewaltfrage das größte Hindernis für (post-)autonome Antifaschist*innen sei, um größere gesellschaftliche Relevanz zu entfalten. Das Buch eignet sich eher als Einstiegslektüre für linksliberale Bekannte, die wissen möchten, was eigentlich „die Antifa“ ist.Richard Rohrmoser: Antifa — Porträt einer linksradikalen BewegungC.H. Beck, München 2022208 Seiten, 16 Euro Rezension 7759 Fri, 26 Aug 2022 21:26:39 +0200 LOTTA Antifa Carl Kinsky Eines vorweg: Die Behauptung des Verlages, dass es sich um das erste Buch handele, das die Geschichte antifaschistischer Bewegungen in Deutschland beleuchtet, ist schlichtweg falsch. Hierzu sind schon einige Bücher verfasst worden. Ironischerweise werden sie sogar als Quellen zitiert. Aber seien wir gnädig und lassen eine solche Behauptung, die offenbar Werbezwecken dient, einmal durchgehen. Zum Inhalt: Der Historiker Richard Rohrmoser bietet eine knappe Übersicht zur Geschichte antifaschistischen Engagements in Deutschland. Der Fokus der Analyse wird auf „das Spannungsfeld zwischen zivilgesellschaftlichem Engagement und radikaler Gewaltbereitschaft“ gesetzt. In etwas mehr als der Hälfte des Buches geht es daher um Antifa-Gruppen als Teil der autonomen Bewegung. Insgesamt wird eine ordentliche — wenn auch oberflächliche — Zusammenfassung wichtiger historischer Ereignisse in dieser Zeit geliefert. Von der Straßenschlacht in Fallingbostel, über den Mord an Günter Sare und bundesweite Vernetzungsstrukturen hin zu einer schemenhaften Darstellung der Selbstidentifikation „antideutsch“ oder „antimperialistisch“. Auch die Gründung von Archiven und Zeitschriften zur längerfristigen Recherche und Aufklärung werden erwähnt, allerdings wird die LOTTA — trotz ihrer für (post-)autonome Verhältnisse langen Wirkungsgeschichte — einfach ausgelassen. Dabei hätte die Lektüre wichtiges Kontextwissen, etwa zum extrem rechten Bombenanschlag am Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn, für das Buch bieten können. Lobenswert ist, dass Rohrmoser in seiner Analyse ohne Rückgriff auf das Extremismusmodell auskommt und eine ausgewogene Darstellung bietet, die auch militante Politik in ihrem gesellschaftlichen Kontext erklärt. Rohrmoser postuliert, dass die Gewaltfrage das größte Hindernis für (post-)autonome Antifaschist*innen sei, um größere gesellschaftliche Relevanz zu entfalten. Das Buch eignet sich eher als Einstiegslektüre für linksliberale Bekannte, die wissen möchten, was eigentlich „die Antifa“ ist.Richard Rohrmoser: Antifa — Porträt einer linksradikalen BewegungC.H. Beck, München 2022208 Seiten, 16 Euro 2022-08-26T21:26:39+02:00 Die Neonazi-Szene im Wandel | Einleitung in den Schwerpunkt https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/87/die-neonazi-szene-im-wandel Wer in den 1990er und 2000er Jahren Vorträge über Neonazismus oder die extreme Rechte insgesamt besuchte, erinnert sich heute gewiss an die obligatorischen Folien, die dort präsentiert wurden. Sie zeigten Kreise in verschiedenen Größen, die sich teilweise überlappten. In den größeren Kreisen stand etwa „NPD“, „Freie Kameradschaften“ und „rechte Jugendkultur/RechtsRock“, die Überschneidungen der Kreise stellten die Schnittmengen zwischen den Gruppen und Spektren dar. Am Rande der Folien — und sinnbildlich am Rande des Spektrums — waren kleinere Kreise mit Inschriften wie „Neue Rechte“, „REP“, „DVU“ oder was auch immer aktuell oder regional eine Rolle spielte. Die extreme Rechte war natürlich stets vielschichtiger als es derartige Diagramme zeigen konnten, zudem in ständiger Bewegung und in den einzelnen Regionen unterschiedlich aufgestellt. Selbst der harte Kern neonazistischer Gruppen war nie ein homogenes Gebilde, sondern häufig in konkurrierende Lager gespalten. Doch im Groben ließ es sich durch derartige Folien erfassen.Wer im Jahr 2022 versuchen würde, die wichtigen Player der extremen Rechten in solchen Diagrammen abzubilden, der*die würde ein völliges Durcheinander zeichnen. Szenen und Gruppen sind facettenreicher und zersplitterter denn je. Es gibt auch keinen gemeinsamen Bewegungsanspruch. Strömungen, die in den vergangenen Jahren große Rollen spielten, wie PEGIDA oder aktuell die Pandemieleugner*innen, weisen sogar von sich, überhaupt rechts zu sein. Und einige in den letzten Jahren in Erscheinung getretene rechte Terrorgruppen entwickelten sich nicht aus der Neonazi-Szene heraus.Bei den Überlegungen zu diesem Schwerpunkt ging es uns besonders um Veränderungen in der Neonazi-Szene — mit Fokus auf NRW, Hessen und Rheinland-Pfalz. Die NPD ist nahezu bedeutungslos geworden und hängt, von den vielen „Freien Kameradschaften“ der 2000er Jahre ist fast nichts übriggeblieben, wobei sich einige in die überregional bedeutungslose Minipartei Die Rechte gerettet haben. Die Szene ist älter, sogar alt geworden. Wo also sind sie hin, die organisierten Neonazis, wie sieht es mit dem Nachwuchs aus und wo wird dieser rekrutiert? Und was bedeutet eigentlich heute „organisiert“? Solche und andere Fragen haben wir uns gestellt. Das Ergebnis sehen wir als erste Annäherung an das Thema an — und als Start für eine weitere Auseinandersetzung, in welcher Form auch immer. Welche Beobachtungen habt ihr in euren Regionen mit Blick auf die Neonazi-Szene gemacht, und wie bewertet ihr festgestellte Veränderungen? Über Rückmeldungen an die Redaktionsadresse würden wir uns freuen. Im seinen Übersichtsbeitrag stellt Simon Tolvaj Veränderungen in der Neonazi-Szene und auch der extremen Rechten insgesamt dar und wirft daraus resultierende Fragen auf. Felix M. Steiner wirft einen Blick auf den Zustand der ältesten noch existierenden neonazistischen Partei. Was hat es auf sich mit den Bestrebungen, die NPD neu aufzustellen? Was macht heute eigentlich einen organisierten Neonazi aus? Simon Tolvaj beschäftigt sich mit der Mär vom „Einzeltäter“. Auf rechten Konzerten und Aufmärschen sind immer weniger junge Menschen zu sehen. Wo findet heute deren Einbindung in die Neonazi-Szene statt? Darüber spricht Britta Kremers mit Robert Claus, Maik Fielitz und Jan Raabe. Was ist eigentlich heute „in“ und was „out“ in der Neonazi-Szene bzw. extremen Rechten? Das Ergebnis eines Brainstormings (nicht nur) in der LOTTA-Redaktion.     Schwerpunkt 7758 Fri, 26 Aug 2022 21:00:01 +0200 LOTTA Die Neonazi-Szene im Wandel Britta Kremers Wer in den 1990er und 2000er Jahren Vorträge über Neonazismus oder die extreme Rechte insgesamt besuchte, erinnert sich heute gewiss an die obligatorischen Folien, die dort präsentiert wurden. Sie zeigten Kreise in verschiedenen Größen, die sich teilweise überlappten. In den größeren Kreisen stand etwa „NPD“, „Freie Kameradschaften“ und „rechte Jugendkultur/RechtsRock“, die Überschneidungen der Kreise stellten die Schnittmengen zwischen den Gruppen und Spektren dar. Am Rande der Folien — und sinnbildlich am Rande des Spektrums — waren kleinere Kreise mit Inschriften wie „Neue Rechte“, „REP“, „DVU“ oder was auch immer aktuell oder regional eine Rolle spielte. Die extreme Rechte war natürlich stets vielschichtiger als es derartige Diagramme zeigen konnten, zudem in ständiger Bewegung und in den einzelnen Regionen unterschiedlich aufgestellt. Selbst der harte Kern neonazistischer Gruppen war nie ein homogenes Gebilde, sondern häufig in konkurrierende Lager gespalten. Doch im Groben ließ es sich durch derartige Folien erfassen.Wer im Jahr 2022 versuchen würde, die wichtigen Player der extremen Rechten in solchen Diagrammen abzubilden, der*die würde ein völliges Durcheinander zeichnen. Szenen und Gruppen sind facettenreicher und zersplitterter denn je. Es gibt auch keinen gemeinsamen Bewegungsanspruch. Strömungen, die in den vergangenen Jahren große Rollen spielten, wie PEGIDA oder aktuell die Pandemieleugner*innen, weisen sogar von sich, überhaupt rechts zu sein. Und einige in den letzten Jahren in Erscheinung getretene rechte Terrorgruppen entwickelten sich nicht aus der Neonazi-Szene heraus.Bei den Überlegungen zu diesem Schwerpunkt ging es uns besonders um Veränderungen in der Neonazi-Szene — mit Fokus auf NRW, Hessen und Rheinland-Pfalz. Die NPD ist nahezu bedeutungslos geworden und hängt, von den vielen „Freien Kameradschaften“ der 2000er Jahre ist fast nichts übriggeblieben, wobei sich einige in die überregional bedeutungslose Minipartei Die Rechte gerettet haben. Die Szene ist älter, sogar alt geworden. Wo also sind sie hin, die organisierten Neonazis, wie sieht es mit dem Nachwuchs aus und wo wird dieser rekrutiert? Und was bedeutet eigentlich heute „organisiert“? Solche und andere Fragen haben wir uns gestellt. Das Ergebnis sehen wir als erste Annäherung an das Thema an — und als Start für eine weitere Auseinandersetzung, in welcher Form auch immer. Welche Beobachtungen habt ihr in euren Regionen mit Blick auf die Neonazi-Szene gemacht, und wie bewertet ihr festgestellte Veränderungen? Über Rückmeldungen an die Redaktionsadresse würden wir uns freuen. Im seinen Übersichtsbeitrag stellt Simon Tolvaj Veränderungen in der Neonazi-Szene und auch der extremen Rechten insgesamt dar und wirft daraus resultierende Fragen auf. Felix M. Steiner wirft einen Blick auf den Zustand der ältesten noch existierenden neonazistischen Partei. Was hat es auf sich mit den Bestrebungen, die NPD neu aufzustellen? Was macht heute eigentlich einen organisierten Neonazi aus? Simon Tolvaj beschäftigt sich mit der Mär vom „Einzeltäter“. Auf rechten Konzerten und Aufmärschen sind immer weniger junge Menschen zu sehen. Wo findet heute deren Einbindung in die Neonazi-Szene statt? Darüber spricht Britta Kremers mit Robert Claus, Maik Fielitz und Jan Raabe. Was ist eigentlich heute „in“ und was „out“ in der Neonazi-Szene bzw. extremen Rechten? Das Ergebnis eines Brainstormings (nicht nur) in der LOTTA-Redaktion.     2022-08-26T21:00:01+02:00 „Ich werde weiterkämpfen — für die Wahrheit und die Gerechtigkeit“ | Aynur Satır und die Erinnerung an den rassistischen Brandanschlag in Duisburg 1984 https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/87/ich-werde-weiterk-mpfen-f-r-die-wahrheit-und-die-gerechtigkeit Aynur Satır und ihre Schwester, Rukiye Satır, überlebten schwerverletzt den rassistischen Brandanschlag auf ihr damaliges Wohnhaus am 26. August 1984 in Duisburg. In jener Nacht verloren sie sieben Angehörige. Seit 2019 kämpfen sie und ihre Familie mit Unterstützung der „Initiative Duisburg 26. August 1984“ um Anerkennung des Anschlages als rechten, rassistischen Anschlag und für eine würdige Erinnerung an die Opfer.Aynur Satır ist fest entschlossen, mit ihrer Stimme als Opfer und Überlebende gehört zu werden. Am 28. April 2022 nimmt sie ihren ganzen Mut zusammen und spricht bei der Online-Veranstaltung „Kontinuitäten des Rassismus — Betroffene berichten“ des Bündnis Tag der Solidarität — Kein Schlussstrich Dortmund, über ihre Erfahrungen nach dem rassistischen Brandanschlag am 26. August 1984 in Duisburg.Sieben Menschen verlieren ihr LebenAm 26. August 1984 wird aus rassistischen Motiven ein Haus in Duisburg-Wanheimerort in Brand gesetzt. Sieben Menschen sterben. Döndü Satır (40 Jahre), Zeliha Turhan (18 Jahre), Rasim Turhan (18 Jahre), Songül Satır (4 Jahre), Ümit Satır (5 Jahre), Çiğdem Satır (7 Jahre) und Tarık Turhan (50 Tage) verlieren bei dem Brand ihr Leben. Aynur Satır und ihre Schwester Rukiye Satır können sich nur durch einen Sprung aus dem zweiten Obergeschoss schwer verletzt retten. Ihr Vater Ramazan Satır ist zum Zeitpunkt des Brandes außer Haus und kann nur hilflos zusehen, wie es abbrennt.Die Polizei spricht am ersten Tag von einem Kabelbrand, wartet den Bericht eines Sachverständigen gar nicht ab. Dem Hinweis auf Schmierereien — ein Hakenkreuz an der Eingangstür des Wohnhauses in der Wanheimer Straße 301 — wird nicht nachgegangen. Auch der Bericht des Sachverständigen, der keinen Zweifel am Tatbestand der Brandstiftung lässt, wird seitens der Politik und Behörden ignoriert. Eine politische Tat wird nicht in Erwägung gezogen. Ein*e Täter*in kann nicht ermittelt werden. Bei diesem Anschlag, der sieben Menschen das Leben kostete, wird nicht mal von Rassismus gesprochen — ein typisches, systematisches und entpolitisierendes Vorgehen in den 1980er Jahren in Deutschland. Nach ein paar Wochen wird nur noch von einem Großbrand gesprochen. Der Anschlag und die Opfer werden vergessen.Aynur lag drei Monate im Krankenhaus. Erst nach ihrer Entlassung erfuhr sie das Ausmaß des Anschlages und dass sie ihre Mutter, ihre zwei Schwestern, ihren Bruder, ihren Neffen und Schwager verloren hat. Aynur Satır erinnert sich, dass nur ihr Vater sie im Krankenhaus besuchte, ihr aber nichts erzählte. Sie und ihre Familienangehörigen waren traumatisiert, allein gelassen. Auch untereinander sprachen sie kaum über ihren Verlust und ihren Schmerz.35 Jahre Vergessen35 Jahre leben die Familien Satır und Turhan mit ihrem Schmerz und mit ihrer Trauer allein. Sie werden nicht ernst genommen, bekommen keine Hilfe und werden mit ihren Traumata sich selbst überlassen. 1993 wird eine Duisburgerin in Zusammenhang mit einem Brand in einem Geflüchtetenwohnheim festgenommen. Sie gesteht den Brandanschlag im Jahre 1984 in der Wanheimer Straße 301. Zwar wird der Fall erneut aufgerollt, bleibt aber für die Familien folgenlos. Wieder wird nicht von Rassismus gesprochen.Aynur Satırs Kindheit endete im Alter von 13 Jahren. Sie versuchte zweimal, in die Türkei auszuwandern, kehrte jedoch zurück in die Stadt, in der sie aufgewachsen war, aber auch großen Schmerz erfuhr. Nur durch einen Zufall stößt die Sozialwissenschaftlerin Ceren Türkmen 34 Jahre später im Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD) auf den Brandanschlag. Danach gründet sich die Initiative Duisburg 1984, die den Fall gründlich recherchierte.Aktivist*innen wandten sich nach langer Suche an die Betroffenen, hörten ihnen zu und holten die Namen der Opfer des Anschlags aus der Vergessenheit. Das erste offizielle Gedenken fand am 31. August 2019 in Duisburg-Ruhrort mit Unterstützung anderer Betroffener rassistischer Gewalt sowie antirassistischer Initiativen statt.Solidarische Vernetzung unter den BetroffenenDass Aynur Satır von ihren Erfahrungen berichtet, ist für sie keine Selbstverständlichkeit. Dass sie öffentlich spricht, liegt vor allem an der Unterstützung der Initiative Duisburg 1984, aber auch an Ibrahim Arslan, Überlebender des Anschlages in Mölln am 23. November 1992, und Gamze Kubaşık, Tochter von Mehmet Kubaşık, der am 4. April 2006 vom NSU ermordet wurde. Sie kennen und teilen ihren Schmerz. Mit Ibrahim Arslan hat sie viele Telefongespräche geführt, von Gamze Kubaşık wird sie ermutigt, weiter für sich und ihre Familie zu sprechen. Sie alle teilen die Erfahrungen, dass ihre Perspektiven nicht ernst genommen wurden. Eine wirklich konsequente Aufklärung seitens der Sicherheitsbehörden bleibt aus. Der Rassismus in der hiesigen Gesellschaft wird nicht immer ernst genommen und Konsequenzen lassen auf sich warten. Die Forderungen der Betroffenen bleiben zumeist ungehört.Bei der Online-Veranstaltung betonen Aynur Satır, Gamze Kubaşık und Ibrahim Arslan, dass Erinnerungsarbeit vor Ort immer mit den Betroffenen stattfinden müsse. Ihre Perspektiven müssen im Mittelpunkt stehen, ihnen sollte zugehört werden. Auch die Bedeutung einer Vernetzung der Betroffenen untereinander sowie der Unterstützer:innen-Initiativen in NRW und ganz Deutschland wird von ihnen betont.In den letzten Monaten lernt Aynur Satır weitere Betroffene und Angehörige rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt kennen, unter anderem tauscht sie sich mit Talya Feldman, Überlebende des antisemitischen Anschlages von Halle am 9. Oktober 2019, und Malek Ahmad, dem Vater von Amed Ahmad, der am 29. September 2018 nach einem Brand in seiner Zelle in der JVA Kleve, in der er gar nicht hätte sitzen dürfen, starb (siehe LOTTA #73, #77 und #78 ) über ihre Erfahrungen und ihren Kampf um Erinnerung, Gerechtigkeit und Aufklärung aus. Aus dieser Vernetzung sowie der gegenseitigen Solidarität ziehen die Betroffenen Kraft und Stärke.Kampf um AnerkennungAynur Satır kämpft um die Erinnerung an ihre Liebsten, die sie verlor. Ihr Wunsch ist ein würdiges Gedenken der Opfer mit der Stadt Duisburg. Ihre Namen sollen nicht in Vergessenheit geraten. Sie kämpft um Anerkennung. Am ehemaligen Wohnhaus soll eine Gedenktafel angebracht werden und sie wünscht sich ein Mahnmal in der Innenstadt. Vor allem muss der Anschlag als ein rechter, rassistischer Anschlag gewertet werden. Die Familien sind im Gespräch mit der Stadt Duisburg.Sie weiß, dass sie nicht alleine ist, und gibt in einer Audiobotschaft an die Familie Kubaşık anlässlich des Todestages von Mehmet Kubaşık ebenfalls Stärke und Kraft zurück: „Liebe Familie Kubaşık. Meine Gedanken und mein Herz sind bei Euch. Ich wünsche Euch viel Kraft und Solidarität. Euer Schmerz ist mein Schmerz. Fühlt Euch nicht allein.“—Ali Şirin ist aktiv im Bündnis Tag der Solidarität — Kein Schlussstrich in Dortmund. In LOTTA #81 erschien ein Interview von ihm mit Gamze Kubaşık. Homepage: www.inidu84.de (Anti)Rassismus 7757 Thu, 25 Aug 2022 18:03:04 +0200 LOTTA „Ich werde weiterkämpfen — für die Wahrheit und die Gerechtigkeit“ Ali Şirin Aynur Satır und ihre Schwester, Rukiye Satır, überlebten schwerverletzt den rassistischen Brandanschlag auf ihr damaliges Wohnhaus am 26. August 1984 in Duisburg. In jener Nacht verloren sie sieben Angehörige. Seit 2019 kämpfen sie und ihre Familie mit Unterstützung der „Initiative Duisburg 26. August 1984“ um Anerkennung des Anschlages als rechten, rassistischen Anschlag und für eine würdige Erinnerung an die Opfer.Aynur Satır ist fest entschlossen, mit ihrer Stimme als Opfer und Überlebende gehört zu werden. Am 28. April 2022 nimmt sie ihren ganzen Mut zusammen und spricht bei der Online-Veranstaltung „Kontinuitäten des Rassismus — Betroffene berichten“ des Bündnis Tag der Solidarität — Kein Schlussstrich Dortmund, über ihre Erfahrungen nach dem rassistischen Brandanschlag am 26. August 1984 in Duisburg.Sieben Menschen verlieren ihr LebenAm 26. August 1984 wird aus rassistischen Motiven ein Haus in Duisburg-Wanheimerort in Brand gesetzt. Sieben Menschen sterben. Döndü Satır (40 Jahre), Zeliha Turhan (18 Jahre), Rasim Turhan (18 Jahre), Songül Satır (4 Jahre), Ümit Satır (5 Jahre), Çiğdem Satır (7 Jahre) und Tarık Turhan (50 Tage) verlieren bei dem Brand ihr Leben. Aynur Satır und ihre Schwester Rukiye Satır können sich nur durch einen Sprung aus dem zweiten Obergeschoss schwer verletzt retten. Ihr Vater Ramazan Satır ist zum Zeitpunkt des Brandes außer Haus und kann nur hilflos zusehen, wie es abbrennt.Die Polizei spricht am ersten Tag von einem Kabelbrand, wartet den Bericht eines Sachverständigen gar nicht ab. Dem Hinweis auf Schmierereien — ein Hakenkreuz an der Eingangstür des Wohnhauses in der Wanheimer Straße 301 — wird nicht nachgegangen. Auch der Bericht des Sachverständigen, der keinen Zweifel am Tatbestand der Brandstiftung lässt, wird seitens der Politik und Behörden ignoriert. Eine politische Tat wird nicht in Erwägung gezogen. Ein*e Täter*in kann nicht ermittelt werden. Bei diesem Anschlag, der sieben Menschen das Leben kostete, wird nicht mal von Rassismus gesprochen — ein typisches, systematisches und entpolitisierendes Vorgehen in den 1980er Jahren in Deutschland. Nach ein paar Wochen wird nur noch von einem Großbrand gesprochen. Der Anschlag und die Opfer werden vergessen.Aynur lag drei Monate im Krankenhaus. Erst nach ihrer Entlassung erfuhr sie das Ausmaß des Anschlages und dass sie ihre Mutter, ihre zwei Schwestern, ihren Bruder, ihren Neffen und Schwager verloren hat. Aynur Satır erinnert sich, dass nur ihr Vater sie im Krankenhaus besuchte, ihr aber nichts erzählte. Sie und ihre Familienangehörigen waren traumatisiert, allein gelassen. Auch untereinander sprachen sie kaum über ihren Verlust und ihren Schmerz.35 Jahre Vergessen35 Jahre leben die Familien Satır und Turhan mit ihrem Schmerz und mit ihrer Trauer allein. Sie werden nicht ernst genommen, bekommen keine Hilfe und werden mit ihren Traumata sich selbst überlassen. 1993 wird eine Duisburgerin in Zusammenhang mit einem Brand in einem Geflüchtetenwohnheim festgenommen. Sie gesteht den Brandanschlag im Jahre 1984 in der Wanheimer Straße 301. Zwar wird der Fall erneut aufgerollt, bleibt aber für die Familien folgenlos. Wieder wird nicht von Rassismus gesprochen.Aynur Satırs Kindheit endete im Alter von 13 Jahren. Sie versuchte zweimal, in die Türkei auszuwandern, kehrte jedoch zurück in die Stadt, in der sie aufgewachsen war, aber auch großen Schmerz erfuhr. Nur durch einen Zufall stößt die Sozialwissenschaftlerin Ceren Türkmen 34 Jahre später im Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD) auf den Brandanschlag. Danach gründet sich die Initiative Duisburg 1984, die den Fall gründlich recherchierte.Aktivist*innen wandten sich nach langer Suche an die Betroffenen, hörten ihnen zu und holten die Namen der Opfer des Anschlags aus der Vergessenheit. Das erste offizielle Gedenken fand am 31. August 2019 in Duisburg-Ruhrort mit Unterstützung anderer Betroffener rassistischer Gewalt sowie antirassistischer Initiativen statt.Solidarische Vernetzung unter den BetroffenenDass Aynur Satır von ihren Erfahrungen berichtet, ist für sie keine Selbstverständlichkeit. Dass sie öffentlich spricht, liegt vor allem an der Unterstützung der Initiative Duisburg 1984, aber auch an Ibrahim Arslan, Überlebender des Anschlages in Mölln am 23. November 1992, und Gamze Kubaşık, Tochter von Mehmet Kubaşık, der am 4. April 2006 vom NSU ermordet wurde. Sie kennen und teilen ihren Schmerz. Mit Ibrahim Arslan hat sie viele Telefongespräche geführt, von Gamze Kubaşık wird sie ermutigt, weiter für sich und ihre Familie zu sprechen. Sie alle teilen die Erfahrungen, dass ihre Perspektiven nicht ernst genommen wurden. Eine wirklich konsequente Aufklärung seitens der Sicherheitsbehörden bleibt aus. Der Rassismus in der hiesigen Gesellschaft wird nicht immer ernst genommen und Konsequenzen lassen auf sich warten. Die Forderungen der Betroffenen bleiben zumeist ungehört.Bei der Online-Veranstaltung betonen Aynur Satır, Gamze Kubaşık und Ibrahim Arslan, dass Erinnerungsarbeit vor Ort immer mit den Betroffenen stattfinden müsse. Ihre Perspektiven müssen im Mittelpunkt stehen, ihnen sollte zugehört werden. Auch die Bedeutung einer Vernetzung der Betroffenen untereinander sowie der Unterstützer:innen-Initiativen in NRW und ganz Deutschland wird von ihnen betont.In den letzten Monaten lernt Aynur Satır weitere Betroffene und Angehörige rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt kennen, unter anderem tauscht sie sich mit Talya Feldman, Überlebende des antisemitischen Anschlages von Halle am 9. Oktober 2019, und Malek Ahmad, dem Vater von Amed Ahmad, der am 29. September 2018 nach einem Brand in seiner Zelle in der JVA Kleve, in der er gar nicht hätte sitzen dürfen, starb (siehe LOTTA #73, #77 und #78 ) über ihre Erfahrungen und ihren Kampf um Erinnerung, Gerechtigkeit und Aufklärung aus. Aus dieser Vernetzung sowie der gegenseitigen Solidarität ziehen die Betroffenen Kraft und Stärke.Kampf um AnerkennungAynur Satır kämpft um die Erinnerung an ihre Liebsten, die sie verlor. Ihr Wunsch ist ein würdiges Gedenken der Opfer mit der Stadt Duisburg. Ihre Namen sollen nicht in Vergessenheit geraten. Sie kämpft um Anerkennung. Am ehemaligen Wohnhaus soll eine Gedenktafel angebracht werden und sie wünscht sich ein Mahnmal in der Innenstadt. Vor allem muss der Anschlag als ein rechter, rassistischer Anschlag gewertet werden. Die Familien sind im Gespräch mit der Stadt Duisburg.Sie weiß, dass sie nicht alleine ist, und gibt in einer Audiobotschaft an die Familie Kubaşık anlässlich des Todestages von Mehmet Kubaşık ebenfalls Stärke und Kraft zurück: „Liebe Familie Kubaşık. Meine Gedanken und mein Herz sind bei Euch. Ich wünsche Euch viel Kraft und Solidarität. Euer Schmerz ist mein Schmerz. Fühlt Euch nicht allein.“—Ali Şirin ist aktiv im Bündnis Tag der Solidarität — Kein Schlussstrich in Dortmund. In LOTTA #81 erschien ein Interview von ihm mit Gamze Kubaşık. Homepage: www.inidu84.de 2022-08-25T18:03:04+02:00 „Wir sind gerettet, aber nicht befreit“ | Jüdische Selbstbehauptung und Proteste gegen Antisemitismus in der frühen BRD https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/87/wir-sind-gerettet-aber-nicht-befreit In der frühen Bundesrepublik waren Jüdinnen*Juden vielfach mit antisemitischer Ausgrenzung, Marginalisierung und Kriminalisierung konfrontiert. Ihr Widerstand gegen diese Zumutungen der postnationalsozialistischen Gesellschaft, das Anprangern des fortwährenden Antisemitismus und die zähen, institutionellen, nicht selten aber auch aktivistischen Kämpfe um Anerkennung und Selbstbehauptung, sind heute, zumindest in der Dominanzgesellschaft, weitgehend in Vergessenheit geraten.Auf dem Vorplatz des Neuen Israelitischen Friedhofs in München spielten sich am Nachmittag des 18. August 1952 tumultartige Szenen ab. Tausende Menschen, vorwiegend Jüdinnen*Juden, die meisten von ihnen Überlebende der Shoah, hatten sich versammelt, um von Philipp Auerbach Abschied zu nehmen. Der vormalige Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte in Bayern hatte sich am 16. August das Leben genommen, nachdem er vom Münchner Landgericht in einem von antisemitischen Ressentiments aufgeladenen Verfahren wegen vermeintlicher Bestechung, Untreue, Amtsunterschlagung und dem fälschlichen Führen eines akademischen Doktortitels zu einer Haftstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt worden war.Die Trauerveranstaltung entwickelte sich zu einer sichtbaren und lautstarken Demonstration gegen den – NS-belasteten – Richter Josef Mulzer sowie den bis wenige Wochen zuvor amtierenden Bayerischen Justizminister Josef Müller (CSU), die viele der Teilnehmenden für den Tod Auerbachs verantwortlich machten. Als Polizisten einige der mitgeführten Transparente beschlagnahmen wollten, kam es zu einem Handgemenge. Die Polizei setzte Schlagstöcke und einen Wasserwerfer gegen die Menschenmenge ein und stürmte den jüdischen Friedhof, der wie es später mit großer Zufriedenheit in einem Einsatzbericht hieß, erfolgreich „gesäubert“ wurde.Die „Affäre Auerbach“, die auch international große Aufmerksamkeit erfuhr, kann als ein schillerndes, wenngleich keineswegs singuläres Beispiel für den gesellschaftlich und institutionell verbreiteten Antisemitismus in der frühen Bundesrepublik gelten.„Keine Almosen“Jüdinnen*Juden, wie etwa der Frankfurter Rabbiner Leopold Neuhaus verwahrten sich dagegen, lediglich als Empfänger*innen von „Almosen“ zu firmieren. Sie forderten systematische Restitutionen, umfassende Entschädigungsleistungen und eine konsequente Entnazifizierung. Norbert Wollheim, der im IG Farben-Lager Auschwitz-Monowitz hatte Zwangsarbeit leisten müssen und seit September 1945 als zweiter Vorsitzender des Zentralkomitees der befreiten Juden in der britischen Zone amtierte, notierte in einem Brief im August 1945: „Wir sind gerettet, aber nicht befreit“, und verlieh damit den Wahrnehmungen zahlreicher Überlebender Ausdruck.Die Gesellschaft der Überlebenden der Shoah war indessen keineswegs homogen. Die Menschen, die dem präzedenzlosen Verbrechen entkommen waren, vielfach an körperlichen und psychischen Folgen litten und oftmals ihre Angehörigen verloren hatten, unterschieden sich im Hinblick auf ihre geografische und soziale Herkunft, ihre politischen und religiösen Orientierungen und entwickelten unterschiedliche Perspektiven für die Zukunft. Zunächst waren da die rund 15.000 als Jüdinnen*Juden verfolgte Deutsche, die die Shoah in Verstecken oder in so genannten ‚Mischehen‘ mit nichtjüdischen Partner*innen überlebt hatten. Weitere 9.000 jüdische Deutsche kehrten aus den außerhalb des vormaligen Reichsgebietes gelegenen befreiten Konzentrationslagern zurück. In den folgenden Jahren remigrierten zudem 6.000 Jüdinnen*Juden, die rechtzeitig vor der Verfolgung hatten fliehen können, in die entstehende Bundesrepublik.Trotz aller religiöser und weltanschaulicher Differenzen, dominierte in dieser Gruppe das Bestreben, in Deutschland wieder ein jüdisches Gemeindeleben zu etablieren. Eine zentrale Forderung, die etwa auch von Philipp Auerbach erhoben wurde, bezog sich daher auf die Rückgabe bzw. die Kompensation des in der NS-Zeit geraubten Gemeindeeigentums an die neu entstehenden Gemeinden.Das Entstehen einer „vitalen jüdischen Kultur“Eine weitere, ungleich größere Gruppe bildeten die bis zu 70.000 als Jüdinnen*Juden Verfolgten aus den vom NS okkupierten Ländern besonders Osteuropas, die aus den Konzentrations- und Zwangsarbeiter*innenlagern auf dem Gebiet des vormaligen Deutschen Reichs befreit worden waren. Als so genannte ‚Displaced Persons‘ (DP) waren sie gezwungen, in Lagern, die vormals teilweise zum Lagersystem des NS zählten, zu leben. Zunächst gemeinsam mit nichtjüdischen DPs, später in eigenständigen Einrichtungen, die Schutz vor antisemitischen Anfeindungen bieten sollten. Die Perspektiven des überwiegenden Teils dieser Gruppe, die bis 1947 um weitere 100.000 Menschen aus osteuropäischen Staaten wuchs, die vor den sich dort etablierenden stalinistischen Regimen und zunehmenden antisemitischen Übergriffen flohen, richteten sich auf die Auswanderung vor allem nach Nordamerika und nach Palästina bzw. seit 1948 nach Israel, was den meisten im Laufe der Jahre auch gelang.Die größten DP-Camps entstanden in der amerikanischen Besatzungszone, vor allem in Hessen und Bayern. Diese weitgehend von ihren Bewohner*innen und jüdischen Organisationen selbstverwalteten Einrichtungen entwickelten sich, wie der Historiker Markus Nesselrodt schreibt, zu „Orten der kulturellen, religiösen und politischen Selbstvergewisserung“, die auch dem „Wunsch nach einer neuen national-jüdischen Gemeinschaft“ entsprachen. Am deutlichsten zeigte sich der Selbstbehauptungswille der Überlebenden in den Geburtenraten in den DP-Camps, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu den höchsten weltweit zählten.Kontiunitäten des AntisemitismusRund um die im Münchner Stadtteil Bogenhausen gelegene Möhlstraße, in der zahlreiche jüdische Hilfsorganisationen ihren Sitz hatten, etablierte sich eine durch DPs geprägte „vitale jüdische Kultur“ (Michael Brenner), die Geschäfte und Restaurants ebenso umfasste, wie informelle ökonomische Netzwerke, die in den Fokus der amerikanischen, vor allem aber der deutschen Behörden gerieten. In diesem Kontext zeigten sich die Kontinuität gesellschaftlich und institutionell breit verankerten antisemitischen Ressentiments, in dem die DP-Camps als Zentren vermeintlich um sich greifender Kriminalität wahrgenommen wurden. Der Frankfurter Oberbürgermeister Walter Kolb (SPD) erklärte im Oktober 1946, das DP-Camp Zeilsheim habe sich zu einer „Landplage“ entwickelt. Sein Polizeipräsident forderte, „schnellstens Abhilfe“ zu schaffen.In der Tat ging die Polizei massiv gegen jüdische DPs vor und versuchte mit groß angelegten Razzien die informellen Ökonomien zu zerschlagen. Gegen diese Maßnahmen setzen sich die Betroffenen immer wieder zur Wehr. Rund um die Möhlstraße kam es wiederholt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und DPs. Als Polizeikräfte und Zoll im Mai 1952 das DP-Camp in Föhrenwald durchsuchen wollten, stießen sie auf entschlossenen, sich auch in Steinwürfen manifestierenden Widerstand zahlreicher Bewohner*innen, die sich an Razzien in den nationalsozialistischen Ghettos erinnert fühlten. Beim Versuch im März 1946 das DP-Camp in Stuttgart zu durchsuchen, wurde der Auschwitz-Überlebende Samuel Danziger durch polizeilichen Schusswaffeneinsatz getötet.Auch in München schreckte die Polizei nicht davor zurück, auf jüdische DPs zu schießen. Ein spektakulärer Vorfall ereignete sich im August 1949. Den Auslöser lieferte ein antisemitischer Leserbrief der unter dem Pseudonym „Adolf Bleibtreu“ in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht worden war. Am folgenden Tag versammelten sich rund 1.000 Menschen vor der in der Nähe der Möhlstraße gelegenen Synagoge, um zur Redaktion der SZ zu ziehen, bei der zum damaligen Zeitpunkt noch einige vormalige Apologeten des NS beschäftigt waren. Als die Münchner Polizei den Protestzug stoppen wollte, entwickelte sich eine Straßenschlacht, in deren Verlauf Demonstrant*innen ein Einsatzfahrzeug mit einem Hakenkreuz bemalten und in Brand steckten. Die Beamten gingen mit Pferden und Schlagstöcken gegen die zunächst friedliche Menge vor. Drei Demonstrant*innen wurden durch Polizeikugeln verletzt.Protest gegen institutionelle NS-KontinuitätenAuch an anderen Orten demonstrierten Jüdinnen*Juden gegen Antisemitismus und für die konsequente Ahndung von NS-Verbrechen. Im Januar 1951 versammelten sich in Landsberg rund 4.000 Bürger*innen, um gegen die von der amerikanischen Militärverwaltung angekündigte Hinrichtung von dort im alliierten Kriegsverbrechergefängnis einsitzenden hochgradig belasteten NS-Tätern zu protestieren. Als rund 300 DPs aus dem nahe gelegenen Camp mit Zwischenrufen die Kundgebung zu stören versuchten und auf die beispiellosen Verbrechen der einsitzenden NS-Täter aufmerksam machten, schlug ihnen unverhohlener Hass entgegen. Auf der Kundgebung sprach u.a. der vormalige SA-Angehörige und spätere Bundesjustizminister Richard Jaeger (CSU), eigentlich ein Verfechter der Todesstrafe nur eben nicht in diesem Fall. Aus der Menge kam es zu „Juden raus“-Rufen. Die Polizei schritt ein – allerdings gegen die demonstrierenden Jüdinnen*Juden, von denen einige in Gewahrsam genommen wurden. Eine am selben Tag von DPs initiierte Gedenkkundgebung für die Opfer des NS-Terrors blieb ohne Resonanz in der Landsberger Bevölkerung.Der Protest gegen Antisemitismus und die gesellschaftlichen und institutionellen NS-Kontinuitäten sowie die Forderungen nach einer systematischen Entnazifizierung und konsequenten Bestrafung der Täter*innen auf der einen und einem wahrnehmbaren öffentlichen Gedenken an die Opfer der Shoa auf der anderen Seite, verband bei allen tiefgreifenden Konflikten und unterschiedlichen Perspektiven die heterogene Gemeinschaft der Überlebenden und ihre Akteur*innen miteinander.Norbert Wollheim, der als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinden Nordwestdeutschlands und als Direktoriumsmitglied des 1950 gegründeten Zentralrats der Juden in Deutschland auf institutionellem Wege dazu beigetragen hatte, jüdisches Leben wieder in der Bundesrepublik zu etablieren, war 1951 in die USA emigriert. Von dort aus forcierte er eine Klage gegen die IG Farben AG in Liquidation, um für die von ihm in Auschwitz geleistete Zwangsarbeit Entschädigungsleistungen und Arbeitslohn zu erstreiten. Das Landgericht Frankfurt sprach Wollheim 1953 schließlich ein Schmerzensgeld von 10.000 DM zu – ein Musterurteil, dem 1958 ein weiterer Vergleich folgte, der Entschädigungszahlungen für mehrere tausend vormalige Zwangsarbeiter*innen der IG Farben vorsah.„Symbolfigur der Wiedergutmachung“Auch Philipp Auerbach versuchte auf institutionellem Wege für die Rechte ehemals verfolgter Jüdinnen*Juden, aber auch anderer Opfergruppen des NS, vor allem Sinti*zze und Rom*nja, zu kämpfen – dies allerdings auf häufig unkonventionelle Weise und nicht selten am Rande des ihm vorgegebenen legalen Rahmens. Nachdem er im April 1945 die Befreiung im KZ Buchenwald erlebt hatte, war er seit Herbst 1945 für das Oberpräsidium Nordrhein in Düsseldorf für die Betreuung ehemaliger NS-Verfolgter und Geflüchteter zuständig. Gleichzeitig recherchierte Auerbach, der zu den Gründungsmitgliedern der VVN gehörte und zudem den ersten Landesverband der jüdischen Gemeinden in Nordrhein und Westfalen ins Leben gerufen hatte, die Vergangenheit mutmaßlicher vormaliger NS-Täter und Funktionseliten. In Folge seiner Nachforschungen zur Rolle des Oberpräsidenten Robert Lehr (CDU) während des NS, wurde er jedoch von der britischen Militärverwaltung suspendiert.Nur einige Monate später, im Herbst 1946 avancierte er in Bayern unter Ministerpräsident Wilhelm Hoegner (SPD) zum Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte. Im Laufe der folgenden Jahre gelang es ihm, diesen Posten zu einer Art Superbehörde auszubauen, die Zuständigkeiten im Bereich der Auszahlung von Versorgungsleistungen für Verfolgte des NS-Regimes ebenso beanspruchte wie bei der Zuteilung von Wohnungen und der Vermittlung von Arbeitsstellen. Zudem drängte Auerbach auf eine konsequente Entnazifizierung, forderte umfangreiche Maßnahmen zur Bekämpfung des Antisemitismus und forcierte die Einrichtung von Gedenkorten für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung.In oftmals harschem Tonfall kritisierte er das Auftreten der Polizei gegenüber jüdischen DPs, das von den Betroffenen vielfach als antisemitisch benannt wurde und forderte umgehende Konsequenzen. Auerbachs Interventionen erfolgten häufig aufgrund von Beschwerden lokaler jüdischer Komitees, derer er sich annahm. Energisch trat er für die Restitution von in der NS-Zeit geraubtem jüdischen Eigentum ein. In Augsburg wurde er im Juli 1947 auf einen katholischen Priester aufmerksam, der sich offenkundig im November 1938 die wertvolle Orgel der dortigen Israelitischen Kultusgemeinde angeeignet hatte. Er verlangte nicht nur erfolgreich die Rückgabe der Orgel, sondern forderte zudem die Eröffnung eines Spruchkammerverfahrens gegen den Pfarrer wegen katholischer „Nutznießung des Nationalsozialismus“.Mit seinem Auftreten zog Auerbach indessen die entschiedene Feindschaft nicht nur der nichtjüdischen bayerischen Bevölkerungsmehrheit auf sich, sondern auch innerhalb der bayerischen Staatsregierung, die seit September 1947 allein von der CSU geführt wurde. Vor allem Justizminister Josef Müller polemisierte mit unverhohlen antisemitischen Implikationen gegen Auerbach, den er öffentlich bezichtigte, sich als jüdischer „König“ zu inszenieren. Zudem ließ Müller Beweismaterial gegen die „Symbolfigur einer umfassenden Wiedergutmachung“ (Gerhard Fürmetz) sammeln.Am Beginn der 1950er Jahre war Auerbach zunehmend isoliert, nachdem er auch die Rückendeckung der amerikanischen Militärverwaltung verloren hatte. Im Januar 1951 wurde Auerbach aus seinem Amt entlassen und kurz darauf festgenommen. Im April 1952 musste er sich zusammen mit dem bayerischen Landesrabbiner Aaron Ohrenstein und zwei weiteren Angeklagten vor dem Landgericht München verantworten. Der vorsitzende Richter Josef Mulzer hatte während des NS als Oberkriegsgerichtsrat amtiert und später mit Justizminister Müller in derselben Anwaltskanzlei gearbeitet. Der Staatsanwalt wie auch der psychiatrische Gutachter waren Mitglieder der NSDAP gewesen. Ein Beisitzer hatte der SA angehört. Die antisemitischen Implikationen des Prozesses sowie in Teilen der medialen Berichterstattung waren unverkennbar.Kämpfe um Anerkennung – Brüche und KontinuitätenZwei Tage nach seiner Verurteilung nahm sich Philipp Auerbach das Leben. In einem Abschiedsbrief schrieb er: „Ich habe mich niemals persönlich bereichert und kann dieses entehrende Urteil nicht ertragen. Ich habe bis zuletzt gekämpft, es war umsonst.“ Zwei Jahre später wurde Philipp Auerbach durch einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags nahezu vollständig rehabilitiert. An dem Befund des Politikwissenschaftlers Wolfgang Kraushaar ändert diese jedoch nichts. Demnach habe „bei Politikern und Juristen, aber auch in weiten Kreisen der Bevölkerung ein starkes Bedürfnis“ bestanden, „sich von der deutschen Schuld am Judenmord zu entlasten, indem man den DPs und ihrem Generalanwalt Auerbach alle nur denkbaren Verbrechen in die Schuhe schob.“Eine Wahrnehmung, die augenscheinlich auch von vielen Teilnehmer*innen der Beisetzung Philipp Auerbachs geteilt wurde, die ihre Wut und Enttäuschung lautstark und entschlossen zum Ausdruck brachten. Die in eine Protestmanifestation umschlagende Trauerfeier für Philipp Auerbach sollte, so der Historiker Dan Diner „für lange Dauer der letzte gemeinschaftliche jüdische Auftritt in Deutschland“ bleiben. Die Formen der Kämpfe um Anerkennung wandelten sich.Als im Oktober 1985 Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Frankfurts die Bühne der Frankfurter Kammerspiele besetzten, um die Aufführung des als antisemitisch kritisierten Stücks „Der Müll, die Stadt und der Tod“ von Rainer Werner Fassbinder (vgl. LOTTA #62) zu verhindern, galt dieser Akt des zivilen Ungehorsams vielen als „coming out“ (Cilly Kugelmann) der jüdischen Gemeinschaft. Ganz neu war er freilich nicht: Er hatte seine Vorläufer in den vielschichtigen Kämpfen von Jüdinnen*Juden in den Jahren unmittelbar nach der Shoah. Geschichte 7754 Tue, 16 Aug 2022 20:58:42 +0200 LOTTA „Wir sind gerettet, aber nicht befreit“ Michael Sturm In der frühen Bundesrepublik waren Jüdinnen*Juden vielfach mit antisemitischer Ausgrenzung, Marginalisierung und Kriminalisierung konfrontiert. Ihr Widerstand gegen diese Zumutungen der postnationalsozialistischen Gesellschaft, das Anprangern des fortwährenden Antisemitismus und die zähen, institutionellen, nicht selten aber auch aktivistischen Kämpfe um Anerkennung und Selbstbehauptung, sind heute, zumindest in der Dominanzgesellschaft, weitgehend in Vergessenheit geraten.Auf dem Vorplatz des Neuen Israelitischen Friedhofs in München spielten sich am Nachmittag des 18. August 1952 tumultartige Szenen ab. Tausende Menschen, vorwiegend Jüdinnen*Juden, die meisten von ihnen Überlebende der Shoah, hatten sich versammelt, um von Philipp Auerbach Abschied zu nehmen. Der vormalige Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte in Bayern hatte sich am 16. August das Leben genommen, nachdem er vom Münchner Landgericht in einem von antisemitischen Ressentiments aufgeladenen Verfahren wegen vermeintlicher Bestechung, Untreue, Amtsunterschlagung und dem fälschlichen Führen eines akademischen Doktortitels zu einer Haftstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt worden war.Die Trauerveranstaltung entwickelte sich zu einer sichtbaren und lautstarken Demonstration gegen den – NS-belasteten – Richter Josef Mulzer sowie den bis wenige Wochen zuvor amtierenden Bayerischen Justizminister Josef Müller (CSU), die viele der Teilnehmenden für den Tod Auerbachs verantwortlich machten. Als Polizisten einige der mitgeführten Transparente beschlagnahmen wollten, kam es zu einem Handgemenge. Die Polizei setzte Schlagstöcke und einen Wasserwerfer gegen die Menschenmenge ein und stürmte den jüdischen Friedhof, der wie es später mit großer Zufriedenheit in einem Einsatzbericht hieß, erfolgreich „gesäubert“ wurde.Die „Affäre Auerbach“, die auch international große Aufmerksamkeit erfuhr, kann als ein schillerndes, wenngleich keineswegs singuläres Beispiel für den gesellschaftlich und institutionell verbreiteten Antisemitismus in der frühen Bundesrepublik gelten.„Keine Almosen“Jüdinnen*Juden, wie etwa der Frankfurter Rabbiner Leopold Neuhaus verwahrten sich dagegen, lediglich als Empfänger*innen von „Almosen“ zu firmieren. Sie forderten systematische Restitutionen, umfassende Entschädigungsleistungen und eine konsequente Entnazifizierung. Norbert Wollheim, der im IG Farben-Lager Auschwitz-Monowitz hatte Zwangsarbeit leisten müssen und seit September 1945 als zweiter Vorsitzender des Zentralkomitees der befreiten Juden in der britischen Zone amtierte, notierte in einem Brief im August 1945: „Wir sind gerettet, aber nicht befreit“, und verlieh damit den Wahrnehmungen zahlreicher Überlebender Ausdruck.Die Gesellschaft der Überlebenden der Shoah war indessen keineswegs homogen. Die Menschen, die dem präzedenzlosen Verbrechen entkommen waren, vielfach an körperlichen und psychischen Folgen litten und oftmals ihre Angehörigen verloren hatten, unterschieden sich im Hinblick auf ihre geografische und soziale Herkunft, ihre politischen und religiösen Orientierungen und entwickelten unterschiedliche Perspektiven für die Zukunft. Zunächst waren da die rund 15.000 als Jüdinnen*Juden verfolgte Deutsche, die die Shoah in Verstecken oder in so genannten ‚Mischehen‘ mit nichtjüdischen Partner*innen überlebt hatten. Weitere 9.000 jüdische Deutsche kehrten aus den außerhalb des vormaligen Reichsgebietes gelegenen befreiten Konzentrationslagern zurück. In den folgenden Jahren remigrierten zudem 6.000 Jüdinnen*Juden, die rechtzeitig vor der Verfolgung hatten fliehen können, in die entstehende Bundesrepublik.Trotz aller religiöser und weltanschaulicher Differenzen, dominierte in dieser Gruppe das Bestreben, in Deutschland wieder ein jüdisches Gemeindeleben zu etablieren. Eine zentrale Forderung, die etwa auch von Philipp Auerbach erhoben wurde, bezog sich daher auf die Rückgabe bzw. die Kompensation des in der NS-Zeit geraubten Gemeindeeigentums an die neu entstehenden Gemeinden.Das Entstehen einer „vitalen jüdischen Kultur“Eine weitere, ungleich größere Gruppe bildeten die bis zu 70.000 als Jüdinnen*Juden Verfolgten aus den vom NS okkupierten Ländern besonders Osteuropas, die aus den Konzentrations- und Zwangsarbeiter*innenlagern auf dem Gebiet des vormaligen Deutschen Reichs befreit worden waren. Als so genannte ‚Displaced Persons‘ (DP) waren sie gezwungen, in Lagern, die vormals teilweise zum Lagersystem des NS zählten, zu leben. Zunächst gemeinsam mit nichtjüdischen DPs, später in eigenständigen Einrichtungen, die Schutz vor antisemitischen Anfeindungen bieten sollten. Die Perspektiven des überwiegenden Teils dieser Gruppe, die bis 1947 um weitere 100.000 Menschen aus osteuropäischen Staaten wuchs, die vor den sich dort etablierenden stalinistischen Regimen und zunehmenden antisemitischen Übergriffen flohen, richteten sich auf die Auswanderung vor allem nach Nordamerika und nach Palästina bzw. seit 1948 nach Israel, was den meisten im Laufe der Jahre auch gelang.Die größten DP-Camps entstanden in der amerikanischen Besatzungszone, vor allem in Hessen und Bayern. Diese weitgehend von ihren Bewohner*innen und jüdischen Organisationen selbstverwalteten Einrichtungen entwickelten sich, wie der Historiker Markus Nesselrodt schreibt, zu „Orten der kulturellen, religiösen und politischen Selbstvergewisserung“, die auch dem „Wunsch nach einer neuen national-jüdischen Gemeinschaft“ entsprachen. Am deutlichsten zeigte sich der Selbstbehauptungswille der Überlebenden in den Geburtenraten in den DP-Camps, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu den höchsten weltweit zählten.Kontiunitäten des AntisemitismusRund um die im Münchner Stadtteil Bogenhausen gelegene Möhlstraße, in der zahlreiche jüdische Hilfsorganisationen ihren Sitz hatten, etablierte sich eine durch DPs geprägte „vitale jüdische Kultur“ (Michael Brenner), die Geschäfte und Restaurants ebenso umfasste, wie informelle ökonomische Netzwerke, die in den Fokus der amerikanischen, vor allem aber der deutschen Behörden gerieten. In diesem Kontext zeigten sich die Kontinuität gesellschaftlich und institutionell breit verankerten antisemitischen Ressentiments, in dem die DP-Camps als Zentren vermeintlich um sich greifender Kriminalität wahrgenommen wurden. Der Frankfurter Oberbürgermeister Walter Kolb (SPD) erklärte im Oktober 1946, das DP-Camp Zeilsheim habe sich zu einer „Landplage“ entwickelt. Sein Polizeipräsident forderte, „schnellstens Abhilfe“ zu schaffen.In der Tat ging die Polizei massiv gegen jüdische DPs vor und versuchte mit groß angelegten Razzien die informellen Ökonomien zu zerschlagen. Gegen diese Maßnahmen setzen sich die Betroffenen immer wieder zur Wehr. Rund um die Möhlstraße kam es wiederholt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und DPs. Als Polizeikräfte und Zoll im Mai 1952 das DP-Camp in Föhrenwald durchsuchen wollten, stießen sie auf entschlossenen, sich auch in Steinwürfen manifestierenden Widerstand zahlreicher Bewohner*innen, die sich an Razzien in den nationalsozialistischen Ghettos erinnert fühlten. Beim Versuch im März 1946 das DP-Camp in Stuttgart zu durchsuchen, wurde der Auschwitz-Überlebende Samuel Danziger durch polizeilichen Schusswaffeneinsatz getötet.Auch in München schreckte die Polizei nicht davor zurück, auf jüdische DPs zu schießen. Ein spektakulärer Vorfall ereignete sich im August 1949. Den Auslöser lieferte ein antisemitischer Leserbrief der unter dem Pseudonym „Adolf Bleibtreu“ in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht worden war. Am folgenden Tag versammelten sich rund 1.000 Menschen vor der in der Nähe der Möhlstraße gelegenen Synagoge, um zur Redaktion der SZ zu ziehen, bei der zum damaligen Zeitpunkt noch einige vormalige Apologeten des NS beschäftigt waren. Als die Münchner Polizei den Protestzug stoppen wollte, entwickelte sich eine Straßenschlacht, in deren Verlauf Demonstrant*innen ein Einsatzfahrzeug mit einem Hakenkreuz bemalten und in Brand steckten. Die Beamten gingen mit Pferden und Schlagstöcken gegen die zunächst friedliche Menge vor. Drei Demonstrant*innen wurden durch Polizeikugeln verletzt.Protest gegen institutionelle NS-KontinuitätenAuch an anderen Orten demonstrierten Jüdinnen*Juden gegen Antisemitismus und für die konsequente Ahndung von NS-Verbrechen. Im Januar 1951 versammelten sich in Landsberg rund 4.000 Bürger*innen, um gegen die von der amerikanischen Militärverwaltung angekündigte Hinrichtung von dort im alliierten Kriegsverbrechergefängnis einsitzenden hochgradig belasteten NS-Tätern zu protestieren. Als rund 300 DPs aus dem nahe gelegenen Camp mit Zwischenrufen die Kundgebung zu stören versuchten und auf die beispiellosen Verbrechen der einsitzenden NS-Täter aufmerksam machten, schlug ihnen unverhohlener Hass entgegen. Auf der Kundgebung sprach u.a. der vormalige SA-Angehörige und spätere Bundesjustizminister Richard Jaeger (CSU), eigentlich ein Verfechter der Todesstrafe nur eben nicht in diesem Fall. Aus der Menge kam es zu „Juden raus“-Rufen. Die Polizei schritt ein – allerdings gegen die demonstrierenden Jüdinnen*Juden, von denen einige in Gewahrsam genommen wurden. Eine am selben Tag von DPs initiierte Gedenkkundgebung für die Opfer des NS-Terrors blieb ohne Resonanz in der Landsberger Bevölkerung.Der Protest gegen Antisemitismus und die gesellschaftlichen und institutionellen NS-Kontinuitäten sowie die Forderungen nach einer systematischen Entnazifizierung und konsequenten Bestrafung der Täter*innen auf der einen und einem wahrnehmbaren öffentlichen Gedenken an die Opfer der Shoa auf der anderen Seite, verband bei allen tiefgreifenden Konflikten und unterschiedlichen Perspektiven die heterogene Gemeinschaft der Überlebenden und ihre Akteur*innen miteinander.Norbert Wollheim, der als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinden Nordwestdeutschlands und als Direktoriumsmitglied des 1950 gegründeten Zentralrats der Juden in Deutschland auf institutionellem Wege dazu beigetragen hatte, jüdisches Leben wieder in der Bundesrepublik zu etablieren, war 1951 in die USA emigriert. Von dort aus forcierte er eine Klage gegen die IG Farben AG in Liquidation, um für die von ihm in Auschwitz geleistete Zwangsarbeit Entschädigungsleistungen und Arbeitslohn zu erstreiten. Das Landgericht Frankfurt sprach Wollheim 1953 schließlich ein Schmerzensgeld von 10.000 DM zu – ein Musterurteil, dem 1958 ein weiterer Vergleich folgte, der Entschädigungszahlungen für mehrere tausend vormalige Zwangsarbeiter*innen der IG Farben vorsah.„Symbolfigur der Wiedergutmachung“Auch Philipp Auerbach versuchte auf institutionellem Wege für die Rechte ehemals verfolgter Jüdinnen*Juden, aber auch anderer Opfergruppen des NS, vor allem Sinti*zze und Rom*nja, zu kämpfen – dies allerdings auf häufig unkonventionelle Weise und nicht selten am Rande des ihm vorgegebenen legalen Rahmens. Nachdem er im April 1945 die Befreiung im KZ Buchenwald erlebt hatte, war er seit Herbst 1945 für das Oberpräsidium Nordrhein in Düsseldorf für die Betreuung ehemaliger NS-Verfolgter und Geflüchteter zuständig. Gleichzeitig recherchierte Auerbach, der zu den Gründungsmitgliedern der VVN gehörte und zudem den ersten Landesverband der jüdischen Gemeinden in Nordrhein und Westfalen ins Leben gerufen hatte, die Vergangenheit mutmaßlicher vormaliger NS-Täter und Funktionseliten. In Folge seiner Nachforschungen zur Rolle des Oberpräsidenten Robert Lehr (CDU) während des NS, wurde er jedoch von der britischen Militärverwaltung suspendiert.Nur einige Monate später, im Herbst 1946 avancierte er in Bayern unter Ministerpräsident Wilhelm Hoegner (SPD) zum Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte. Im Laufe der folgenden Jahre gelang es ihm, diesen Posten zu einer Art Superbehörde auszubauen, die Zuständigkeiten im Bereich der Auszahlung von Versorgungsleistungen für Verfolgte des NS-Regimes ebenso beanspruchte wie bei der Zuteilung von Wohnungen und der Vermittlung von Arbeitsstellen. Zudem drängte Auerbach auf eine konsequente Entnazifizierung, forderte umfangreiche Maßnahmen zur Bekämpfung des Antisemitismus und forcierte die Einrichtung von Gedenkorten für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung.In oftmals harschem Tonfall kritisierte er das Auftreten der Polizei gegenüber jüdischen DPs, das von den Betroffenen vielfach als antisemitisch benannt wurde und forderte umgehende Konsequenzen. Auerbachs Interventionen erfolgten häufig aufgrund von Beschwerden lokaler jüdischer Komitees, derer er sich annahm. Energisch trat er für die Restitution von in der NS-Zeit geraubtem jüdischen Eigentum ein. In Augsburg wurde er im Juli 1947 auf einen katholischen Priester aufmerksam, der sich offenkundig im November 1938 die wertvolle Orgel der dortigen Israelitischen Kultusgemeinde angeeignet hatte. Er verlangte nicht nur erfolgreich die Rückgabe der Orgel, sondern forderte zudem die Eröffnung eines Spruchkammerverfahrens gegen den Pfarrer wegen katholischer „Nutznießung des Nationalsozialismus“.Mit seinem Auftreten zog Auerbach indessen die entschiedene Feindschaft nicht nur der nichtjüdischen bayerischen Bevölkerungsmehrheit auf sich, sondern auch innerhalb der bayerischen Staatsregierung, die seit September 1947 allein von der CSU geführt wurde. Vor allem Justizminister Josef Müller polemisierte mit unverhohlen antisemitischen Implikationen gegen Auerbach, den er öffentlich bezichtigte, sich als jüdischer „König“ zu inszenieren. Zudem ließ Müller Beweismaterial gegen die „Symbolfigur einer umfassenden Wiedergutmachung“ (Gerhard Fürmetz) sammeln.Am Beginn der 1950er Jahre war Auerbach zunehmend isoliert, nachdem er auch die Rückendeckung der amerikanischen Militärverwaltung verloren hatte. Im Januar 1951 wurde Auerbach aus seinem Amt entlassen und kurz darauf festgenommen. Im April 1952 musste er sich zusammen mit dem bayerischen Landesrabbiner Aaron Ohrenstein und zwei weiteren Angeklagten vor dem Landgericht München verantworten. Der vorsitzende Richter Josef Mulzer hatte während des NS als Oberkriegsgerichtsrat amtiert und später mit Justizminister Müller in derselben Anwaltskanzlei gearbeitet. Der Staatsanwalt wie auch der psychiatrische Gutachter waren Mitglieder der NSDAP gewesen. Ein Beisitzer hatte der SA angehört. Die antisemitischen Implikationen des Prozesses sowie in Teilen der medialen Berichterstattung waren unverkennbar.Kämpfe um Anerkennung – Brüche und KontinuitätenZwei Tage nach seiner Verurteilung nahm sich Philipp Auerbach das Leben. In einem Abschiedsbrief schrieb er: „Ich habe mich niemals persönlich bereichert und kann dieses entehrende Urteil nicht ertragen. Ich habe bis zuletzt gekämpft, es war umsonst.“ Zwei Jahre später wurde Philipp Auerbach durch einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags nahezu vollständig rehabilitiert. An dem Befund des Politikwissenschaftlers Wolfgang Kraushaar ändert diese jedoch nichts. Demnach habe „bei Politikern und Juristen, aber auch in weiten Kreisen der Bevölkerung ein starkes Bedürfnis“ bestanden, „sich von der deutschen Schuld am Judenmord zu entlasten, indem man den DPs und ihrem Generalanwalt Auerbach alle nur denkbaren Verbrechen in die Schuhe schob.“Eine Wahrnehmung, die augenscheinlich auch von vielen Teilnehmer*innen der Beisetzung Philipp Auerbachs geteilt wurde, die ihre Wut und Enttäuschung lautstark und entschlossen zum Ausdruck brachten. Die in eine Protestmanifestation umschlagende Trauerfeier für Philipp Auerbach sollte, so der Historiker Dan Diner „für lange Dauer der letzte gemeinschaftliche jüdische Auftritt in Deutschland“ bleiben. Die Formen der Kämpfe um Anerkennung wandelten sich.Als im Oktober 1985 Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Frankfurts die Bühne der Frankfurter Kammerspiele besetzten, um die Aufführung des als antisemitisch kritisierten Stücks „Der Müll, die Stadt und der Tod“ von Rainer Werner Fassbinder (vgl. LOTTA #62) zu verhindern, galt dieser Akt des zivilen Ungehorsams vielen als „coming out“ (Cilly Kugelmann) der jüdischen Gemeinschaft. Ganz neu war er freilich nicht: Er hatte seine Vorläufer in den vielschichtigen Kämpfen von Jüdinnen*Juden in den Jahren unmittelbar nach der Shoah. 2022-08-16T20:58:42+02:00 Unbedingte Solidarität | https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/86/unbedingte-solidarit-t Solidarität heißt das Gebot der Stunde! In dem von Lea Susemichel und Jens Kastner im Unrast Verlag herausgegebenen Sammelband geht es um eine „unbedingte Solidarität“, die drei Aspekte beinhaltet.  1.) eine solidarische Praxis, die sich nicht in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe erschöpfe, sei diese nun auf das Geschlecht, die Herkunft oder Klasse bezogen; 2.) eine Praxis, die nicht als „Tauschgeschäft“ in Form einer Kosten-Nutzen-Rechnung an Bedingungen geknüpft wird und 3.) als emphatische Haltung für ein bedingungsloses Eintreten für solidarische Beziehungen im gemeinsamen Ringen um gerechte Gesellschaftsbeziehungen. Gewissermaßen kann dieser Band als inhaltliche Weiterentwicklung der Debatte um Identitätspolitik verstanden werden, zu der das Herausgeber*innen-Duo schon einen Sammelband veröffentlicht hat.Miteinander statt gegeneinander heißt hier die Devise: Ein vielfältigerer Autor*innenkreis verdeutlicht anhand unterschiedlicher aktueller Themenfelder die Bedeutung und Notwendigkeit solidarischer Praxis im Spannungsfeld von Klassen-, Herkunfts- und Geschlechterfragen — eine wohltuende Orientierungshilfe für linke Praxis in Zeiten gesellschaftlicher Entsolidarisierung!Lea Susemichel und Jens Kastner (Hg.):Unbedingte SolidaritätUnrast-Verlag, Münster 2021312 Seiten, 19,80 Euro. Rezension 7751 Tue, 17 May 2022 10:48:49 +0200 LOTTA Unbedingte Solidarität Tomi Tomke Solidarität heißt das Gebot der Stunde! In dem von Lea Susemichel und Jens Kastner im Unrast Verlag herausgegebenen Sammelband geht es um eine „unbedingte Solidarität“, die drei Aspekte beinhaltet.  1.) eine solidarische Praxis, die sich nicht in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe erschöpfe, sei diese nun auf das Geschlecht, die Herkunft oder Klasse bezogen; 2.) eine Praxis, die nicht als „Tauschgeschäft“ in Form einer Kosten-Nutzen-Rechnung an Bedingungen geknüpft wird und 3.) als emphatische Haltung für ein bedingungsloses Eintreten für solidarische Beziehungen im gemeinsamen Ringen um gerechte Gesellschaftsbeziehungen. Gewissermaßen kann dieser Band als inhaltliche Weiterentwicklung der Debatte um Identitätspolitik verstanden werden, zu der das Herausgeber*innen-Duo schon einen Sammelband veröffentlicht hat.Miteinander statt gegeneinander heißt hier die Devise: Ein vielfältigerer Autor*innenkreis verdeutlicht anhand unterschiedlicher aktueller Themenfelder die Bedeutung und Notwendigkeit solidarischer Praxis im Spannungsfeld von Klassen-, Herkunfts- und Geschlechterfragen — eine wohltuende Orientierungshilfe für linke Praxis in Zeiten gesellschaftlicher Entsolidarisierung!Lea Susemichel und Jens Kastner (Hg.):Unbedingte SolidaritätUnrast-Verlag, Münster 2021312 Seiten, 19,80 Euro. 2022-05-17T10:48:49+02:00 „Ich hab’ keine Angst vor’m Sterben“ | Marie Luise Hartmann und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Bielefeld https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/86/ich-hab-keine-angst-vor-m-sterben „Wir versuchen, etwas für den Frieden und die Entspannung zu tun und treten gegen alle faschistischen Tendenzen ein“. So beschrieb Marie Luise Hartmann ihre Arbeit in der „Vereinigung für die Verfolgten des Naziregimes“ (VVN), wo sie von 1947 bis in die 1990er Jahre aktiv war. Während der Zeit des Nationalsozialismus war sie eine von wenigen Menschen, die gegen die Nationalsozialist*innen in Bielefeld Widerstand leisteten.Von mehr als 50 Personen aus Bielefeld, die wegen ihrer politischen Einstellung von den Nazis ermordet wurden, sind die Namen bekannt. Viele derjenigen, die ihre Verfolgung überlebt haben, organisierten sich in der Nachkriegszeit wie Marie Luise Hartmann in der VVN. Ab Ende der 1970er Jahre begann eine breitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Bielefelder Widerstandsgeschichte. Es wurden Interviews mit Überlebenden geführt, etwa von Christian Lawan für seine Staatsexamensarbeit „Untersuchungen zum antifaschistischen Widerstand der KPD 1932 bis 1935 in Bielefeld“ (1977) und für das Filmprojekt „Trotz alledem — Eine Frau im Widerstand“ (1979), auf die in diesem Artikel zurückgegriffen wird.Die Anfänge der Widerstandsarbeit in BielefeldDie Jahre von 1930 bis 1933 waren geprägt durch eine voranschreitende Entdemokratisierung der Gesellschaft, durch Angriffe auf soziale Rechte und eine sich faschisierende Politik. Mit der preußischen Notverordnung vom 20. Juni 1932 wurden alle zivilgesellschaftlichen und staatlichen Möglichkeiten des Protests für illegal erklärt. Aus diesem Grund leisteten Antifaschist*innen auch in Bielefeld schon vor 1933 Widerstand durch ihre politische Arbeit. Sie mussten dabei geschickt und kreativ vorgehen, um nicht erwischt zu werden. Der Bielefelder Willi Schäfer berichtete: „Da haben sich Genossen aus Brackwede [einem Stadtteil von Bielefeld, Anm. d. Verf.] an die Polizei in Bielefeld gewandt und haben gesagt: Hier demonstrieren etwa 700 bis 800 Kommunisten. Sofort setzte sich das Überfallkommando in Bewegung und wir konnten in aller Ruhe eine halbe bis dreiviertel Stunde auf dem Kamphof [einem Arbeiterviertel in Bielefeld-Mitte, Anm. d. Verf.] demonstrieren. Als die Schutzpolizei dann in Brackwede ankam, und dort nichts war, sauste sie natürlich sofort zum Kamphof und die Genossen in Brackwede lagen nun schon auf der Lauer, dass die abgehauen waren und die drei Landjäger [Polizeikräfte in ländlichen Gebieten, Anm. d. Verf.], die sie in Brackwede hatten, waren natürlich nicht in der Lage, die anschließende Demonstration von ungefähr 500 Menschen zu stören und aufzulösen“. Mit solchen Aktionen war es der Bielefelder KPD trotz der Verbote möglich, Protest gegen die Einschränkung sozialer und politischer Rechte in die Öffentlichkeit zu tragen.Am 30. Januar 1933 kam Adolf Hitler an die Macht. Am selben Abend marschierten 500 Nationalsozialist*innen durch Bielefeld. Einen Tag später fand auf dem Kesselbrink in der Bielefelder Innenstadt eine sozialdemokratische Gegenkundgebung mit 8.000 Teilnehmer*innen statt. Der Kommunist Willi Schäfer versuchte, mit seinen Genoss*innen antifaschistischen Widerstand in den Betrieben zu organisieren. Er berichtete über eine Aktion bei den Anker-Werken: „Es war kurz nach der Machtübernahme, […] da haben ein Genosse, der auch bei Anker arbeitete, und ich einen Genossen, der von außerhalb kam — ich hab den nicht gekannt — vor dem Betriebstor in Empfang genommen, dann schnell über’n Hof und durch die Unterführung in den Speiseraum, es war gerade Mittag. Und da hat der auch schon losgelegt, fünf Minuten lang. Hat die Kollegen aufgefordert, die Brocken hinzuschmeißen und die Einheitsfront zu schließen. Dann ist er sofort wieder aus dem Betrieb raus“.Bereits vor dem Machtantritt Adolf Hitlers hatte sich die KPD auf die Arbeit in der Illegalität vorbereitet. Schon 1932 tauchten auch in Bielefeld wichtige Funktionär*innen der Partei unter und es gab Schulungen zur Organisierung in der Illegalität. So wurden beispielsweise Kurse im Chiffrieren durchgeführt und Probealarme initiiert, um für den Fall zu trainieren, unauffällig und schnell zu einem geheimen Treffpunkt kommen zu müssen. Zudem wurden als Schutzmaßnahme, im Wissen um mögliche Hausdurchsuchungen, wichtige Dokumente vernichtet. Nur dank dieser präzisen Vorbereitung konnte die Widerstandsarbeit nach der Machtübertragung zunächst aufrechterhalten werden.Die junge AntifaschistinMarie Luise Hartmann, auch Lieschen genannt, wurde am 12. September 1907 in Bielefeld geboren und wuchs dort auf. Ihre Abneigung gegen Krieg und Gewalt entwickelte sich schon früh, da sie den Ersten Weltkrieg als Kind bewusst miterlebte. Prägend war für sie zudem die soziale und fortschrittliche Grundhaltung ihrer Mutter. Da ihre Eltern trotz harter Arbeit in Armut lebten, entstand in ihr ein starker Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit. All diese Gründe führten schließlich dazu, dass Lieschen als Jugendliche der Sozialistischen Arbeiter Jugend (SAJ) beitrat.1929 erfuhr sie, dass die Sozialistische Jugendinternationale zum „2. internationalen Jugendtag“ in Wien aufrief, woraufhin sie sich zu Fuß auf den Weg machte. Ab 1931 arbeitete Lieschen in der Schweiz. Als Hitler dann 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, gab es für sie nur eins: „zurück und mithelfen, dass das schnell wieder beseitigt wird“. Sie erfuhr, dass ihre Schwester, die in Bielefeld im Widerstand tätig war, verhaftet worden war. Diese Lücke wollte sie schließen und wurde somit Teil der Bielefelder KPD, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits in der Illegalität organisierte. Für Lieschen war eine antifaschistische Haltung stets wichtiger als Parteibücher und Gewerkschaftsmitgliedschaften, weshalb sie auch Hand in Hand mit Sozialdemokrat*innen arbeitete. Diese Einstellung hat sie ihr Leben lang beibehalten.Arbeit in der IllegalitätIn den ersten Tagen und Wochen nach der Machtübertragung kam es zu Hausdurchsuchungen bei politischen Gegner*innen, zu Verhaftungen, Beschlagnahmungen von Gebäuden, dem Verbot von Zeitungen, sowie zu Angriffen der SS und der SA auf Bielefelder Arbeiter*innenviertel. Infolgedessen wurden illegale Stadtteilgruppen, Betriebsgruppen und Jugendgruppen aufgebaut. Fortan wurde die politische Arbeit ausschließlich in der Illegalität betrieben. Die Widerstandsarbeit bestand aus verschiedenen Tätigkeiten. Um die bestehenden Strukturen vor der Zerschlagung durch die Nazis zu schützen, war eine sichere Kommunikation unter den Genoss*innen sehr wichtig. Dazu kam die erschwerte Finanzierung von Aktionen und die sehr gefährlich gewordene Informationsweitergabe an die Stadtbevölkerung.Für die Arbeit in der Illegalität war ein zuverlässiger, geheimer Informationsaustausch entscheidend, was alles andere als leicht war. Jede Verhaftung, besonders von Kurier*innen, riss eine Lücke und stellte ein Risiko dar. Deshalb wurden die untersten Zellen dazu angehalten, sich zu verkleinern. Neben der Kommunikation war die Durchführung geheimer Treffen von großer Bedeutung, nicht nur um Informationen auszutauschen, sondern auch um Geld einzusammeln und Aufgaben zu verteilen. Es wurden allgemeine Regeln eingeführt, beispielsweise dass man pünktlich und nicht in Gruppen zu den Treffen erscheinen solle. Treffpunkte waren Bielefelder Ausflugsziele wie die „Heeper Fichten“ oder die „Sparrenburg“ sowie Friedhöfe und Kleingartensiedlungen.Um Informationen über Hitler und seine Verbrechen zu verbreiten, wurden Handzettel in illegalen Druckereien gedruckt. Es gab wenige große Druckereien, daher war das Erstellen von Flugschriften häufig eine aufwändige Arbeit mit sogenannten „Rollern“, um die eine Matrize mit Buchstaben gespannt war und die dann über jedes Blatt einzeln gerollt werden musste. Große Druckereien waren auffällig und flogen schnell auf. Konstantin Langhammer erinnerte sich: „Das war kurz nach dem Reichstagsbrand. Da bin ich am Nachmittag angefangen zu drucken. Die Matrizen hat Else Zimmermann geschrieben. Ich habe die ganze Nacht durchgedruckt. Ungefähr einen Zentner. Was fertig war ist immer sofort abgeholt worden. Und am Morgen kam die Polizei, da war das schon verraten. Mein Hauswirt hat das getan, der hatte was gemerkt. So gegen sechs Uhr morgens war ich fertig und wollte mich hinlegen. Da guck‘ ich aus dem Fenster und da standen unten vor’m Haus vier Männer. Den einen kannte ich, das war der Kommissar Plaßmann. Und dann kamen die rein, ins Haus. Was nun? Ich stand da im Schlafanzug. Da bin ich ausgerissen. Eine Etage tiefer wohnten Sozialdemokraten. Als die Frau mich sah, hat sie mir sofort Zeug gegeben zum Anziehen und ich bin dann durch die Waschküche raus und zu Genossen in die Oststraße. Von da aus bin ich dann in die Illegalität nach Hamm“.Die Druckerzeugnisse wurden unter anderem in Kinderwagen transportiert, sie wurden in Briefkästen geworfen oder in Zeitschriften eingerollt. Der Bielefelder Fritz Brakemeier erzählte: „Wir verteilten ja auch noch vor den Betrieben, allerdings anders als vor 1933. Wenn die Schicht anfing, ich war noch lange arbeitslos, ging ich zum Betriebstor und dem, den ich kannte, klopfte ich auf die Schulter und drückte ihm schnell ein Flugblatt in die Hand. Ich erinnere mich noch an einen besonderen Fall: Das war vor Anker, als ich da mal wieder gestanden habe, kam auf einmal ein Pförtner, der war parteilos, und stellte mich hinters Tor, so daß mich von der Straße niemand sehen konnte.“Für die Durchführung der Aktionen und das Erstellen der Druckerzeugnisse benötigte man Geld. Auch die in der Illegalität lebenden Widerstandskämpfer*innen mussten versorgt werden. Wichtige Einnahmequellen waren neben den Mitgliedsbeiträgen für die Partei oder die Rote Hilfe auch der Verkauf von Zeitungen und Überschüsse aus Festen von Arbeiter*innensportvereinen.Eine Frau im WiderstandLieschen war im Widerstand als Kassiererin und Kurierin tätig und beteiligte sich an der nächtlichen Verteilung von Flugblättern. Aus der politischen Arbeit von Frauen ergaben sich ganz eigene Gefahren und Hindernisse: „Man kam ja in Verruf, mit jedem, mit dem du dich getroffen hast, und ich hatte viele Treffs in der Stadt, meistens abends, bist du ja per Arm gegangen und sofort war man als Flittchen verschrien. […] Meine Mutter, die ja nun parteilos war, aber uns viel geholfen hat, wollten die Nazis sogar durch’s Dorf führen“.Im November 1933 wurde Lieschen von der SA gefasst. Sie wurde verurteilt und zwei Jahre im Bielefelder Gefängnis inhaftiert. Zum Teil saß sie in Einzelhaft. Für sie war das ein Preis, den sie bereit war zu zahlen: „Und wenn ich nur einen einzigen Menschen zum Nachdenken gebracht habe, dann sind meine zwei Jahre Haft nicht umsonst gewesen“. Nach ihrer Entlassung 1935 leistete sie weiterhin Widerstand, allerdings ohne den Rückhalt einer Gruppe. Es gab mehrere große Verhaftungswellen, so dass ab 1935/36 der organisierte Widerstand weitestgehend zurückgedrängt wurde. Die Inhaftierungen waren ein schwerer Schlag für den Bielefelder Widerstand.Lieschen heiratete 1937 den Kommunisten Magnus Hartmann, den sie bei der illegalen Arbeit kennengelernt hatte. Magnus wurde zunächst nicht zum Kriegsdienst eingezogen, weil er zuvor inhaftiert und als „wehrunwürdig“ eingestuft worden war. Er und Lieschen nahmen Kontakt zu Zwangsarbeiterinnen auf dem Johannisberg auf und versorgten sie mit Kleidung, Essen und menschlicher Wärme. In dem Lager auf dem Johannisberg waren hauptsächlich Frauen aus osteuropäischen Ländern untergebracht, die gezwungen wurden, für Bielefelder Firmen zu arbeiten. Als sich die Niederlage Deutschlands abzeichnete, rechnete Magnus damit, nun doch noch eingezogen zu werden. Er versuchte von den Zwangsarbeiterinnen russisch zu lernen, um überlaufen zu können, wenn er an die Ostfront kommen sollte. Er kam ins Strafbataillon 999 und wurde nach Russland verlegt, wo er dann allerdings umkam. Aus der kurzen Ehe entstand eine Tochter.Über die Zeit gegen Kriegsende berichtete Lieschen: „Mein schlimmstes Erlebnis während der ganzen Nazizeit war 1944 im Herbst. Da kam ich an einem schönen Sonnentag nach Bielefeld rein und an den Litfaßsäulen hingen ganz auffällige Plakate und als ich hinging und hab gelesen, da war ich so entsetzt: da standen auf den Plakaten die Namen von den Kameraden, die heute auf dem Sennefriedhof liegen. Das waren Kameraden, mit denen ich 1933 zum Teil illegal zusammengearbeitet hatte. Ich war derart entsetzt, das hat mich Monate beschäftigt, ich konnte das nicht fassen, dass diese Kameraden jetzt hingerichtet werden und nicht mehr sein sollen“. Die Männer, die bei den Werken von Dürkopp und Benteler arbeiteten, hatten versucht, durch das illegale Abhören ausländischer Radiosender Informationen über den Krieg zu erhalten. Zudem diskutierten sie die politische Lage. Sie wurden entdeckt, verhaftet und 1944 in Dortmund hingerichtet. Zum Gedenken dieser Arbeiter sowie aller getöteten politisch Verfolgten in Bielefeld wurde 1948 auf dem Sennefriedhof ein Gedenkstein erstellt. Auf dem Stein steht der Satz: „Es soll die Erde, in der Ihr ruht, ganz eine freie werden“.Lieschen in der NachkriegszeitDas Grab auf dem Sennefriedhof besuchte Lieschen nach Kriegsende jedes Jahr. Sie fühlte sich den ermordeten Genoss*innen gegenüber verpflichtet, politisch aktiv zu bleiben. Ab 1947 gehörte sie zu den ersten Mitgliedern der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes in Bielefeld. Sie wurde zur Hauptkassiererin der Ortsgruppe gewählt und saß im NRW-Landesvorstand. Lieschen wurde in der Friedensbewegung aktiv und demonstrierte gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands, gegen die Gründung der Bundeswehr und gegen die Versuche der atomaren Aufrüstung in der BRD. Aus ihrer Sicht wurden mit der Entstehung der Bundeswehr 1955 viele der alten Wehrmachtsgeneräle wieder „salonfähig“ gemacht. Auch die Berufsverbote, die ab 1972 Kommunist*innen und anderen politischen Aktivist*innen den Weg in den Schuldienst versperrten sowie die Aktivitäten der alten und der neuen Rechten brachten Lieschen in Aktion. Dabei war es ihr wichtig, sich über ideologische Gegensätze hinweg gegen Nazis und die Kriegsgefahr zu wehren.Für Lieschen spielten Frauen eine wichtige Rolle in der Politik. Ihrer Ansicht nach interessierten sich Frauen leider zu wenig für politische Themen, wobei sie vergäßen, „dass damit auch ihr eigenes Problem entweder gefördert wird oder eingeengt wird“. Frauen sollten sich mehr beteiligen, doch die Meinungsfreiheit habe durchaus ihre Grenzen: Lieschen erfuhr, dass die eigene Stimme nur solange zähle, wie man von der Politik angesprochen werde. Sobald man sich aktiv gegen etwas einsetze, spüre man die Grenze: „Wenn wir sagen wollen, was wir davon halten […], dann werden wir nicht mehr gefragt, dann sind wir lästig, dann schickt man uns mit Wasserwerfern nach Haus“.Lieschen suchte mit ihrer politischen Arbeit die Nähe zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen an Schulen und der Universität Bielefeld. Ihr war es wichtig, dass die jungen Leute einen Standpunkt und ein Ziel entwickelten und zum kritischen Denken angeregt wurden. In diesen Kontakten fühlte sie sich wohl, denn dort habe sie gemerkt, dass es vorwärts gehe.„Ich fühle mich auch mit meinen 72 Jahren heute verpflichtet, auch jetzt noch aktiv dabei zu sein“, sagte Lieschen 1979. „Du musst in deinem Leben dir den Tod zum Freund machen, dann lebst’e nämlich besser. Ich hab’ keine Angst vor’m Sterben. Das kann heute sein, das kann morgen sein, das kann übermorgen sein. Das kann noch zehn Jahre dauern, dann hab’ ich Glück gehabt, dann kann ich noch vielleicht einiges tun, worauf es mir ankommt“. Marie Luise Hartmann hatte sogar noch 17 Jahre, um das zu tun, worauf es ihr ankam. Sie starb am 2. Januar 1997 im Alter von 89 Jahren. Geschichte 7749 Tue, 17 May 2022 10:46:10 +0200 LOTTA „Ich hab’ keine Angst vor’m Sterben“ Mira Wolff „Wir versuchen, etwas für den Frieden und die Entspannung zu tun und treten gegen alle faschistischen Tendenzen ein“. So beschrieb Marie Luise Hartmann ihre Arbeit in der „Vereinigung für die Verfolgten des Naziregimes“ (VVN), wo sie von 1947 bis in die 1990er Jahre aktiv war. Während der Zeit des Nationalsozialismus war sie eine von wenigen Menschen, die gegen die Nationalsozialist*innen in Bielefeld Widerstand leisteten.Von mehr als 50 Personen aus Bielefeld, die wegen ihrer politischen Einstellung von den Nazis ermordet wurden, sind die Namen bekannt. Viele derjenigen, die ihre Verfolgung überlebt haben, organisierten sich in der Nachkriegszeit wie Marie Luise Hartmann in der VVN. Ab Ende der 1970er Jahre begann eine breitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Bielefelder Widerstandsgeschichte. Es wurden Interviews mit Überlebenden geführt, etwa von Christian Lawan für seine Staatsexamensarbeit „Untersuchungen zum antifaschistischen Widerstand der KPD 1932 bis 1935 in Bielefeld“ (1977) und für das Filmprojekt „Trotz alledem — Eine Frau im Widerstand“ (1979), auf die in diesem Artikel zurückgegriffen wird.Die Anfänge der Widerstandsarbeit in BielefeldDie Jahre von 1930 bis 1933 waren geprägt durch eine voranschreitende Entdemokratisierung der Gesellschaft, durch Angriffe auf soziale Rechte und eine sich faschisierende Politik. Mit der preußischen Notverordnung vom 20. Juni 1932 wurden alle zivilgesellschaftlichen und staatlichen Möglichkeiten des Protests für illegal erklärt. Aus diesem Grund leisteten Antifaschist*innen auch in Bielefeld schon vor 1933 Widerstand durch ihre politische Arbeit. Sie mussten dabei geschickt und kreativ vorgehen, um nicht erwischt zu werden. Der Bielefelder Willi Schäfer berichtete: „Da haben sich Genossen aus Brackwede [einem Stadtteil von Bielefeld, Anm. d. Verf.] an die Polizei in Bielefeld gewandt und haben gesagt: Hier demonstrieren etwa 700 bis 800 Kommunisten. Sofort setzte sich das Überfallkommando in Bewegung und wir konnten in aller Ruhe eine halbe bis dreiviertel Stunde auf dem Kamphof [einem Arbeiterviertel in Bielefeld-Mitte, Anm. d. Verf.] demonstrieren. Als die Schutzpolizei dann in Brackwede ankam, und dort nichts war, sauste sie natürlich sofort zum Kamphof und die Genossen in Brackwede lagen nun schon auf der Lauer, dass die abgehauen waren und die drei Landjäger [Polizeikräfte in ländlichen Gebieten, Anm. d. Verf.], die sie in Brackwede hatten, waren natürlich nicht in der Lage, die anschließende Demonstration von ungefähr 500 Menschen zu stören und aufzulösen“. Mit solchen Aktionen war es der Bielefelder KPD trotz der Verbote möglich, Protest gegen die Einschränkung sozialer und politischer Rechte in die Öffentlichkeit zu tragen.Am 30. Januar 1933 kam Adolf Hitler an die Macht. Am selben Abend marschierten 500 Nationalsozialist*innen durch Bielefeld. Einen Tag später fand auf dem Kesselbrink in der Bielefelder Innenstadt eine sozialdemokratische Gegenkundgebung mit 8.000 Teilnehmer*innen statt. Der Kommunist Willi Schäfer versuchte, mit seinen Genoss*innen antifaschistischen Widerstand in den Betrieben zu organisieren. Er berichtete über eine Aktion bei den Anker-Werken: „Es war kurz nach der Machtübernahme, […] da haben ein Genosse, der auch bei Anker arbeitete, und ich einen Genossen, der von außerhalb kam — ich hab den nicht gekannt — vor dem Betriebstor in Empfang genommen, dann schnell über’n Hof und durch die Unterführung in den Speiseraum, es war gerade Mittag. Und da hat der auch schon losgelegt, fünf Minuten lang. Hat die Kollegen aufgefordert, die Brocken hinzuschmeißen und die Einheitsfront zu schließen. Dann ist er sofort wieder aus dem Betrieb raus“.Bereits vor dem Machtantritt Adolf Hitlers hatte sich die KPD auf die Arbeit in der Illegalität vorbereitet. Schon 1932 tauchten auch in Bielefeld wichtige Funktionär*innen der Partei unter und es gab Schulungen zur Organisierung in der Illegalität. So wurden beispielsweise Kurse im Chiffrieren durchgeführt und Probealarme initiiert, um für den Fall zu trainieren, unauffällig und schnell zu einem geheimen Treffpunkt kommen zu müssen. Zudem wurden als Schutzmaßnahme, im Wissen um mögliche Hausdurchsuchungen, wichtige Dokumente vernichtet. Nur dank dieser präzisen Vorbereitung konnte die Widerstandsarbeit nach der Machtübertragung zunächst aufrechterhalten werden.Die junge AntifaschistinMarie Luise Hartmann, auch Lieschen genannt, wurde am 12. September 1907 in Bielefeld geboren und wuchs dort auf. Ihre Abneigung gegen Krieg und Gewalt entwickelte sich schon früh, da sie den Ersten Weltkrieg als Kind bewusst miterlebte. Prägend war für sie zudem die soziale und fortschrittliche Grundhaltung ihrer Mutter. Da ihre Eltern trotz harter Arbeit in Armut lebten, entstand in ihr ein starker Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit. All diese Gründe führten schließlich dazu, dass Lieschen als Jugendliche der Sozialistischen Arbeiter Jugend (SAJ) beitrat.1929 erfuhr sie, dass die Sozialistische Jugendinternationale zum „2. internationalen Jugendtag“ in Wien aufrief, woraufhin sie sich zu Fuß auf den Weg machte. Ab 1931 arbeitete Lieschen in der Schweiz. Als Hitler dann 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, gab es für sie nur eins: „zurück und mithelfen, dass das schnell wieder beseitigt wird“. Sie erfuhr, dass ihre Schwester, die in Bielefeld im Widerstand tätig war, verhaftet worden war. Diese Lücke wollte sie schließen und wurde somit Teil der Bielefelder KPD, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits in der Illegalität organisierte. Für Lieschen war eine antifaschistische Haltung stets wichtiger als Parteibücher und Gewerkschaftsmitgliedschaften, weshalb sie auch Hand in Hand mit Sozialdemokrat*innen arbeitete. Diese Einstellung hat sie ihr Leben lang beibehalten.Arbeit in der IllegalitätIn den ersten Tagen und Wochen nach der Machtübertragung kam es zu Hausdurchsuchungen bei politischen Gegner*innen, zu Verhaftungen, Beschlagnahmungen von Gebäuden, dem Verbot von Zeitungen, sowie zu Angriffen der SS und der SA auf Bielefelder Arbeiter*innenviertel. Infolgedessen wurden illegale Stadtteilgruppen, Betriebsgruppen und Jugendgruppen aufgebaut. Fortan wurde die politische Arbeit ausschließlich in der Illegalität betrieben. Die Widerstandsarbeit bestand aus verschiedenen Tätigkeiten. Um die bestehenden Strukturen vor der Zerschlagung durch die Nazis zu schützen, war eine sichere Kommunikation unter den Genoss*innen sehr wichtig. Dazu kam die erschwerte Finanzierung von Aktionen und die sehr gefährlich gewordene Informationsweitergabe an die Stadtbevölkerung.Für die Arbeit in der Illegalität war ein zuverlässiger, geheimer Informationsaustausch entscheidend, was alles andere als leicht war. Jede Verhaftung, besonders von Kurier*innen, riss eine Lücke und stellte ein Risiko dar. Deshalb wurden die untersten Zellen dazu angehalten, sich zu verkleinern. Neben der Kommunikation war die Durchführung geheimer Treffen von großer Bedeutung, nicht nur um Informationen auszutauschen, sondern auch um Geld einzusammeln und Aufgaben zu verteilen. Es wurden allgemeine Regeln eingeführt, beispielsweise dass man pünktlich und nicht in Gruppen zu den Treffen erscheinen solle. Treffpunkte waren Bielefelder Ausflugsziele wie die „Heeper Fichten“ oder die „Sparrenburg“ sowie Friedhöfe und Kleingartensiedlungen.Um Informationen über Hitler und seine Verbrechen zu verbreiten, wurden Handzettel in illegalen Druckereien gedruckt. Es gab wenige große Druckereien, daher war das Erstellen von Flugschriften häufig eine aufwändige Arbeit mit sogenannten „Rollern“, um die eine Matrize mit Buchstaben gespannt war und die dann über jedes Blatt einzeln gerollt werden musste. Große Druckereien waren auffällig und flogen schnell auf. Konstantin Langhammer erinnerte sich: „Das war kurz nach dem Reichstagsbrand. Da bin ich am Nachmittag angefangen zu drucken. Die Matrizen hat Else Zimmermann geschrieben. Ich habe die ganze Nacht durchgedruckt. Ungefähr einen Zentner. Was fertig war ist immer sofort abgeholt worden. Und am Morgen kam die Polizei, da war das schon verraten. Mein Hauswirt hat das getan, der hatte was gemerkt. So gegen sechs Uhr morgens war ich fertig und wollte mich hinlegen. Da guck‘ ich aus dem Fenster und da standen unten vor’m Haus vier Männer. Den einen kannte ich, das war der Kommissar Plaßmann. Und dann kamen die rein, ins Haus. Was nun? Ich stand da im Schlafanzug. Da bin ich ausgerissen. Eine Etage tiefer wohnten Sozialdemokraten. Als die Frau mich sah, hat sie mir sofort Zeug gegeben zum Anziehen und ich bin dann durch die Waschküche raus und zu Genossen in die Oststraße. Von da aus bin ich dann in die Illegalität nach Hamm“.Die Druckerzeugnisse wurden unter anderem in Kinderwagen transportiert, sie wurden in Briefkästen geworfen oder in Zeitschriften eingerollt. Der Bielefelder Fritz Brakemeier erzählte: „Wir verteilten ja auch noch vor den Betrieben, allerdings anders als vor 1933. Wenn die Schicht anfing, ich war noch lange arbeitslos, ging ich zum Betriebstor und dem, den ich kannte, klopfte ich auf die Schulter und drückte ihm schnell ein Flugblatt in die Hand. Ich erinnere mich noch an einen besonderen Fall: Das war vor Anker, als ich da mal wieder gestanden habe, kam auf einmal ein Pförtner, der war parteilos, und stellte mich hinters Tor, so daß mich von der Straße niemand sehen konnte.“Für die Durchführung der Aktionen und das Erstellen der Druckerzeugnisse benötigte man Geld. Auch die in der Illegalität lebenden Widerstandskämpfer*innen mussten versorgt werden. Wichtige Einnahmequellen waren neben den Mitgliedsbeiträgen für die Partei oder die Rote Hilfe auch der Verkauf von Zeitungen und Überschüsse aus Festen von Arbeiter*innensportvereinen.Eine Frau im WiderstandLieschen war im Widerstand als Kassiererin und Kurierin tätig und beteiligte sich an der nächtlichen Verteilung von Flugblättern. Aus der politischen Arbeit von Frauen ergaben sich ganz eigene Gefahren und Hindernisse: „Man kam ja in Verruf, mit jedem, mit dem du dich getroffen hast, und ich hatte viele Treffs in der Stadt, meistens abends, bist du ja per Arm gegangen und sofort war man als Flittchen verschrien. […] Meine Mutter, die ja nun parteilos war, aber uns viel geholfen hat, wollten die Nazis sogar durch’s Dorf führen“.Im November 1933 wurde Lieschen von der SA gefasst. Sie wurde verurteilt und zwei Jahre im Bielefelder Gefängnis inhaftiert. Zum Teil saß sie in Einzelhaft. Für sie war das ein Preis, den sie bereit war zu zahlen: „Und wenn ich nur einen einzigen Menschen zum Nachdenken gebracht habe, dann sind meine zwei Jahre Haft nicht umsonst gewesen“. Nach ihrer Entlassung 1935 leistete sie weiterhin Widerstand, allerdings ohne den Rückhalt einer Gruppe. Es gab mehrere große Verhaftungswellen, so dass ab 1935/36 der organisierte Widerstand weitestgehend zurückgedrängt wurde. Die Inhaftierungen waren ein schwerer Schlag für den Bielefelder Widerstand.Lieschen heiratete 1937 den Kommunisten Magnus Hartmann, den sie bei der illegalen Arbeit kennengelernt hatte. Magnus wurde zunächst nicht zum Kriegsdienst eingezogen, weil er zuvor inhaftiert und als „wehrunwürdig“ eingestuft worden war. Er und Lieschen nahmen Kontakt zu Zwangsarbeiterinnen auf dem Johannisberg auf und versorgten sie mit Kleidung, Essen und menschlicher Wärme. In dem Lager auf dem Johannisberg waren hauptsächlich Frauen aus osteuropäischen Ländern untergebracht, die gezwungen wurden, für Bielefelder Firmen zu arbeiten. Als sich die Niederlage Deutschlands abzeichnete, rechnete Magnus damit, nun doch noch eingezogen zu werden. Er versuchte von den Zwangsarbeiterinnen russisch zu lernen, um überlaufen zu können, wenn er an die Ostfront kommen sollte. Er kam ins Strafbataillon 999 und wurde nach Russland verlegt, wo er dann allerdings umkam. Aus der kurzen Ehe entstand eine Tochter.Über die Zeit gegen Kriegsende berichtete Lieschen: „Mein schlimmstes Erlebnis während der ganzen Nazizeit war 1944 im Herbst. Da kam ich an einem schönen Sonnentag nach Bielefeld rein und an den Litfaßsäulen hingen ganz auffällige Plakate und als ich hinging und hab gelesen, da war ich so entsetzt: da standen auf den Plakaten die Namen von den Kameraden, die heute auf dem Sennefriedhof liegen. Das waren Kameraden, mit denen ich 1933 zum Teil illegal zusammengearbeitet hatte. Ich war derart entsetzt, das hat mich Monate beschäftigt, ich konnte das nicht fassen, dass diese Kameraden jetzt hingerichtet werden und nicht mehr sein sollen“. Die Männer, die bei den Werken von Dürkopp und Benteler arbeiteten, hatten versucht, durch das illegale Abhören ausländischer Radiosender Informationen über den Krieg zu erhalten. Zudem diskutierten sie die politische Lage. Sie wurden entdeckt, verhaftet und 1944 in Dortmund hingerichtet. Zum Gedenken dieser Arbeiter sowie aller getöteten politisch Verfolgten in Bielefeld wurde 1948 auf dem Sennefriedhof ein Gedenkstein erstellt. Auf dem Stein steht der Satz: „Es soll die Erde, in der Ihr ruht, ganz eine freie werden“.Lieschen in der NachkriegszeitDas Grab auf dem Sennefriedhof besuchte Lieschen nach Kriegsende jedes Jahr. Sie fühlte sich den ermordeten Genoss*innen gegenüber verpflichtet, politisch aktiv zu bleiben. Ab 1947 gehörte sie zu den ersten Mitgliedern der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes in Bielefeld. Sie wurde zur Hauptkassiererin der Ortsgruppe gewählt und saß im NRW-Landesvorstand. Lieschen wurde in der Friedensbewegung aktiv und demonstrierte gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands, gegen die Gründung der Bundeswehr und gegen die Versuche der atomaren Aufrüstung in der BRD. Aus ihrer Sicht wurden mit der Entstehung der Bundeswehr 1955 viele der alten Wehrmachtsgeneräle wieder „salonfähig“ gemacht. Auch die Berufsverbote, die ab 1972 Kommunist*innen und anderen politischen Aktivist*innen den Weg in den Schuldienst versperrten sowie die Aktivitäten der alten und der neuen Rechten brachten Lieschen in Aktion. Dabei war es ihr wichtig, sich über ideologische Gegensätze hinweg gegen Nazis und die Kriegsgefahr zu wehren.Für Lieschen spielten Frauen eine wichtige Rolle in der Politik. Ihrer Ansicht nach interessierten sich Frauen leider zu wenig für politische Themen, wobei sie vergäßen, „dass damit auch ihr eigenes Problem entweder gefördert wird oder eingeengt wird“. Frauen sollten sich mehr beteiligen, doch die Meinungsfreiheit habe durchaus ihre Grenzen: Lieschen erfuhr, dass die eigene Stimme nur solange zähle, wie man von der Politik angesprochen werde. Sobald man sich aktiv gegen etwas einsetze, spüre man die Grenze: „Wenn wir sagen wollen, was wir davon halten […], dann werden wir nicht mehr gefragt, dann sind wir lästig, dann schickt man uns mit Wasserwerfern nach Haus“.Lieschen suchte mit ihrer politischen Arbeit die Nähe zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen an Schulen und der Universität Bielefeld. Ihr war es wichtig, dass die jungen Leute einen Standpunkt und ein Ziel entwickelten und zum kritischen Denken angeregt wurden. In diesen Kontakten fühlte sie sich wohl, denn dort habe sie gemerkt, dass es vorwärts gehe.„Ich fühle mich auch mit meinen 72 Jahren heute verpflichtet, auch jetzt noch aktiv dabei zu sein“, sagte Lieschen 1979. „Du musst in deinem Leben dir den Tod zum Freund machen, dann lebst’e nämlich besser. Ich hab’ keine Angst vor’m Sterben. Das kann heute sein, das kann morgen sein, das kann übermorgen sein. Das kann noch zehn Jahre dauern, dann hab’ ich Glück gehabt, dann kann ich noch vielleicht einiges tun, worauf es mir ankommt“. Marie Luise Hartmann hatte sogar noch 17 Jahre, um das zu tun, worauf es ihr ankam. Sie starb am 2. Januar 1997 im Alter von 89 Jahren. 2022-05-17T10:46:10+02:00 Tatort Porz — Keine Ruhe nach dem Schuss | CDU-Politiker wegen rassistischer Tat zu Haftstrafe verurteilt https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/86/tatort-porz-keine-ruhe-nach-dem-schuss Zu drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilte das Kölner Landgericht den CDU-Kommunalpolitiker Hans-Josef Bähner am 10. Januar wegen gefährlicher Körperverletzung, Beleidigung Der Mann hatte am 29. Dezember 2019 in Köln-Porz vier junge Männer erst rassistisch beleidigt und dann auf einen von ihnen aus nächster Nähe geschossen (siehe hierzu auch LOTTA #82, S. 58 ff.). Erst zwei Jahre später kam es zur Anklage und zum Prozess gegen ihn.Krys M. habe großes Glück gehabt, dass der abgegebene Schuss ihn nicht im Kopf oder anderswo getroffen und somit getötet oder noch schwerer verletzt habe, sagte der Vorsitzende Richter Ralf Ernst in seiner mündlichen Urteilsbegründung. Ein Freund hatte Krys in dem Moment, als Bähner schoss, weggezogen, so dass das Geschoss nur seine Schulter traf. Als strafverschärfend wertete das Gericht das rassistische Motiv: „Bähner hat niemals geschossen, weil es Migranten waren, aber er hat sich gedacht, es handelt sich wohl um Menschen mit Migrationshintergrund, die er nicht in der Nähe seines Grundstücks haben wolle“, sagte Staatsanwalt Sinan Sengöz in seinem Plädoyer. Er müsse weder Professor noch Politiker sein, um zu erkennen, dass es rassistisch konnotierte Beleidigungen waren, die dem Schuss vorausgingen: „Bähner wollte (…), dass explizit Menschen mit dieser vermeintlichen, angenommenen Herkunft von seinem Grundstück verschwinden.“Krys und seine Freunde waren sehr erleichtert. Nach der endlos langen Zeit bis zur Eröffnung der Hauptverhandlung und dem Verlauf des Prozesses hatte niemand mit einem so klaren Urteilsspruch gerechnet. „Natürlich ist es wichtig, dass im Urteil festgehalten wird, dass Bähner aus einem rassistischen Motiv gehandelt hat. Es ist nicht einfach so, ohne Grund passiert, dass so ein Typ mit einer Waffe in der Hand auf einen zukommt. Er hätte auch das Ordnungsamt rufen können, wenn wir ihm zu laut gewesen sind“, meint Krys. Im Sinne der Generalprävention sei es unabdingbar, den Angeklagten zu einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu verurteilen, hatte der Staatsanwalt gefordert. Eine Bewährungsstrafe sei der Bevölkerung nicht zu vermitteln, wenn ein waffenaffiner Mensch mit teils „xenophobem und ausländerfeindlichen“ Weltbild Ruhestörung mit Waffengewalt und Selbstjustiz löst, weil die deutsche Polizei angeblich nichts tue.Erfolgreich gegen Täter-Opfer-UmkehrDass das rassistische Tatmotiv in diesem Prozess eine entscheidende Rolle spielte, ist vor allem ein Erfolg der Betroffenen. In den Medien war zunächst ein völlig anderes Bild von der Nacht gezeichnet worden. Der Kölner Stadt-Anzeiger hatte Krys kurz nach der Tat als „polizeibekannt“ stigmatisiert, während Medienanwalt Ralf Höcker, Gründer der Werte­union und AfD-Freund, erfolgreich dafür sorgte, dass der Name des CDU-Politikers zunächst gar nicht bekannt wurde und in der Presse nur von einem 72-jährigen Mann die Rede war. Gegen die Diffamierung und die Täter-Opfer-Umkehr setzten sich die Betroffenen öffentlich zur Wehr. „Ich war stinksauer“, erzählt Krys, „da liegst du mit einer Schussverletzung im Krankenhaus und dann liest du so eine Scheiße in der Zeitung! Wie kann man so etwas schreiben, ohne mich zu fragen? (…) Ich bin fast vom Glauben abgefallen, was die für einen Müll da abgelassen haben, von wegen polizeibekannt! Ich habe dann in der Redaktion angerufen und das richtig gestellt. Tatsächlich war ich mal verprügelt worden, hatte Strafanzeige gestellt und war als Zeuge vernommen worden. Das war alles. Bei polizeibekannt denkt man doch unwillkürlich an Drogenkriminalität.“Bähner selbst hatte schon in der Tatnacht versucht, den Schuss den jungen Männern in die Schuhe zu schieben. Er habe die Waffe in seinem Garten gefunden, erklärte er den ersten Beamten am Tatort. Tatsächlich erwies sich dies schnell als Lüge, als Polizist:innen die Originalverpackung der Waffe in Bähners Keller fanden. Wegen dieser falschen Anschuldigung wurden auch die vier Betroffenen auf Schmauchspuren untersucht. Laut Gutachter kam aber nur Bähner als Schütze infrage, denn nur an seinen Händen wurden große Mengen Schmauchspuren festgestellt. Und nicht nur das: Bähner hatte aus nächster Nähe, das heißt aus einer Distanz von maximal fünf Zentimetern, auf Krys geschossen.In der Verhandlung wurde außerdem deutlich, was bislang lapidar als „Besitz von fünf Waffen und Munition“ bekannt war: Im ganzen Haus fanden die Polizist:innen Waffen sowie 80 kg Munition und Schwarzpulver, mehrere Revolver, Pistolen und zwei Langwaffen, zwei davon im Schlafzimmer. Allein in der Nachttischschublade Bähners lagen mindestens 50 Patronen, die zu der mutmaßlichen Tatwaffe passten. Der Keller war ein regelrechtes Waffen- und Munitionslager, der Großteil davon frei zugänglich. Bähner ist seit vielen Jahren Sportschütze und ein Waffenfetischist, der die Waffen eben nicht nur zu Sportzwecken nutzte, sondern offenbar auch willens und in der Lage war, sie gegen Menschen einzusetzen.Attacken durch VerteidigerAuch wenn das Urteil des Kölner Landgerichts keinen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Betroffenen und der Schuld des Angeklagten ließ, war das Gericht während des gesamten Verlaufs der Hauptverhandlung nicht in der Lage, anerkennend und respektvoll mit den schwerwiegenden Folgen der Tat für die Betroffenen umzugehen. Obwohl sie immer noch unter den Folgen der Gewalttat litten, ließ der Vorsitzende Richter die diskriminierenden Befragungen und Attacken durch die Verteidiger des CDU-Politikers zu. Die Auseinandersetzung mit den Konsequenzen für die Opfer und den gesellschaftlichen Hintergründen rassistischer Gewalt seitens des Gerichts fehlte völlig. Stattdessen wurde nach Hinweisen auf eine körperliche Auseinandersetzung gesucht, die den Täter hätte entlasten können — anstatt danach zu fragen, warum ein Kommunalpolitiker, Trainer am Schießstand, Besitzer einer großen Menge Waffen und Munition und Follower von AfD-Politiker:innen, zur Waffe greift und auf Jugendliche schießt, nur weil sie ihn stören. Zudem hatte das Gericht das Verfahren erst fast zwei Jahre nach der Tat eröffnet. Die Justiz maß der Aufklärung des rassistischen Anschlags offenkundig wenig Bedeutung bei.„Was ich nie erwartet hätte und besonders empörend fand, war, im Prozess wieder mit Rassismus konfrontiert zu werden und das Gefühl zu haben, du sitzt auf der Anklagebank“, sagt Krys. Tatsächlich lief der Auftakt des Prozesses im November zunächst ganz im Sinne des Täters. Bähner bestritt das rassistische Motiv. Er versuchte, die Glaubwürdigkeit der Betroffenen zu erschüttern und sich selbst als Opfer darzustellen. Er ließ seine Anwälte eine schriftliche Erklärung verlesen und verweigerte jede Aussage zum Tatgeschehen. Die Verteidigung setzte die Täter-Opfer-Umkehr auch an den folgenden Prozesstagen fort. Die Befragungen der Betroffenen glichen einem Kreuzverhör. Die Zeugen wurden dabei in aggressiver, empathieloser Weise unter Druck gesetzt und herabgewürdigt. „Wir waren alle schockiert und fühlten uns, als wenn wir geschossen hätten“, erinnert sich Krys. Bähners Verteidiger bezeichneten die jungen Männer als Lügner und verhöhnten sie, als diese von bleibenden Folgen und dem Schock in der Tatnacht berichteten. „Ich habe nicht verstanden, warum der Richter die Angriffe der Verteidiger überhaupt zugelassen hat“, sagt Krys. Doch die Zeugen ließen sich davon nicht beirren und blieben bei ihrer Darstellung des Geschehens.Ermittlungslücke RassismusObwohl alle unmittelbaren Tatzeugen glaubhaft und übereinstimmend aussagten, dass der Angeklagte sie mit ausländerfeindlichen Beleidigungen belegt und es keine körperliche Auseinandersetzung gegeben hatte, bevor der Schuss fiel, stand bei der Befragung der Polizeizeugen in der Hauptverhandlung die Frage nach der vom Täter behaupteten Notwehrsituation im Vordergrund. Dabei hatte Krys bereits in seiner ersten Vernehmung in der Tatnacht im Krankenhaus von rassistischen Beleidigungen des Täters berichtet. Doch dem maßen die Ermittler:innen keine größere Bedeutung bei. Dabei ist die Frage nach dem Motiv für die Aufklärung von Verbrechen immer zentral. Erst als der WDR über die rassistischen Facebook-Posts Bähners berichtete, geriet die Kölner Kripo unter Druck. Eine Polizeizeugin sprach von „Thermik“ in der Dienststelle. Bähner hatte seit Jahren rechte und rassistische Inhalte sowie Posts zu Selbstbewaffnung und -verteidigung geliket, berichtete der WDR und stützte sich auf Recherchen eines antifaschistischen Projekts. Nach dem TV-Bericht waren die Facebook-Posts gelöscht — von wem, blieb unklar. Hier zeigte sich sehr deutlich die Ignoranz des Leiters der Mordkommission, der in den Posts keine Anhaltspunkte für ein rechtsextremes oder rassistisches Tatmotiv sah. Er sei selbst kein Experte, wenn es um politisch motivierte Kriminalität gehe. Er war gar nicht auf die Idee gekommen, den Staatsschutz hinzuzuziehen, musste er bei seiner Vernehmung einräumen. Die von Bähner auf seinem Facebook-Profil veröffentlichten rechtsradikalen und rassistischen Aussagen, in denen gegen Geflüchtete gehetzt wurde, verharmloste der Ermittler als „grenzwertig kritisch“.Bähner zeigte während des Abschlussplädoyers, wie auch im gesamten Prozessverlauf, keinerlei Zeichen von Reue. Seine Anwälte forderten Freispruch. Und das trotz seines bereits bei Prozessbeginn vorgetragenen Teilgeständnisses, der Beleidigungen, des illegalen Waffenbesitzes und der Schussabgabe. Doch damit nicht genug: Das Abschlussstatement seiner Verteidigung war gekennzeichnet von erneuten Angriffen und Herabwürdigungen gegen die Betroffenen. Auch Polizei, Justiz und die zahlreichen solidarischen Unterstützer:innen des Angeschossenen wären einer Verschwörung gegen ihn aufgesessen. Glücklicherweise folgte das Gericht dieser Erzählung nicht und verurteilte Bähner. „Drei Jahre und sechs Monate Knast ohne Bewährung halte ich für gerecht. Die Frage ist jetzt natürlich, ob er die Strafe tatsächlich absitzen muss oder ob er nur zum Schlafen in den Knast muss und morgens wieder nach Hause gehen kann, aber immerhin besser als nichts“, lautet das Resümee von Krys.Das Urteil ist beileibe nicht selbstverständlich. Erst seit 2015 ist in §46 Strafgesetzbuch geregelt, dass „rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende“ Ziele bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sind. Doch bisher wird Rassismus von der Justiz nur selten wahrgenommen, nicht einmal im Urteil des Oberlandesgerichts München zum NSU-Komplex wurde das rassistische Motiv hervorgehoben. In Fall Porz ist es Betroffenen und Initiativen gelungen, die Ruhe nach dem Schuss zu durchbrechen und eine Täter-Opfer-Umkehr zu verhindern, durch Aktionen auf der Straße, vor Gericht, eine solidarische Prozessbegleitung und eine kritische Öffentlichkeitsarbeit. „Ich bin sehr froh darüber, dass es jetzt anders gekommen ist als erwartet, auch über die Unterstützung, die wir die ganze Zeit hatten“, meint Krys. (Anti)Rassismus 7746 Tue, 17 May 2022 10:36:29 +0200 LOTTA Tatort Porz — Keine Ruhe nach dem Schuss Initiative Tatort Porz Zu drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilte das Kölner Landgericht den CDU-Kommunalpolitiker Hans-Josef Bähner am 10. Januar wegen gefährlicher Körperverletzung, Beleidigung Der Mann hatte am 29. Dezember 2019 in Köln-Porz vier junge Männer erst rassistisch beleidigt und dann auf einen von ihnen aus nächster Nähe geschossen (siehe hierzu auch LOTTA #82, S. 58 ff.). Erst zwei Jahre später kam es zur Anklage und zum Prozess gegen ihn.Krys M. habe großes Glück gehabt, dass der abgegebene Schuss ihn nicht im Kopf oder anderswo getroffen und somit getötet oder noch schwerer verletzt habe, sagte der Vorsitzende Richter Ralf Ernst in seiner mündlichen Urteilsbegründung. Ein Freund hatte Krys in dem Moment, als Bähner schoss, weggezogen, so dass das Geschoss nur seine Schulter traf. Als strafverschärfend wertete das Gericht das rassistische Motiv: „Bähner hat niemals geschossen, weil es Migranten waren, aber er hat sich gedacht, es handelt sich wohl um Menschen mit Migrationshintergrund, die er nicht in der Nähe seines Grundstücks haben wolle“, sagte Staatsanwalt Sinan Sengöz in seinem Plädoyer. Er müsse weder Professor noch Politiker sein, um zu erkennen, dass es rassistisch konnotierte Beleidigungen waren, die dem Schuss vorausgingen: „Bähner wollte (…), dass explizit Menschen mit dieser vermeintlichen, angenommenen Herkunft von seinem Grundstück verschwinden.“Krys und seine Freunde waren sehr erleichtert. Nach der endlos langen Zeit bis zur Eröffnung der Hauptverhandlung und dem Verlauf des Prozesses hatte niemand mit einem so klaren Urteilsspruch gerechnet. „Natürlich ist es wichtig, dass im Urteil festgehalten wird, dass Bähner aus einem rassistischen Motiv gehandelt hat. Es ist nicht einfach so, ohne Grund passiert, dass so ein Typ mit einer Waffe in der Hand auf einen zukommt. Er hätte auch das Ordnungsamt rufen können, wenn wir ihm zu laut gewesen sind“, meint Krys. Im Sinne der Generalprävention sei es unabdingbar, den Angeklagten zu einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu verurteilen, hatte der Staatsanwalt gefordert. Eine Bewährungsstrafe sei der Bevölkerung nicht zu vermitteln, wenn ein waffenaffiner Mensch mit teils „xenophobem und ausländerfeindlichen“ Weltbild Ruhestörung mit Waffengewalt und Selbstjustiz löst, weil die deutsche Polizei angeblich nichts tue.Erfolgreich gegen Täter-Opfer-UmkehrDass das rassistische Tatmotiv in diesem Prozess eine entscheidende Rolle spielte, ist vor allem ein Erfolg der Betroffenen. In den Medien war zunächst ein völlig anderes Bild von der Nacht gezeichnet worden. Der Kölner Stadt-Anzeiger hatte Krys kurz nach der Tat als „polizeibekannt“ stigmatisiert, während Medienanwalt Ralf Höcker, Gründer der Werte­union und AfD-Freund, erfolgreich dafür sorgte, dass der Name des CDU-Politikers zunächst gar nicht bekannt wurde und in der Presse nur von einem 72-jährigen Mann die Rede war. Gegen die Diffamierung und die Täter-Opfer-Umkehr setzten sich die Betroffenen öffentlich zur Wehr. „Ich war stinksauer“, erzählt Krys, „da liegst du mit einer Schussverletzung im Krankenhaus und dann liest du so eine Scheiße in der Zeitung! Wie kann man so etwas schreiben, ohne mich zu fragen? (…) Ich bin fast vom Glauben abgefallen, was die für einen Müll da abgelassen haben, von wegen polizeibekannt! Ich habe dann in der Redaktion angerufen und das richtig gestellt. Tatsächlich war ich mal verprügelt worden, hatte Strafanzeige gestellt und war als Zeuge vernommen worden. Das war alles. Bei polizeibekannt denkt man doch unwillkürlich an Drogenkriminalität.“Bähner selbst hatte schon in der Tatnacht versucht, den Schuss den jungen Männern in die Schuhe zu schieben. Er habe die Waffe in seinem Garten gefunden, erklärte er den ersten Beamten am Tatort. Tatsächlich erwies sich dies schnell als Lüge, als Polizist:innen die Originalverpackung der Waffe in Bähners Keller fanden. Wegen dieser falschen Anschuldigung wurden auch die vier Betroffenen auf Schmauchspuren untersucht. Laut Gutachter kam aber nur Bähner als Schütze infrage, denn nur an seinen Händen wurden große Mengen Schmauchspuren festgestellt. Und nicht nur das: Bähner hatte aus nächster Nähe, das heißt aus einer Distanz von maximal fünf Zentimetern, auf Krys geschossen.In der Verhandlung wurde außerdem deutlich, was bislang lapidar als „Besitz von fünf Waffen und Munition“ bekannt war: Im ganzen Haus fanden die Polizist:innen Waffen sowie 80 kg Munition und Schwarzpulver, mehrere Revolver, Pistolen und zwei Langwaffen, zwei davon im Schlafzimmer. Allein in der Nachttischschublade Bähners lagen mindestens 50 Patronen, die zu der mutmaßlichen Tatwaffe passten. Der Keller war ein regelrechtes Waffen- und Munitionslager, der Großteil davon frei zugänglich. Bähner ist seit vielen Jahren Sportschütze und ein Waffenfetischist, der die Waffen eben nicht nur zu Sportzwecken nutzte, sondern offenbar auch willens und in der Lage war, sie gegen Menschen einzusetzen.Attacken durch VerteidigerAuch wenn das Urteil des Kölner Landgerichts keinen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Betroffenen und der Schuld des Angeklagten ließ, war das Gericht während des gesamten Verlaufs der Hauptverhandlung nicht in der Lage, anerkennend und respektvoll mit den schwerwiegenden Folgen der Tat für die Betroffenen umzugehen. Obwohl sie immer noch unter den Folgen der Gewalttat litten, ließ der Vorsitzende Richter die diskriminierenden Befragungen und Attacken durch die Verteidiger des CDU-Politikers zu. Die Auseinandersetzung mit den Konsequenzen für die Opfer und den gesellschaftlichen Hintergründen rassistischer Gewalt seitens des Gerichts fehlte völlig. Stattdessen wurde nach Hinweisen auf eine körperliche Auseinandersetzung gesucht, die den Täter hätte entlasten können — anstatt danach zu fragen, warum ein Kommunalpolitiker, Trainer am Schießstand, Besitzer einer großen Menge Waffen und Munition und Follower von AfD-Politiker:innen, zur Waffe greift und auf Jugendliche schießt, nur weil sie ihn stören. Zudem hatte das Gericht das Verfahren erst fast zwei Jahre nach der Tat eröffnet. Die Justiz maß der Aufklärung des rassistischen Anschlags offenkundig wenig Bedeutung bei.„Was ich nie erwartet hätte und besonders empörend fand, war, im Prozess wieder mit Rassismus konfrontiert zu werden und das Gefühl zu haben, du sitzt auf der Anklagebank“, sagt Krys. Tatsächlich lief der Auftakt des Prozesses im November zunächst ganz im Sinne des Täters. Bähner bestritt das rassistische Motiv. Er versuchte, die Glaubwürdigkeit der Betroffenen zu erschüttern und sich selbst als Opfer darzustellen. Er ließ seine Anwälte eine schriftliche Erklärung verlesen und verweigerte jede Aussage zum Tatgeschehen. Die Verteidigung setzte die Täter-Opfer-Umkehr auch an den folgenden Prozesstagen fort. Die Befragungen der Betroffenen glichen einem Kreuzverhör. Die Zeugen wurden dabei in aggressiver, empathieloser Weise unter Druck gesetzt und herabgewürdigt. „Wir waren alle schockiert und fühlten uns, als wenn wir geschossen hätten“, erinnert sich Krys. Bähners Verteidiger bezeichneten die jungen Männer als Lügner und verhöhnten sie, als diese von bleibenden Folgen und dem Schock in der Tatnacht berichteten. „Ich habe nicht verstanden, warum der Richter die Angriffe der Verteidiger überhaupt zugelassen hat“, sagt Krys. Doch die Zeugen ließen sich davon nicht beirren und blieben bei ihrer Darstellung des Geschehens.Ermittlungslücke RassismusObwohl alle unmittelbaren Tatzeugen glaubhaft und übereinstimmend aussagten, dass der Angeklagte sie mit ausländerfeindlichen Beleidigungen belegt und es keine körperliche Auseinandersetzung gegeben hatte, bevor der Schuss fiel, stand bei der Befragung der Polizeizeugen in der Hauptverhandlung die Frage nach der vom Täter behaupteten Notwehrsituation im Vordergrund. Dabei hatte Krys bereits in seiner ersten Vernehmung in der Tatnacht im Krankenhaus von rassistischen Beleidigungen des Täters berichtet. Doch dem maßen die Ermittler:innen keine größere Bedeutung bei. Dabei ist die Frage nach dem Motiv für die Aufklärung von Verbrechen immer zentral. Erst als der WDR über die rassistischen Facebook-Posts Bähners berichtete, geriet die Kölner Kripo unter Druck. Eine Polizeizeugin sprach von „Thermik“ in der Dienststelle. Bähner hatte seit Jahren rechte und rassistische Inhalte sowie Posts zu Selbstbewaffnung und -verteidigung geliket, berichtete der WDR und stützte sich auf Recherchen eines antifaschistischen Projekts. Nach dem TV-Bericht waren die Facebook-Posts gelöscht — von wem, blieb unklar. Hier zeigte sich sehr deutlich die Ignoranz des Leiters der Mordkommission, der in den Posts keine Anhaltspunkte für ein rechtsextremes oder rassistisches Tatmotiv sah. Er sei selbst kein Experte, wenn es um politisch motivierte Kriminalität gehe. Er war gar nicht auf die Idee gekommen, den Staatsschutz hinzuzuziehen, musste er bei seiner Vernehmung einräumen. Die von Bähner auf seinem Facebook-Profil veröffentlichten rechtsradikalen und rassistischen Aussagen, in denen gegen Geflüchtete gehetzt wurde, verharmloste der Ermittler als „grenzwertig kritisch“.Bähner zeigte während des Abschlussplädoyers, wie auch im gesamten Prozessverlauf, keinerlei Zeichen von Reue. Seine Anwälte forderten Freispruch. Und das trotz seines bereits bei Prozessbeginn vorgetragenen Teilgeständnisses, der Beleidigungen, des illegalen Waffenbesitzes und der Schussabgabe. Doch damit nicht genug: Das Abschlussstatement seiner Verteidigung war gekennzeichnet von erneuten Angriffen und Herabwürdigungen gegen die Betroffenen. Auch Polizei, Justiz und die zahlreichen solidarischen Unterstützer:innen des Angeschossenen wären einer Verschwörung gegen ihn aufgesessen. Glücklicherweise folgte das Gericht dieser Erzählung nicht und verurteilte Bähner. „Drei Jahre und sechs Monate Knast ohne Bewährung halte ich für gerecht. Die Frage ist jetzt natürlich, ob er die Strafe tatsächlich absitzen muss oder ob er nur zum Schlafen in den Knast muss und morgens wieder nach Hause gehen kann, aber immerhin besser als nichts“, lautet das Resümee von Krys.Das Urteil ist beileibe nicht selbstverständlich. Erst seit 2015 ist in §46 Strafgesetzbuch geregelt, dass „rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende“ Ziele bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sind. Doch bisher wird Rassismus von der Justiz nur selten wahrgenommen, nicht einmal im Urteil des Oberlandesgerichts München zum NSU-Komplex wurde das rassistische Motiv hervorgehoben. In Fall Porz ist es Betroffenen und Initiativen gelungen, die Ruhe nach dem Schuss zu durchbrechen und eine Täter-Opfer-Umkehr zu verhindern, durch Aktionen auf der Straße, vor Gericht, eine solidarische Prozessbegleitung und eine kritische Öffentlichkeitsarbeit. „Ich bin sehr froh darüber, dass es jetzt anders gekommen ist als erwartet, auch über die Unterstützung, die wir die ganze Zeit hatten“, meint Krys. 2022-05-17T10:36:29+02:00 „Advent, Advent, das Grundgesetz brennt“ | Zur Entwicklung der Pandemieleugner*innen-Bewegung im Winter 2021/22 https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/86/advent-advent-das-grundgesetz-brennt Beim Titel dieses Artikels handelt es sich um eine Parole, die Pandemieleugner*innen (PL) und Impfgegner*innen bei der Querdenken-Demonstration am 4. Dezember in Düsseldorf riefen. Die Teilnehmer*innenzahl von 250 war typisch für den Herbst 2021, nachdem die Beteiligung an den von Ingo Marks (Rhein-Sieg-Kreis) und Mona Aranea (Mönchengladbach) organisierten samstäglichen Versammlungen im Sommer bis in den zweistelligen Bereich gefallen war. Beim ersten „Montags-Spaziergang“ des Düsseldorfer Demo-Anmelders und „Corona Rebellen“ Bernd Bruns kamen am 6. Dezember sogar nur rund ein Dutzend Personen zusammen. Im zumeist niedrigen zweistelligen Bereich hatte sich auch die Anzahl der Fahrzeuge bei seinen sonntäglichen Autokorso-Protestfahrten eingependelt. Doch am Samstag, den 11. Dezember, zogen statt der angemeldeten 300 bis zu 6.000 Personen durch Düsseldorf. In der Innenstadt hatten sich auch etliche Passant*innen spontan angeschlossen. Mit der neuen Rekordzahl lag Düsseldorf im bundesweiten Trend steigender Teilnehmer*innenzahlen, der als Reaktion auf das Gesetz zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht im Gesundheitswesen zu erklären sein dürfte. Das Impfangebot für Kinder zwischen fünf und elf Jahren, das von Impfgegner*innen als „Impfpflicht für Kinder“ misskommuniziert wird, dürfte ein weiterer Anstoß gewesen sein.Gemeinsam mit 70 Abgeordneten aus AfD (63), CDU/CSU (5), FDP (1) und Die Linke (1) stimmte der fraktionslose AfDler Matthias Helferich (siehe Artikel auf S. 22 f.) gegen das Gesetz. Er hatte bereits am 4. Dezember gemeinsam mit Führungskadern der JA NRW an der Düsseldorfer Demo teilgenommen. Im Rückblick kann dies als ein Vorzeichen für das seitdem wachsende Engagement der AfD bei den Protesten gesehen werden. Zwar hatte der Düsseldorfer AfD-OB-Kandidat Florian Hoffmann bis zu den Kommunalwahlen im Herbst 2020 eine aktive Rolle bei den Düsseldorfer PL gespielt, wie vereinzelt auch weitere AfDler*innen an den Aktionen teilnahmen und in den Telegram-Gruppen deutliche Wahlpräferenz für die AfD bei der Kommunalwahl 2020 und der Bundestagswahl 2021 ausgedrückt wurde. Ein nachhaltiges und prägendes AfD-Engagement war jedoch nicht festzustellen. Angesichts des breiten Zustroms von Protestierenden und der im Mai 2022 anstehenden Landtagswahl änderte sich dies.CRD marschieren mit FackelnDie AfD witterte mit der Gesetzesverabschiedung eine Chance, Wutbürger*innen hinter sich zu versammeln. Am 11. Dezember marschierten neben Helferich Guido Reil (AfD-MdEP) und Iris Dworeck-Danielowski (AfD-MdL NRW) ebenso mit wie JA-NRW-Funktionsträger*innen, lokales AfD-Personal, extrem rechte Burschenschaftler, die mehrfach verurteilte Holocaust-Leugnerin Birgit Hutter, einige Member und Supporter der Bruderschaft Deutschland sowie andere Neonazis, Reichsbürger*innen, „Identitäre“ sowie aufstrebende Akteure von Rechtsaußen wie German de Pinedo Fernandez aus Essen. Der „Santos“ genannte Ex-„Präses“ des BVB-Fanclubs Tremonia Bullfrogs wirbt bei PL- und AfD-Kundgebungen für den Aufbau einer „stabilen“ Bürgerwehr-ähnlichen Truppe namens Tempus X.Das Feuer für das brennende Grundgesetz lieferten am frühen Abend jenes Tages die Corona Rebellen Düsseldorf (CRD). Am Kaufhof an der Kö, dem arisierten ehemaligen Warenhaus Tietz, verteilten und entzündeten sie in einem Block des Zuges Fackeln, die bis zur Mahn- und Gedenkstätte getragen wurden. Das an historische Fackelumzüge erinnernde Bild rundeten die zahlreichen Schilder und Aufkleber, die auch an der Mahn- und Gedenkstätte hinterlassen wurden, sowie Rufe — wie von Sascha („Master Spitter“) Vossen — ab, mit denen die PL sich als Opfer inszenierten und die Shoah relativierten.Das neue Label APO erlebte so einen peinlichen Start. Die Mitveranstalterin Mona Aranea, Ex-Grüne und dieBasis-Landeslistenzweite zur Landtagswahl, hatte die Umbenennung bei der Auftaktkundgebung verkündet, um den Bruch mit den Querdenken-Gruppen von Michael Schele nach außen sichtbar zu machen. Der vorgeblich neue Wein bleibt jedoch in alten Schläuchen. Anmelder und APO-Chef Ingo Marks war ab Sommer 2020 als „Chef-Ordner“ bei den CRD tätig und hatte ab September 2020 mit und für Schele Querdenken-Versammlungen in Düsseldorf und anderen Städten angemeldet und geleitet. Marks nahm spätestens ab 2018 an Veranstaltungen der extremen Rechten teil. Dazu gehören etwa ein Aufmarsch der Patrioten NRW im Herbst 2018 in Düsseldorf, ein Treffen des Frauenbündnisses Kandel im Sommer 2019 und die „Wir für Deutschland“-Demo am 3. Oktober 2019 in Berlin. Der online als „Ingo Asgard“ agierende Marks und der spätere „Corona Rebell“ und Reichsbürger-Rapper Sascha Vossen dürften einander spätestens seit der Kundgebung am 4. Januar 2020 gegen den WDR in Köln kennen.Obwohl vor diesen als extrem rechts zu identifizierenden Akteur*innen in Düsseldorf seit langem gewarnt wird und ihre antisemitischen, NS-relativierenden, verschwörungsgläubigen, teils rassistischen und LGBTIAQ-feindlichen Positionen in Demos und Telegram-Gruppen nicht zu übersehen sind, zogen am 11. Dezember mehrere Tausend Wutbürger*innen mit ihnen zusammen stundenlang durch die Stadt.VerstetigungBis zum 12. Februar lagen die Teilnehmer*innenzahlen der samstäglichen, von Marks und Aranea veranstalteten Demos zwischen 4.000 und 7.500, bevor sie für den Rest des Monats auf 2.500 bis 3.000 fielen und sich im März bei 1.000 bis 1.500 einpendelten. Die sonntäglichen Autokorsos von Bernd Bruns wurden ebenso fortgesetzt wie (zumindest bis Anfang 2022) kleine Mittwochs-Demos der messianistischen Christ*innen um Johannes Engelhardt. Neu hinzu kamen im März 2022 dienstägliche Versammlungen vor dem Schulministerium und der Staatskanzlei, die von der dieBasis-Landtagskandidatin Songül Schlürscheid aus dem Rheinisch-Bergischen Kreis verantwortet werden. Die bis Mitte Januar 2022 gehaltene Frequenz von durchschnittlich einer Versammlung an jedem zweiten Tag wird nicht mehr erreicht.Die samstäglichen Versammlungen folgen einer festen Choreographie. Die etwa 45-minütige Sammlungs- und Aufstellphase wird zumeist nur mit organisatorischen Durchsagen, Werbeeinblendungen für Versammlungen in umliegenden Städten und etwas Musik beschallt. Inhaltliche Reden sind hier ebenso die Ausnahme wie bei der Abschlussphase. So bleiben etwaige inhaltliche Kontroversen unter dem Tisch. Auch die Aufstellung des Zuges wurde vereinheitlicht. An der Spitze lief vom 15. Januar bis 19. März 2022 der „Pflege“-Block. Die Teilnehmer*innen in diesem Block werden teils auf dem Platz angeworben und mit Wegwerfkitteln und Mützen ausgestattet. Sie tragen ein Frontbanner mit der Aufschrift „Wir arbeiten mit ❤ [rotes Herz] — nicht mit Impfpflicht.“ Dem „Pflege“-Block folgt seit dem 12. Februar ein in einheitlichen Westen auftretender kleinerer „Feuerwehr“-Block, in dem die Berufszugehörigkeit ebensowenig überprüfbar ist. Am 26. März wurde die Aufstellung geändert; das neue Frontbanner droht mit einer „Verdopplung“ der „Demonstrationsanzahl“, wenn bis zum 31. März keine „dauerhaft freie Impfentscheidung“ festgeschrieben wird.Rechts läuft…Der so vorbereitete Boden war für die extreme Rechte fruchtbar und wird weiter bearbeitet. Trotz gegenteiliger Bekundungen und teils öffentlicher Distanzierung durch die APO-Organisator*innen waren durchgängig extreme Rechte von AfD über Burschenschaftler und „Identitäre“ bis zum Bruderschafts- und Hooligan-Milieu bei den samstäglichen Versammlungen präsent. Sie sind auch teils eigenständig aktiv. Am 16. Dezember beispielsweise führte die Lukreta-Initiatorin und JA/AfD-Aktivistin Reinhild Boßdorf aus dem Rhein-Sieg-Kreis eine Kundgebung gegen den vermeintlichen Impfzwang von Kindern am Landtag NRW durch. Unter den etwa 80 Teilnehmer­*innen waren allerlei AfD- und JA-Personal, Burschenschaftler und Neonazis wie Frank Kraemer (Stahlgewitter) aus dem Rhein-Sieg-Kreis. Am 18. Dezember erregte unter den etwa 4.000 Demonstrant*innen ein rund 50-köpfiger Block extrem rechter Akteur*innen Aufmerksamkeit. Er lief hinter einem Banner der Revolte Rheinland (RR, siehe Artikel S. 27 ff.), die nach dem 27. November zum zweiten Mal vor Ort war, schwenkte Deutschland-Fahnen und rief nationalistische Parolen. Das Spektrum der Teilnehmenden glich dem der Lukreta-Kundgebung. Abseits des Blocks waren zahlreiche weitere extrem Rechte, inklusive prominenter AfDler wie die Abgeordneten Guido Reil und Sven Tritschler und lokale AfD-Funktionär*innen wie die Düsseldorfer Kreisvorstandsmitglieder Elmar Salinger und Marco Vogt anzutreffen. Letztere nutzen seit dem 20. Dezember die deutlich kleineren Montags-„Spaziergänge“ durch Reden als Wahlkampf-Plattform, kommen auf den samstäglichen Demos aber nicht zu Wort. Gelbe Papierfähnchen und Luftballons warben für das rechte und verschwörungsideologische Internet-Radio Antenne Frei der Dortmunder AfD-Mitglieder Annette und Wolfgang Seitz. Daneben wehten eine Trump-Flagge sowie mehrere rechts-libertaristische „Gadsden flags“.…aber nicht mehr ganz vorneBereits am 18. Dezember hatte Mona Aranea wohl als Reaktion auf negative Presseberichte den extrem rechten Block unter Führung der RR nach mehreren Ermahnungen von der Spitze des Aufzugs in deren hinteren Teil verbannt, wo AfD-/JA-Fahnen nur eingerollt getragen werden durften. Am 8. Januar — die RR war mit einem „Die Krise heisst Kapitalismus“-Banner erschienen, was für scharfe Kritik aus der AfD sorgte, zumal sich auch JA’ler*innen angeschlossen hatten — wiederholte sich das Prozedere. Marks und Aranea distanzierten sich ihrerseits in einer Stellungnahme von den „Pseudo-Patrioten“.Im Vergleich zum großen Publikum, das die AfD bei den APO-Demonstrationen erreichen kann, lockte die von ihr selbst im Rahmen des bundesweiten Aktionstages „Gesund ohne Zwang“ organisierte Kundgebung vor dem Landtag NRW am 5. März nur etwa 250 Teilnehmer*innen an, darunter viel AfD-NRW-„Prominenz“. In etwa 2,5 Kilometer Entfernung versammelten sich bei der APO rund 2.500 Demonstrant*innen. Die APO-Leitung hatte sich zuvor scharf gegen Instrumentalisierungsversuche der AfD gewandt und ihr angetragen, Abstand zu halten. Trotzdem zogen rund 80 AfD-Aktivist*innen und -Sympathisant*innen zu der APO-Demo weiter. Dieser Disput und die von der AfD am 5. März verteilten roten Pappherzen mit dem Aktionstagsmotto führten am 19. März zum Ausschluss des entsprechend dekorierten inoffiziellen Lautsprecherkleinwagens von Bernd Bruns („Brunsmobil“). Hintergrund der Distanzierungen dürften primär strategische Motive sein. Marks und Aranea möchten negative Berichterstattungen über die APO-Demos verhindern und sich möglichst breit aufstellen. Hinzu dürfte Araneas Engagement für die AfD-Konkurrenzpartei dieBasis kommen. Diese „feindliche“ Haltung stößt vor allem bei den CRD auf heftigen Widerspruch und führte zu einer weiteren Spaltung der in Düsseldorf aktiven PL-Szene. Für den 26. März wurde parallel zur APO-Demo aus den Reihen der CRD, aber nicht unter ihrem Namen, sondern von Sachsen inspiriert als „Freie Bürger“, eine eigene Demo angemeldet. Während die APO bis zu 1.300 Menschen anzog, fanden sich nicht mehr als 80 „Freie Bürger“ ein, darunter auch Mitglieder der JA. Da die APO ein deutlich größeres Forum bietet, das AfD und ihr Umfeld keineswegs aufgeben wollen, wechselten JA-Aktivist*innen mit Deutschland- und JA-Fahnen zwischen beiden Demos.Hurra, hurra, die „echte Antifa“ ist da!Auf der Demo am 5. Februar trat erstmals eine „Echte Antifa“ in Erscheinung — ausgestattet mit zwei Bannern und in der Nähe von Fahnen der Freie Linke laufend. Zu lesen war zwischen dem Logo der „Antifaschistischen Aktion“ und einem schwarz-roten Stern „Echte Antifaschisten laufen hier mit!“ und „Echte Antifa: Gegen Impfzwang, Ausgrenzung & Digitale Kontrolle“. Verlautbarungen von PL, „die echte Antifa“ zu sein, gibt es schon länger. Dabei handelt es sich um einen weiteren Versuch der Umdeutung und Besetzung von Begriffen. So wie die PL sich als Diktatur-Opfer oder Widerstandskämpfer*innen zu definieren versuchen, reklamieren sie für sich, die „echten“ Antifaschist*innen zu sein, die gegen die ihrer Meinung nach faschistische „Corona-Diktatur“ in der BRD kämpfen. Aus dieser Rollenumkehrung ist es aus Sicht mancher PL durchaus legitim, antifaschistischen Gegenprotest anzugreifen.Eine Querfrontbildung ist durch die „echte Antifa“ nicht zu befürchten. Soweit die Akteur*innen identifiziert werden konnten, handelt es sich nicht um organisierte Linke beziehungsweise in nur einem Fall um eine von linken Demonstrationen bekannte Person, die aus der „Friedensbewegung 2.0“ stammt. Der deutliche Teilnehmer*innen-Zuwachs im Dezember 2021 und Januar 2022 ist jedoch zumindest teilweise auf eine sich links-alternativ verstehende Klientel zurückzuführen, die oft in der alternativen Kultur- und Non-Profit-Struktur der Stadt verankert ist. Primär scheint dieses Segment über das Thema Kinder mobilisierbar zu sein, was sie potenziell besonders anfällig macht für kindbezogene Verschwörungsnarrative wie das von QAnon.Gegenprotest und städtisches Handeln„Ich war heute zum ersten Mal in auf der Demo [in Köln] und musste feststellen, dass die Leute außerhalb übelst negativ auf uns reagiert haben […]. Das ist in Düsseldorf anders.“ So die Wahrnehmung eines Demoteilnehmers vom 5. März, der sich offenbar auf den Düsseldorfer PL-Demos sehr wohl und ungestört fühlt. Am 18. Dezember hatte es nach sehr langer Pause einen neuen Anlauf zu organisiertem Gegenprotest gegeben, der mit rund 200 Personen deutlich kleiner ausfiel als die rechte Großveranstaltung der PL. Der Gegenprotest blieb überdies aufgrund polizeilicher Maßnahmen größtenteils unsichtbar und unhörbar. In einigen Stadtteilen entwickelten sich unabhängig kleine Proteste von Anwohner*innen, die entlang der Demoroute ihren Unmut auf Schildern zum Ausdruck brachten. Am 22. Januar wurden der APO-Demo koordiniert rote Karten gezeigt. Für den 5. Februar konnte das lokale und linke „Gegen Rechts“-Bündnis Düsseldorf stellt sich quer, das in der Kritik steht, die politische Gefahr durch die PL seit mehr als zwei Jahren überwiegend zu ignorieren, auch bürgerliche Kräfte für eine Gegendemonstration gewinnen. Diese Kooperation zerbrach bereits nach diesem ersten Gegenprotest. Seitdem ist auch der dezentrale Gegenprotest in den Stadtteilen fast verschwunden, so dass diese organisierte antifaschistische Intervention kritisch reflektiert werden muss. Nur Einzelpersonen sowie sehr kleine Gruppen der Antiverschwurbelten Aktion und Dorf-Antifa protestieren weiterhin.Für den 8. Januar versuchte die Stadt Düsseldorf nach Beschwerden von Anwohner*innen und Gewerbetreibenden halbherzig, dem angewachsenen PL-Treiben Einhalt zu gebieten. Lediglich eine stehende Kundgebung, aber kein Umzug wurde genehmigt. Der Kreisverband der AfD beschuldigte daraufhin die Stadt und den Oberbürgermeister, sie würden „Eskalation befördern“. Ingo Marks als Anmelder klagte gegen die Entscheidung und war wegen eines Verfahrensfehlers erfolgreich.AntisemitismusAntisemitismus ist und bleibt ein konstituierendes Element der verschwörungsgläubigen Bewegung der PL und Impfverweigerer*innen. Woche für Woche liefern sie hierfür Belege, wie beispielsweise das Tragen eines Plakats, das George Soros für einen angeblichen „Great Reset“ verantwortlich macht. Auch bekannte Gesichter der Bewegung wie Michael Schele äußern sich zunehmend offen antisemitisch. Am 20. Dezember relativierte er die Shoah durch die Gleichsetzung von wissenschaftlich fundierten Impf-Aufforderungen mit antisemitischer Propaganda des NS. Am 1. Januar sprach er von einer „gute[n] Endlösung“, zu der die heutigen Corona-Schutzmaßnahmen führen würden. Mindestens zwei Teilnehmer*innen trugen gelbe Armbinden mit der Aufschrift „#ungeimpft“. Am 15. Januar inszenierten sich mehrere Demonstrant*innen mit großen gelben „Judensternen“ als Opfer.Ebenfalls im Kontext der PL-Bewegung muss ein koordinierter, stadtweiter Angriff auf Plakate der Ausstellung „zwangs sterilisiert. Eingriffe in die Menschenwürde in Düsseldorf 1934-1945“ der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf verortet werden. Am 21. März wurden in mehreren Stadtteilen Plakate mit gelben Stickern mit dem Text „zwangs geimpft — wieder aktuell 2022“ beklebt. In der Telegram-Gruppe der CRD hatte „Rex Dildo“ zuvor die Plakate zur Diskussion gestellt. Mehrere CRD lieferten die erhoffte Antwort, dass eine „Zwangsimpfung in dieselbe Richtung“ gehe. Bernd Bruns wurde explizit: „Zwangsspritzen“ würden sich „negativ auf Menstruation mit weiteren Nebenfolgen“ auswirken.Ist die Ukraine das neue Corona?Schon vor der Abnahme der Teilnehmer*innenzahlen Anfang März gab es Anläufe, die Proteste thematisch zu erweitern. Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine rückte das Thema Frieden in den Fokus. Ein Teil der PL kommt aus der „Friedensbewegung 2.0“ beziehungsweise den verschwörungsanhängerischen „Montagsmahnwachen“, so dass das Thema für sie nahe liegt. Andere drücken in den Telegram-Gruppen Vorbehalte gegenüber einer solchen Themenerweiterung aus. Bei der Versammlung am 5. März war ein erweitertes Themensetting aber deutlich zu erkennen. Das reichte von Bekundungen, auf der Seite Russlands zu stehen, bis zu abstrusesten Verschwörungserzählungen, nach denen Pandemieleugner*innen auferlegte Ordnungsgelder an die Ukraine fließen würden und die Maskenpflicht jetzt ausgesetzt worden sei, damit möglichst viele Menschen an staatlich dirigierten Solidaritätsdemos mit der Ukraine teilnehmen könnten. Eine Teilnehmerin verbreitete die Verschwörungserzählung, dass 92.000 Menschen — überwiegend Kinder — aktuell von ukrainischen Nazis ermordet worden seien und Ukrainer*innen daher den Angriff Russlands als Rettung ansähen. Zumindest in den Telegram-Gruppen sind sich fast alle einig: Sie stehen an der Seite Russlands. Dies brachte auf der PL-Demo am 19. März Jürgen Schütte vom Friedensbündnis Mönchengladbach in einer kurzen Rede zum Ausdruck. Lediglich die AfD grüßte bei ihrer Kundgebung am 5. März ihre „Freunde und Freundinnen in der Ukraine“.Es zeigt sich, dass insbesondere für (extrem) rechte Pandemieleugner*innen der Gegenstand der Proteste fast beliebig ist. Sie streben einen Systemsturz an, und der „Tag X“ kann durch einen Virus, einen Krieg oder vielleicht gestiegene Kraftstoffpreise ausgelöst werden. Hierin liegt — neben dem bedenklichen diskursiven Einfluss, die Positionen der Impfverweigerer*innen und PL offenbar auch auf die neue Bundesregierung haben — die Gefahr dieser Bewegung. Sie bietet durch ihre Offenheit nach Rechtsaußen, die lediglich wegen möglicher negativer Außenwirkung begrenzt wird, rechten Kräften ein Feld für Agitation, Wahlkampf, Mobilisierung, Erprobung neuer Aktionsformen und Themen sowie dem Ausbau ihrer Strukturen, selbst wenn die Organisator*innen nicht in allen Fällen Teil der (extremen) Rechten sind. Als Landeshauptstadt ist Düsseldorf dabei von besonderer Bedeutung, doch sind Organisator*innen und Teilnehmende auch in anderen Städten der Region aktiv. Antisemitismus ist durchgängig tragfähig und wird in Form von Holocaust-Relativierungen auch von nicht extrem rechten Akteur*innen verbreitet und damit als scheinbar legitime Haltung zementiert. Braunzone 7745 Tue, 17 May 2022 10:34:13 +0200 LOTTA „Advent, Advent, das Grundgesetz brennt“ Rina Wrona Beim Titel dieses Artikels handelt es sich um eine Parole, die Pandemieleugner*innen (PL) und Impfgegner*innen bei der Querdenken-Demonstration am 4. Dezember in Düsseldorf riefen. Die Teilnehmer*innenzahl von 250 war typisch für den Herbst 2021, nachdem die Beteiligung an den von Ingo Marks (Rhein-Sieg-Kreis) und Mona Aranea (Mönchengladbach) organisierten samstäglichen Versammlungen im Sommer bis in den zweistelligen Bereich gefallen war. Beim ersten „Montags-Spaziergang“ des Düsseldorfer Demo-Anmelders und „Corona Rebellen“ Bernd Bruns kamen am 6. Dezember sogar nur rund ein Dutzend Personen zusammen. Im zumeist niedrigen zweistelligen Bereich hatte sich auch die Anzahl der Fahrzeuge bei seinen sonntäglichen Autokorso-Protestfahrten eingependelt. Doch am Samstag, den 11. Dezember, zogen statt der angemeldeten 300 bis zu 6.000 Personen durch Düsseldorf. In der Innenstadt hatten sich auch etliche Passant*innen spontan angeschlossen. Mit der neuen Rekordzahl lag Düsseldorf im bundesweiten Trend steigender Teilnehmer*innenzahlen, der als Reaktion auf das Gesetz zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht im Gesundheitswesen zu erklären sein dürfte. Das Impfangebot für Kinder zwischen fünf und elf Jahren, das von Impfgegner*innen als „Impfpflicht für Kinder“ misskommuniziert wird, dürfte ein weiterer Anstoß gewesen sein.Gemeinsam mit 70 Abgeordneten aus AfD (63), CDU/CSU (5), FDP (1) und Die Linke (1) stimmte der fraktionslose AfDler Matthias Helferich (siehe Artikel auf S. 22 f.) gegen das Gesetz. Er hatte bereits am 4. Dezember gemeinsam mit Führungskadern der JA NRW an der Düsseldorfer Demo teilgenommen. Im Rückblick kann dies als ein Vorzeichen für das seitdem wachsende Engagement der AfD bei den Protesten gesehen werden. Zwar hatte der Düsseldorfer AfD-OB-Kandidat Florian Hoffmann bis zu den Kommunalwahlen im Herbst 2020 eine aktive Rolle bei den Düsseldorfer PL gespielt, wie vereinzelt auch weitere AfDler*innen an den Aktionen teilnahmen und in den Telegram-Gruppen deutliche Wahlpräferenz für die AfD bei der Kommunalwahl 2020 und der Bundestagswahl 2021 ausgedrückt wurde. Ein nachhaltiges und prägendes AfD-Engagement war jedoch nicht festzustellen. Angesichts des breiten Zustroms von Protestierenden und der im Mai 2022 anstehenden Landtagswahl änderte sich dies.CRD marschieren mit FackelnDie AfD witterte mit der Gesetzesverabschiedung eine Chance, Wutbürger*innen hinter sich zu versammeln. Am 11. Dezember marschierten neben Helferich Guido Reil (AfD-MdEP) und Iris Dworeck-Danielowski (AfD-MdL NRW) ebenso mit wie JA-NRW-Funktionsträger*innen, lokales AfD-Personal, extrem rechte Burschenschaftler, die mehrfach verurteilte Holocaust-Leugnerin Birgit Hutter, einige Member und Supporter der Bruderschaft Deutschland sowie andere Neonazis, Reichsbürger*innen, „Identitäre“ sowie aufstrebende Akteure von Rechtsaußen wie German de Pinedo Fernandez aus Essen. Der „Santos“ genannte Ex-„Präses“ des BVB-Fanclubs Tremonia Bullfrogs wirbt bei PL- und AfD-Kundgebungen für den Aufbau einer „stabilen“ Bürgerwehr-ähnlichen Truppe namens Tempus X.Das Feuer für das brennende Grundgesetz lieferten am frühen Abend jenes Tages die Corona Rebellen Düsseldorf (CRD). Am Kaufhof an der Kö, dem arisierten ehemaligen Warenhaus Tietz, verteilten und entzündeten sie in einem Block des Zuges Fackeln, die bis zur Mahn- und Gedenkstätte getragen wurden. Das an historische Fackelumzüge erinnernde Bild rundeten die zahlreichen Schilder und Aufkleber, die auch an der Mahn- und Gedenkstätte hinterlassen wurden, sowie Rufe — wie von Sascha („Master Spitter“) Vossen — ab, mit denen die PL sich als Opfer inszenierten und die Shoah relativierten.Das neue Label APO erlebte so einen peinlichen Start. Die Mitveranstalterin Mona Aranea, Ex-Grüne und dieBasis-Landeslistenzweite zur Landtagswahl, hatte die Umbenennung bei der Auftaktkundgebung verkündet, um den Bruch mit den Querdenken-Gruppen von Michael Schele nach außen sichtbar zu machen. Der vorgeblich neue Wein bleibt jedoch in alten Schläuchen. Anmelder und APO-Chef Ingo Marks war ab Sommer 2020 als „Chef-Ordner“ bei den CRD tätig und hatte ab September 2020 mit und für Schele Querdenken-Versammlungen in Düsseldorf und anderen Städten angemeldet und geleitet. Marks nahm spätestens ab 2018 an Veranstaltungen der extremen Rechten teil. Dazu gehören etwa ein Aufmarsch der Patrioten NRW im Herbst 2018 in Düsseldorf, ein Treffen des Frauenbündnisses Kandel im Sommer 2019 und die „Wir für Deutschland“-Demo am 3. Oktober 2019 in Berlin. Der online als „Ingo Asgard“ agierende Marks und der spätere „Corona Rebell“ und Reichsbürger-Rapper Sascha Vossen dürften einander spätestens seit der Kundgebung am 4. Januar 2020 gegen den WDR in Köln kennen.Obwohl vor diesen als extrem rechts zu identifizierenden Akteur*innen in Düsseldorf seit langem gewarnt wird und ihre antisemitischen, NS-relativierenden, verschwörungsgläubigen, teils rassistischen und LGBTIAQ-feindlichen Positionen in Demos und Telegram-Gruppen nicht zu übersehen sind, zogen am 11. Dezember mehrere Tausend Wutbürger*innen mit ihnen zusammen stundenlang durch die Stadt.VerstetigungBis zum 12. Februar lagen die Teilnehmer*innenzahlen der samstäglichen, von Marks und Aranea veranstalteten Demos zwischen 4.000 und 7.500, bevor sie für den Rest des Monats auf 2.500 bis 3.000 fielen und sich im März bei 1.000 bis 1.500 einpendelten. Die sonntäglichen Autokorsos von Bernd Bruns wurden ebenso fortgesetzt wie (zumindest bis Anfang 2022) kleine Mittwochs-Demos der messianistischen Christ*innen um Johannes Engelhardt. Neu hinzu kamen im März 2022 dienstägliche Versammlungen vor dem Schulministerium und der Staatskanzlei, die von der dieBasis-Landtagskandidatin Songül Schlürscheid aus dem Rheinisch-Bergischen Kreis verantwortet werden. Die bis Mitte Januar 2022 gehaltene Frequenz von durchschnittlich einer Versammlung an jedem zweiten Tag wird nicht mehr erreicht.Die samstäglichen Versammlungen folgen einer festen Choreographie. Die etwa 45-minütige Sammlungs- und Aufstellphase wird zumeist nur mit organisatorischen Durchsagen, Werbeeinblendungen für Versammlungen in umliegenden Städten und etwas Musik beschallt. Inhaltliche Reden sind hier ebenso die Ausnahme wie bei der Abschlussphase. So bleiben etwaige inhaltliche Kontroversen unter dem Tisch. Auch die Aufstellung des Zuges wurde vereinheitlicht. An der Spitze lief vom 15. Januar bis 19. März 2022 der „Pflege“-Block. Die Teilnehmer*innen in diesem Block werden teils auf dem Platz angeworben und mit Wegwerfkitteln und Mützen ausgestattet. Sie tragen ein Frontbanner mit der Aufschrift „Wir arbeiten mit ❤ [rotes Herz] — nicht mit Impfpflicht.“ Dem „Pflege“-Block folgt seit dem 12. Februar ein in einheitlichen Westen auftretender kleinerer „Feuerwehr“-Block, in dem die Berufszugehörigkeit ebensowenig überprüfbar ist. Am 26. März wurde die Aufstellung geändert; das neue Frontbanner droht mit einer „Verdopplung“ der „Demonstrationsanzahl“, wenn bis zum 31. März keine „dauerhaft freie Impfentscheidung“ festgeschrieben wird.Rechts läuft…Der so vorbereitete Boden war für die extreme Rechte fruchtbar und wird weiter bearbeitet. Trotz gegenteiliger Bekundungen und teils öffentlicher Distanzierung durch die APO-Organisator*innen waren durchgängig extreme Rechte von AfD über Burschenschaftler und „Identitäre“ bis zum Bruderschafts- und Hooligan-Milieu bei den samstäglichen Versammlungen präsent. Sie sind auch teils eigenständig aktiv. Am 16. Dezember beispielsweise führte die Lukreta-Initiatorin und JA/AfD-Aktivistin Reinhild Boßdorf aus dem Rhein-Sieg-Kreis eine Kundgebung gegen den vermeintlichen Impfzwang von Kindern am Landtag NRW durch. Unter den etwa 80 Teilnehmer­*innen waren allerlei AfD- und JA-Personal, Burschenschaftler und Neonazis wie Frank Kraemer (Stahlgewitter) aus dem Rhein-Sieg-Kreis. Am 18. Dezember erregte unter den etwa 4.000 Demonstrant*innen ein rund 50-köpfiger Block extrem rechter Akteur*innen Aufmerksamkeit. Er lief hinter einem Banner der Revolte Rheinland (RR, siehe Artikel S. 27 ff.), die nach dem 27. November zum zweiten Mal vor Ort war, schwenkte Deutschland-Fahnen und rief nationalistische Parolen. Das Spektrum der Teilnehmenden glich dem der Lukreta-Kundgebung. Abseits des Blocks waren zahlreiche weitere extrem Rechte, inklusive prominenter AfDler wie die Abgeordneten Guido Reil und Sven Tritschler und lokale AfD-Funktionär*innen wie die Düsseldorfer Kreisvorstandsmitglieder Elmar Salinger und Marco Vogt anzutreffen. Letztere nutzen seit dem 20. Dezember die deutlich kleineren Montags-„Spaziergänge“ durch Reden als Wahlkampf-Plattform, kommen auf den samstäglichen Demos aber nicht zu Wort. Gelbe Papierfähnchen und Luftballons warben für das rechte und verschwörungsideologische Internet-Radio Antenne Frei der Dortmunder AfD-Mitglieder Annette und Wolfgang Seitz. Daneben wehten eine Trump-Flagge sowie mehrere rechts-libertaristische „Gadsden flags“.…aber nicht mehr ganz vorneBereits am 18. Dezember hatte Mona Aranea wohl als Reaktion auf negative Presseberichte den extrem rechten Block unter Führung der RR nach mehreren Ermahnungen von der Spitze des Aufzugs in deren hinteren Teil verbannt, wo AfD-/JA-Fahnen nur eingerollt getragen werden durften. Am 8. Januar — die RR war mit einem „Die Krise heisst Kapitalismus“-Banner erschienen, was für scharfe Kritik aus der AfD sorgte, zumal sich auch JA’ler*innen angeschlossen hatten — wiederholte sich das Prozedere. Marks und Aranea distanzierten sich ihrerseits in einer Stellungnahme von den „Pseudo-Patrioten“.Im Vergleich zum großen Publikum, das die AfD bei den APO-Demonstrationen erreichen kann, lockte die von ihr selbst im Rahmen des bundesweiten Aktionstages „Gesund ohne Zwang“ organisierte Kundgebung vor dem Landtag NRW am 5. März nur etwa 250 Teilnehmer*innen an, darunter viel AfD-NRW-„Prominenz“. In etwa 2,5 Kilometer Entfernung versammelten sich bei der APO rund 2.500 Demonstrant*innen. Die APO-Leitung hatte sich zuvor scharf gegen Instrumentalisierungsversuche der AfD gewandt und ihr angetragen, Abstand zu halten. Trotzdem zogen rund 80 AfD-Aktivist*innen und -Sympathisant*innen zu der APO-Demo weiter. Dieser Disput und die von der AfD am 5. März verteilten roten Pappherzen mit dem Aktionstagsmotto führten am 19. März zum Ausschluss des entsprechend dekorierten inoffiziellen Lautsprecherkleinwagens von Bernd Bruns („Brunsmobil“). Hintergrund der Distanzierungen dürften primär strategische Motive sein. Marks und Aranea möchten negative Berichterstattungen über die APO-Demos verhindern und sich möglichst breit aufstellen. Hinzu dürfte Araneas Engagement für die AfD-Konkurrenzpartei dieBasis kommen. Diese „feindliche“ Haltung stößt vor allem bei den CRD auf heftigen Widerspruch und führte zu einer weiteren Spaltung der in Düsseldorf aktiven PL-Szene. Für den 26. März wurde parallel zur APO-Demo aus den Reihen der CRD, aber nicht unter ihrem Namen, sondern von Sachsen inspiriert als „Freie Bürger“, eine eigene Demo angemeldet. Während die APO bis zu 1.300 Menschen anzog, fanden sich nicht mehr als 80 „Freie Bürger“ ein, darunter auch Mitglieder der JA. Da die APO ein deutlich größeres Forum bietet, das AfD und ihr Umfeld keineswegs aufgeben wollen, wechselten JA-Aktivist*innen mit Deutschland- und JA-Fahnen zwischen beiden Demos.Hurra, hurra, die „echte Antifa“ ist da!Auf der Demo am 5. Februar trat erstmals eine „Echte Antifa“ in Erscheinung — ausgestattet mit zwei Bannern und in der Nähe von Fahnen der Freie Linke laufend. Zu lesen war zwischen dem Logo der „Antifaschistischen Aktion“ und einem schwarz-roten Stern „Echte Antifaschisten laufen hier mit!“ und „Echte Antifa: Gegen Impfzwang, Ausgrenzung & Digitale Kontrolle“. Verlautbarungen von PL, „die echte Antifa“ zu sein, gibt es schon länger. Dabei handelt es sich um einen weiteren Versuch der Umdeutung und Besetzung von Begriffen. So wie die PL sich als Diktatur-Opfer oder Widerstandskämpfer*innen zu definieren versuchen, reklamieren sie für sich, die „echten“ Antifaschist*innen zu sein, die gegen die ihrer Meinung nach faschistische „Corona-Diktatur“ in der BRD kämpfen. Aus dieser Rollenumkehrung ist es aus Sicht mancher PL durchaus legitim, antifaschistischen Gegenprotest anzugreifen.Eine Querfrontbildung ist durch die „echte Antifa“ nicht zu befürchten. Soweit die Akteur*innen identifiziert werden konnten, handelt es sich nicht um organisierte Linke beziehungsweise in nur einem Fall um eine von linken Demonstrationen bekannte Person, die aus der „Friedensbewegung 2.0“ stammt. Der deutliche Teilnehmer*innen-Zuwachs im Dezember 2021 und Januar 2022 ist jedoch zumindest teilweise auf eine sich links-alternativ verstehende Klientel zurückzuführen, die oft in der alternativen Kultur- und Non-Profit-Struktur der Stadt verankert ist. Primär scheint dieses Segment über das Thema Kinder mobilisierbar zu sein, was sie potenziell besonders anfällig macht für kindbezogene Verschwörungsnarrative wie das von QAnon.Gegenprotest und städtisches Handeln„Ich war heute zum ersten Mal in auf der Demo [in Köln] und musste feststellen, dass die Leute außerhalb übelst negativ auf uns reagiert haben […]. Das ist in Düsseldorf anders.“ So die Wahrnehmung eines Demoteilnehmers vom 5. März, der sich offenbar auf den Düsseldorfer PL-Demos sehr wohl und ungestört fühlt. Am 18. Dezember hatte es nach sehr langer Pause einen neuen Anlauf zu organisiertem Gegenprotest gegeben, der mit rund 200 Personen deutlich kleiner ausfiel als die rechte Großveranstaltung der PL. Der Gegenprotest blieb überdies aufgrund polizeilicher Maßnahmen größtenteils unsichtbar und unhörbar. In einigen Stadtteilen entwickelten sich unabhängig kleine Proteste von Anwohner*innen, die entlang der Demoroute ihren Unmut auf Schildern zum Ausdruck brachten. Am 22. Januar wurden der APO-Demo koordiniert rote Karten gezeigt. Für den 5. Februar konnte das lokale und linke „Gegen Rechts“-Bündnis Düsseldorf stellt sich quer, das in der Kritik steht, die politische Gefahr durch die PL seit mehr als zwei Jahren überwiegend zu ignorieren, auch bürgerliche Kräfte für eine Gegendemonstration gewinnen. Diese Kooperation zerbrach bereits nach diesem ersten Gegenprotest. Seitdem ist auch der dezentrale Gegenprotest in den Stadtteilen fast verschwunden, so dass diese organisierte antifaschistische Intervention kritisch reflektiert werden muss. Nur Einzelpersonen sowie sehr kleine Gruppen der Antiverschwurbelten Aktion und Dorf-Antifa protestieren weiterhin.Für den 8. Januar versuchte die Stadt Düsseldorf nach Beschwerden von Anwohner*innen und Gewerbetreibenden halbherzig, dem angewachsenen PL-Treiben Einhalt zu gebieten. Lediglich eine stehende Kundgebung, aber kein Umzug wurde genehmigt. Der Kreisverband der AfD beschuldigte daraufhin die Stadt und den Oberbürgermeister, sie würden „Eskalation befördern“. Ingo Marks als Anmelder klagte gegen die Entscheidung und war wegen eines Verfahrensfehlers erfolgreich.AntisemitismusAntisemitismus ist und bleibt ein konstituierendes Element der verschwörungsgläubigen Bewegung der PL und Impfverweigerer*innen. Woche für Woche liefern sie hierfür Belege, wie beispielsweise das Tragen eines Plakats, das George Soros für einen angeblichen „Great Reset“ verantwortlich macht. Auch bekannte Gesichter der Bewegung wie Michael Schele äußern sich zunehmend offen antisemitisch. Am 20. Dezember relativierte er die Shoah durch die Gleichsetzung von wissenschaftlich fundierten Impf-Aufforderungen mit antisemitischer Propaganda des NS. Am 1. Januar sprach er von einer „gute[n] Endlösung“, zu der die heutigen Corona-Schutzmaßnahmen führen würden. Mindestens zwei Teilnehmer*innen trugen gelbe Armbinden mit der Aufschrift „#ungeimpft“. Am 15. Januar inszenierten sich mehrere Demonstrant*innen mit großen gelben „Judensternen“ als Opfer.Ebenfalls im Kontext der PL-Bewegung muss ein koordinierter, stadtweiter Angriff auf Plakate der Ausstellung „zwangs sterilisiert. Eingriffe in die Menschenwürde in Düsseldorf 1934-1945“ der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf verortet werden. Am 21. März wurden in mehreren Stadtteilen Plakate mit gelben Stickern mit dem Text „zwangs geimpft — wieder aktuell 2022“ beklebt. In der Telegram-Gruppe der CRD hatte „Rex Dildo“ zuvor die Plakate zur Diskussion gestellt. Mehrere CRD lieferten die erhoffte Antwort, dass eine „Zwangsimpfung in dieselbe Richtung“ gehe. Bernd Bruns wurde explizit: „Zwangsspritzen“ würden sich „negativ auf Menstruation mit weiteren Nebenfolgen“ auswirken.Ist die Ukraine das neue Corona?Schon vor der Abnahme der Teilnehmer*innenzahlen Anfang März gab es Anläufe, die Proteste thematisch zu erweitern. Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine rückte das Thema Frieden in den Fokus. Ein Teil der PL kommt aus der „Friedensbewegung 2.0“ beziehungsweise den verschwörungsanhängerischen „Montagsmahnwachen“, so dass das Thema für sie nahe liegt. Andere drücken in den Telegram-Gruppen Vorbehalte gegenüber einer solchen Themenerweiterung aus. Bei der Versammlung am 5. März war ein erweitertes Themensetting aber deutlich zu erkennen. Das reichte von Bekundungen, auf der Seite Russlands zu stehen, bis zu abstrusesten Verschwörungserzählungen, nach denen Pandemieleugner*innen auferlegte Ordnungsgelder an die Ukraine fließen würden und die Maskenpflicht jetzt ausgesetzt worden sei, damit möglichst viele Menschen an staatlich dirigierten Solidaritätsdemos mit der Ukraine teilnehmen könnten. Eine Teilnehmerin verbreitete die Verschwörungserzählung, dass 92.000 Menschen — überwiegend Kinder — aktuell von ukrainischen Nazis ermordet worden seien und Ukrainer*innen daher den Angriff Russlands als Rettung ansähen. Zumindest in den Telegram-Gruppen sind sich fast alle einig: Sie stehen an der Seite Russlands. Dies brachte auf der PL-Demo am 19. März Jürgen Schütte vom Friedensbündnis Mönchengladbach in einer kurzen Rede zum Ausdruck. Lediglich die AfD grüßte bei ihrer Kundgebung am 5. März ihre „Freunde und Freundinnen in der Ukraine“.Es zeigt sich, dass insbesondere für (extrem) rechte Pandemieleugner*innen der Gegenstand der Proteste fast beliebig ist. Sie streben einen Systemsturz an, und der „Tag X“ kann durch einen Virus, einen Krieg oder vielleicht gestiegene Kraftstoffpreise ausgelöst werden. Hierin liegt — neben dem bedenklichen diskursiven Einfluss, die Positionen der Impfverweigerer*innen und PL offenbar auch auf die neue Bundesregierung haben — die Gefahr dieser Bewegung. Sie bietet durch ihre Offenheit nach Rechtsaußen, die lediglich wegen möglicher negativer Außenwirkung begrenzt wird, rechten Kräften ein Feld für Agitation, Wahlkampf, Mobilisierung, Erprobung neuer Aktionsformen und Themen sowie dem Ausbau ihrer Strukturen, selbst wenn die Organisator*innen nicht in allen Fällen Teil der (extremen) Rechten sind. Als Landeshauptstadt ist Düsseldorf dabei von besonderer Bedeutung, doch sind Organisator*innen und Teilnehmende auch in anderen Städten der Region aktiv. Antisemitismus ist durchgängig tragfähig und wird in Form von Holocaust-Relativierungen auch von nicht extrem rechten Akteur*innen verbreitet und damit als scheinbar legitime Haltung zementiert. 2022-05-17T10:34:13+02:00 Polit-Netzwerk der Crash-Propheten | Die rechtslibertäre „Atlas Initiative“ aus Frankfurt https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/86/polit-netzwerk-der-crash-propheten Die „Atlas Initiative“ strebt eine Gesellschaft an, in der eine absolut freie Marktwirtschaft ohne sozialen Ausgleich herrscht. Sie möchte die „traditionelle Kernfamilie“ stärken, richtet sich gegen „illegale Einwanderung“ und fordert „Meinungsfreiheit statt politischer Korrektheit“. Der Aufbau bundesweiter Strukturen soll helfen, ihre Vorstellungen durchsetzen.Die Atlas Initiative (AI) wurde 2019 in Frankfurt gegründet. Sie entspringt dem Wirtschafts- und Lobbynetzwerk um den im November 2021 verstorbenen Milliardär und rechten Geldgeber August von Finck Jr. Ihr Initiator und Vorsitzender ist Markus Krall, der als Geschäftsführer der Degussa Sonne/Mond Goldhandel GmbH und des dazugehörigen Museums Goldkammer in Frankfurt für Fincks Unternehmensgruppe tätig ist. (vgl. LOTTA #79, S. 44—46)Der Name der Initiative bezieht sich auf den Roman „Atlas Shrugged“ (1957) der US-amerikanischen Philosophin Ayn Rand, welches zu einem Kultbuch des Rechtslibertarismus avancierte. Darin entwickelt sie die Theorie des „Objektivismus“, in der individueller Egoismus zur höchsten Tugend erhoben wird, die sich nur in einem absolut freien Markt entfalten könne. Jegliche staatliche Maßnahmen zur Regulierung der Wirtschaft und Umverteilung werden abgelehnt. Markus Krall vertritt ähnliche Postionen wie Rand. So brandmarkt er jegliche sozialstaatliche Maßnahmen als „sozialistisch“ und fordert, dass allen, die staatliche Gelder wie Bafög oder Sozialhilfe in Anspruch nehmen, das Wahlrecht entzogen wird. In seinem Bestseller „Die Bürgerliche Revolution“ (2020) spricht er von einer Indoktrination durch „Einheitsmedien“ und bevorstehenden „epochalen Wirtschaftskrisen“, die zu einer „kommunistischen Revolution“ von „Islamisten“ und „Antifa“ führen würden. Dagegen müssten sich wohlhabende BürgerInnen notfalls mit Gewalt wehren, also sich an die Macht putschen. Entsprechend ist die „Verteidigung des Rechts auf Privateigentum“ eine zentrale Forderung der AI.Als „Crash-Prophet“, der stets den bevorstehenden Zusammenbruch von Wirtschaft und Staat beschwört, erkannte Krall auch in der Covid19-Pandemie eine Chance zur Agitation. „Ich kann dazu nur aufrufen, dass sich jeder Beamte fragt, ob er Befehle, die er bekommt, so befolgen kann“, so Krall im Juli 2020 in einem Vorstellungsvideo seiner Atlas Initiative in Bezug auf Polizeimaßnahmen bei verschwörungsideologischen Corona-Demonstrationen.Die StrukturIm aktuellen Vorstand der AI sitzt neben Markus Krall noch Hanns-Christian Salger, ein Rechtsanwalt der Kanzlei Bremenkamp Salger und Honorarprofessor an der Uni Frankfurt. 2014 trat er nach der Amtsenthebung des Landesschatzmeisters Peter Ziemann und des Landesvorsitzenden Volker Bartz unter dem ehemaligen Bundesvorsitzenden Bernd Lucke als Vorstandssprecher der AfD Frankfurt zurück. Ziemann hatte Migrant*innen als „Ungeziefer“ bezeichnet, Bartz hatte ihn verteidigt und sich fälschlicherweise als „Prof. Dr.“ ausgegeben. 2020 referierte Salger bei der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung zu Asylrecht. Wegen seinem Engagement für die Atlas Initiative hatte der AStA der Uni Frankfurt im September 2021 seine Entlassung gefordert, doch der Fachbereich Rechtswissenschaften und das Uni-Präsidium stellten sich hinter Salger.Der Vorstand wird komplettiert durch Benjamin Mudlack und Juliane Ried sowie den Geschäftsführer Markus Ross, Autor der rechten Frankfurter Zeitschrift Tichy’s Einblick von Roland Tichy. Ried ist CSU-Mitglied und Vorsitzende des parteinahen Vereins Konservativer Aufbruch, der eine rechte Erneuerung der Partei anstrebt. Mudlack ist Autor des Lichtschlag Verlags von André Lichtschlag, dem Herausgeber der rechten Zeitschrift eigentümlich frei.Auffällig ist die patriarchale Organisationsweise im Rechtslibertarismus, wo Führungsaufgaben fast ausschließlich von Männern übernommen werden. Auch Juliane Ried betont auf der AI-Webseite, dass sie sich trotz Studium zunächst um die Kindererziehung gekümmert habe, bevor sie anfing, im Büro ihres Mannes zu arbeiten.Derzeit arbeitet die AI am Aufbau regionaler Strukturen im gesamten Bundesgebiet, wozu eine Unterteilung in 99 Sektionen vorgenommen wurde. Bislang sind aber nur 20 Sektionen mit örtlichen Verantwortlichen aktiv. Schwerpunkt ist Nordrhein-Westfalen mit den „Sektionsleitern“ Laslo Hunhold (Siegen/ Hagen/ Hamm/ Köln/ Aachen/ Bonn), Markus Hartmann (Düsseldorf/ Dortmund/ Mönchengladbach) und André Schiemann (Essen/ Gelsenkirchen). Den Sektionen Oldenburg und Wilhelmshaven stand der Ende März verstorbene Enno Samp vor, Pressesprecher der AfD-Delegation im Europaparlament und Gründer des Oldenburger Ablegers der rechtslibertären Friedrich A. von Hayek Gesellschaft (FHG). Krall ist bei der FHG im gesamten Bundesgebiet ein gern gesehener Gast. Seit 2017 übersetzte und vertrieb Samp die Kinderbuchreihe „Tuttle-Zwillinge“ des US-amerikanischen Politikberaters Connor Boyack, die Kinder gegen „political correctness” immunisieren und die Vorzüge eines ungezügelten Kapitalismus aufzeigen soll. Weitere Sektionsleiter sind Thomas Bach (Kiel), Franz Hofstetter (Rosenheim), Martin Macke (Würzburg/ Schweinfurt) und Daniel Bornholdt (Bremen/ Hamburg/ Celle).MedienZur Bundestags- und Europawahl wird seit 2017 Denk-Mal über den vom ehemaligen FDP-Politiker Fritz Goergen geführten Polus Verlag herausgegeben. Goergen schreibt zudem für Tichy’s Einblick. Bei Denk-Mal handelt es sich im Wesentlichen um eine Zusammenstellung von Links zu rechten Medienberichten. Sie sollen eine liberale Demokratie am Abgrund vermitteln, in der man sich selbst schützen müsse: durch den Kauf von Sachwerten wie Gold zur „Vermögenssicherung“ und die Schaffung einer neuen Regierungsordnung. Redigiert wurde es auch vom Frankfurter Galeristen Thomas Punzmann. Der Rundbrief Adpunktum, ebenfalls eine Zusammenstellung überwiegend rechter Medienberichte zu Politik und Wirtschaft, erscheint regelmäßig.Seit den „Lockdowns“ im April 2020 betreibt die AI ihren eigenen YouTube-Kanal, über den Propagandavideos, auch mit Bezug zur Covid19-Pandemie, geteilt werden, vornehmlich um ein „Gegengewicht zu den Mainstream-Medien“ zu bieten. Der Kanal verfügt mittlerweile über 40.000 Abonnent*innen.Unbeachteter gesellschaftlicher EinflussWie weit rechtslibertäre Vernetzung und Einfluss reichen, zeigt sich am Beispiel der Wallstreet Online AG (WO), welche den Online-Broker Smartbroker betreibt. Auf der Nachrichtenseite von WO werben Salger und Ross für die AI durch Meinungsbeiträge, in denen von straffreien „islamistischen Vergewaltigern“ und Angela Merkel als „(National-)Sozialistin“ schwadroniert wird. Smartbroker gab 2020 das rechte Finanzmagazin Smart Investor von Ralf Flierl kostenlos an Anleger*innen heraus. Hier kommen „Crash-Propheten“ wie Max Otte (Bundespräsidentschaftskandidat der AfD) oder Thorsten Schulte (vgl. LOTTA #71, S. 45 ff.) zu Wort. So können Rechtslibertäre neue Anhänger*innen gewinnen und ihren gesellschaftlichen Einfluss ausbauen. Braunzone 7744 Tue, 17 May 2022 10:30:54 +0200 LOTTA Polit-Netzwerk der Crash-Propheten Carl Kinsky Die „Atlas Initiative“ strebt eine Gesellschaft an, in der eine absolut freie Marktwirtschaft ohne sozialen Ausgleich herrscht. Sie möchte die „traditionelle Kernfamilie“ stärken, richtet sich gegen „illegale Einwanderung“ und fordert „Meinungsfreiheit statt politischer Korrektheit“. Der Aufbau bundesweiter Strukturen soll helfen, ihre Vorstellungen durchsetzen.Die Atlas Initiative (AI) wurde 2019 in Frankfurt gegründet. Sie entspringt dem Wirtschafts- und Lobbynetzwerk um den im November 2021 verstorbenen Milliardär und rechten Geldgeber August von Finck Jr. Ihr Initiator und Vorsitzender ist Markus Krall, der als Geschäftsführer der Degussa Sonne/Mond Goldhandel GmbH und des dazugehörigen Museums Goldkammer in Frankfurt für Fincks Unternehmensgruppe tätig ist. (vgl. LOTTA #79, S. 44—46)Der Name der Initiative bezieht sich auf den Roman „Atlas Shrugged“ (1957) der US-amerikanischen Philosophin Ayn Rand, welches zu einem Kultbuch des Rechtslibertarismus avancierte. Darin entwickelt sie die Theorie des „Objektivismus“, in der individueller Egoismus zur höchsten Tugend erhoben wird, die sich nur in einem absolut freien Markt entfalten könne. Jegliche staatliche Maßnahmen zur Regulierung der Wirtschaft und Umverteilung werden abgelehnt. Markus Krall vertritt ähnliche Postionen wie Rand. So brandmarkt er jegliche sozialstaatliche Maßnahmen als „sozialistisch“ und fordert, dass allen, die staatliche Gelder wie Bafög oder Sozialhilfe in Anspruch nehmen, das Wahlrecht entzogen wird. In seinem Bestseller „Die Bürgerliche Revolution“ (2020) spricht er von einer Indoktrination durch „Einheitsmedien“ und bevorstehenden „epochalen Wirtschaftskrisen“, die zu einer „kommunistischen Revolution“ von „Islamisten“ und „Antifa“ führen würden. Dagegen müssten sich wohlhabende BürgerInnen notfalls mit Gewalt wehren, also sich an die Macht putschen. Entsprechend ist die „Verteidigung des Rechts auf Privateigentum“ eine zentrale Forderung der AI.Als „Crash-Prophet“, der stets den bevorstehenden Zusammenbruch von Wirtschaft und Staat beschwört, erkannte Krall auch in der Covid19-Pandemie eine Chance zur Agitation. „Ich kann dazu nur aufrufen, dass sich jeder Beamte fragt, ob er Befehle, die er bekommt, so befolgen kann“, so Krall im Juli 2020 in einem Vorstellungsvideo seiner Atlas Initiative in Bezug auf Polizeimaßnahmen bei verschwörungsideologischen Corona-Demonstrationen.Die StrukturIm aktuellen Vorstand der AI sitzt neben Markus Krall noch Hanns-Christian Salger, ein Rechtsanwalt der Kanzlei Bremenkamp Salger und Honorarprofessor an der Uni Frankfurt. 2014 trat er nach der Amtsenthebung des Landesschatzmeisters Peter Ziemann und des Landesvorsitzenden Volker Bartz unter dem ehemaligen Bundesvorsitzenden Bernd Lucke als Vorstandssprecher der AfD Frankfurt zurück. Ziemann hatte Migrant*innen als „Ungeziefer“ bezeichnet, Bartz hatte ihn verteidigt und sich fälschlicherweise als „Prof. Dr.“ ausgegeben. 2020 referierte Salger bei der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung zu Asylrecht. Wegen seinem Engagement für die Atlas Initiative hatte der AStA der Uni Frankfurt im September 2021 seine Entlassung gefordert, doch der Fachbereich Rechtswissenschaften und das Uni-Präsidium stellten sich hinter Salger.Der Vorstand wird komplettiert durch Benjamin Mudlack und Juliane Ried sowie den Geschäftsführer Markus Ross, Autor der rechten Frankfurter Zeitschrift Tichy’s Einblick von Roland Tichy. Ried ist CSU-Mitglied und Vorsitzende des parteinahen Vereins Konservativer Aufbruch, der eine rechte Erneuerung der Partei anstrebt. Mudlack ist Autor des Lichtschlag Verlags von André Lichtschlag, dem Herausgeber der rechten Zeitschrift eigentümlich frei.Auffällig ist die patriarchale Organisationsweise im Rechtslibertarismus, wo Führungsaufgaben fast ausschließlich von Männern übernommen werden. Auch Juliane Ried betont auf der AI-Webseite, dass sie sich trotz Studium zunächst um die Kindererziehung gekümmert habe, bevor sie anfing, im Büro ihres Mannes zu arbeiten.Derzeit arbeitet die AI am Aufbau regionaler Strukturen im gesamten Bundesgebiet, wozu eine Unterteilung in 99 Sektionen vorgenommen wurde. Bislang sind aber nur 20 Sektionen mit örtlichen Verantwortlichen aktiv. Schwerpunkt ist Nordrhein-Westfalen mit den „Sektionsleitern“ Laslo Hunhold (Siegen/ Hagen/ Hamm/ Köln/ Aachen/ Bonn), Markus Hartmann (Düsseldorf/ Dortmund/ Mönchengladbach) und André Schiemann (Essen/ Gelsenkirchen). Den Sektionen Oldenburg und Wilhelmshaven stand der Ende März verstorbene Enno Samp vor, Pressesprecher der AfD-Delegation im Europaparlament und Gründer des Oldenburger Ablegers der rechtslibertären Friedrich A. von Hayek Gesellschaft (FHG). Krall ist bei der FHG im gesamten Bundesgebiet ein gern gesehener Gast. Seit 2017 übersetzte und vertrieb Samp die Kinderbuchreihe „Tuttle-Zwillinge“ des US-amerikanischen Politikberaters Connor Boyack, die Kinder gegen „political correctness” immunisieren und die Vorzüge eines ungezügelten Kapitalismus aufzeigen soll. Weitere Sektionsleiter sind Thomas Bach (Kiel), Franz Hofstetter (Rosenheim), Martin Macke (Würzburg/ Schweinfurt) und Daniel Bornholdt (Bremen/ Hamburg/ Celle).MedienZur Bundestags- und Europawahl wird seit 2017 Denk-Mal über den vom ehemaligen FDP-Politiker Fritz Goergen geführten Polus Verlag herausgegeben. Goergen schreibt zudem für Tichy’s Einblick. Bei Denk-Mal handelt es sich im Wesentlichen um eine Zusammenstellung von Links zu rechten Medienberichten. Sie sollen eine liberale Demokratie am Abgrund vermitteln, in der man sich selbst schützen müsse: durch den Kauf von Sachwerten wie Gold zur „Vermögenssicherung“ und die Schaffung einer neuen Regierungsordnung. Redigiert wurde es auch vom Frankfurter Galeristen Thomas Punzmann. Der Rundbrief Adpunktum, ebenfalls eine Zusammenstellung überwiegend rechter Medienberichte zu Politik und Wirtschaft, erscheint regelmäßig.Seit den „Lockdowns“ im April 2020 betreibt die AI ihren eigenen YouTube-Kanal, über den Propagandavideos, auch mit Bezug zur Covid19-Pandemie, geteilt werden, vornehmlich um ein „Gegengewicht zu den Mainstream-Medien“ zu bieten. Der Kanal verfügt mittlerweile über 40.000 Abonnent*innen.Unbeachteter gesellschaftlicher EinflussWie weit rechtslibertäre Vernetzung und Einfluss reichen, zeigt sich am Beispiel der Wallstreet Online AG (WO), welche den Online-Broker Smartbroker betreibt. Auf der Nachrichtenseite von WO werben Salger und Ross für die AI durch Meinungsbeiträge, in denen von straffreien „islamistischen Vergewaltigern“ und Angela Merkel als „(National-)Sozialistin“ schwadroniert wird. Smartbroker gab 2020 das rechte Finanzmagazin Smart Investor von Ralf Flierl kostenlos an Anleger*innen heraus. Hier kommen „Crash-Propheten“ wie Max Otte (Bundespräsidentschaftskandidat der AfD) oder Thorsten Schulte (vgl. LOTTA #71, S. 45 ff.) zu Wort. So können Rechtslibertäre neue Anhänger*innen gewinnen und ihren gesellschaftlichen Einfluss ausbauen. 2022-05-17T10:30:54+02:00 „Eine gewisse Affinität zum Dritten Reich“ | Prozess gegen Elmar J. in Paderborn https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/86/eine-gewisse-affinit-t-zum-dritten-reich Anfang 2022 fand vor dem Paderborner Landgericht ein Prozess statt, der die Frage klären wollte, wer Stephan Ernst, dem Mörder von Walter Lübcke, die Tatwaffe verkaufte. Angeklagt war ein Trödelhändler aus Ostwestfalen-Lippe. Nach vier Prozesstagen gab es einen Freispruch. Offene Fragen bleiben.Am 26. Juni 2019 kam es im ostwestfälischen Borgentreich-Natzungen (Kreis Höxter) zu einer Hausdurchsuchung und Festnahme, die für bundesweite Schlagzeilen sorgte. Betroffen war der heute 65-jährige Elmar J., der unter dem Verdacht stand, die Tatwaffe verkauft zu haben, mit der Stephan Ernst am 1. Juni 2019 den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ermordete. Der Hinweis, dass J. der mutmaßliche Waffenverkäufer sei, kam von Stephan Ernst selbst. Gegen J. wurde zunächst wegen des Vorwurfs der Beihilfe zum Mord ermittelt und er verbrachte mehrere Monate in Untersuchungshaft. Im Januar 2020 kam er wieder auf freien Fuß. Die Ermittlungsbehörden gingen zwar weiterhin davon aus, dass die Waffe von J. stammt, aber es bestanden Zweifel über das Ausmaß der Verstrickung von J. in die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten. Während Ernst nach 45 Prozesstagen am 28. Januar 2021 vor dem Oberlandesgericht Frankfurt zu lebenslanger Haft verurteilt wurde (vgl. LOTTA #82, S. 50), begann der Prozess gegen J. dann im Januar 2022.Verlauf des ProzessesDas Medieninteresse beim ersten Prozesstag am 5. Januar 2022 am Paderborner Landgericht war größer als erwartet. Neben dem Tatbestand der fahrlässigen Tötung durch den Verkauf der Mordwaffe, einer Rossi Kaliber 38, wurde Elmar J. ein Verstoß gegen das Waffengesetz vorgeworfen, da im Rahmen der Hausdurchsuchung insgesamt 106 Patronen sichergestellt wurden. Die Staatsanwaltschaft warf J. vor, dass ihm hätte bewusst sein müssen, dass Stephan Ernst keine Waffenbesitzerlaubnis besaß und er damit hätte erkennen können, was Ernst mit der Waffe vorhabe. Elmar J., der sich vor Gericht nicht äußerte, ließ eine Erklärung durch seinen Anwalt Ashraf Abouzeid verlesen. In dieser hieß es, dass J. den Vorwurf des Besitzes der Munition einräume und bedauere. Den Vorwurf der fahrlässigen Tötung bestreitet J. Es habe diverse Verkaufstätigkeiten zwischen den beiden gegeben, aber die Tatwaffe hätte er Ernst nicht verkauft.Elmar J. könne nur spekulieren, warum Stephan Ernst ihn beschuldige — wohl um die „wahren Hintermänner“ zu schützen. Ernst habe er über Handel auf Flohmärkten als „Peter aus Kassel“ kennengelernt. Angeblich hatte Ernst auch Interesse gezeigt, das Haus von J. zu kaufen. Bei einigen privaten Feiern von J. war Stephan Ernst, den er als sympathisch empfunden habe, zu Gast. Die politische Einstellung von Ernst bezeichnete J. als „rechtskonservativ“.„Panzerjupp“Bis zur Inhaftierung 2019 war Elmar J. als Trödelhändler vornehmlich auf Flohmärkten tätig, wo ihm viele Gegenstände „zugefallen“ seien, angeblich auch NS-verherrlichende Devotionalien und Bücher, die bei der Hausdurchsuchung im Juni 2019 gefunden wurden. Ein Polizeibeamter, der bei der Hausdurchsuchung eingesetzt war, beschrieb vor Gericht, dass in den Räumlichkeiten der ehemaligen Gaststätte, die sich im Haus von J. befand und von diesem von 2012 bis 2014 betrieben wurde, Bilder von Wehrmachtssoldaten und der Waffen-SS hingen und auf dem Thekenbereich eine kleine Holzfigur mit verziertem Hitlerbart stand. In einem Schuppen auf dem Grundstück hing eine Reichskriegsfahne. Elmar J. räumte in seiner Erklärung vor Gericht eine gewisse „Affinität zum Dritten Reich“ ein. Diese erklärte er durch sein gutes Verhältnis zu seinem Vater, der Panzerfahrer bei der Wehrmacht war. Mit ihm sei er in seiner Jugend auch in Kneipen gegangen, wo NS-Zeitzeugen zugegen waren, die ihn beeindruckt und geprägt hätten. Auch sein Nutzername „Panzerjupp1925“ bei dem Online-Verkaufsportal ebay rühre aus seiner engen Beziehung zu seinem Vater.Warum er noch 2019 auf seiner Facebook-Seite unter anderem die NPD Sachsen likte, war nicht Gegenstand seiner Erklärung oder Thema vor Gericht. Auch konnte man nichts genaues über die Feiern bei J. erfahren, wo Ernst zugegen war. Die Raumgestaltung mit NS-verherrlichenden Bezügen dürfte diesem jedenfalls gefallen haben. Antifaschist*innen aus der Region war Elmar J. lediglich aus Materialien von Anfang der 1990er Jahre bekannt, da er sich mit Anschrift in Paderborn auf einer Adress- und Versandliste der Republikaner befand.Keine AussageSchon kurz nach Eröffnung des ersten Prozesstages verkündete der leitende Richter Eric Schülke, dass ein geladener Zeuge nicht im Rahmen des Prozesses zur Verfügung stehen werde: Stephan Ernst. Da Ernst Revision gegen seine Verurteilung eingelegt hat, konnte er von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen. Schon nach den ersten Zeug*innen, vornehmlich Polizeibeamt*innen, die im Rahmen der Ermittlungen zur Aufklärung des Mordes an Walter Lübcke eingesetzt waren, zeichnete sich ab, dass es für die Staatsanwaltschaft schwer werden würde, den konkreten Waffenverkauf zu beweisen. Denn im Raum standen wiederkehrend die belastenden Aussagen von Stephan Ernst. So ging es in den Befragungen der Zeug*innen vor Gericht direkt und indirekt immer wieder auch um dessen Glaubwürdigkeit, insbesondere aufgrund seines widersprüchlichen Aussageverhaltens im Rahmen der polizeilichen Vernehmungen.Offene FragenEin letzter Strohhalm der Staatsanwaltschaft war die beantragte Aussetzung des Verfahrens bis zu dem Zeitpunkt, an dem Stephan Ernst als Zeuge geladen werden kann. Da dies durch das Gericht am letzten Prozesstag abgelehnt wurde, musste selbst die Staatsanwaltschaft in ihrem Abschlussplädoyer einen Freispruch bezüglich des Vorwurfs des Waffenverkaufes fordern. Verurteilt wurde Elmar J. letztendlich für den Besitz der Munition zu einer Geldstrafe von 1.350 Euro (90 Tagessätze à 15 Euro) wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz. Das Gericht sah die Aussagen von Ernst, die durch verschiedene Zeugenvernehmungen von Polizeibeamt*innen, aber auch durch Dieter Killmer, der als Oberstaatsanwalt die Anklage gegen Ernst leitete, eingeführt wurden, als nicht konsistent glaubhaft zu bewerten. Unter anderem sagte Ernst im Laufe seiner Vernehmungen, dass nicht nur die Tatwaffe, sondern „alle Waffen“, die in dem von ihm angelegten Versteck gefunden wurden, von Elmar J. stammen würden.Nachweislich war dies aber bei mindestens drei Waffen nicht der Fall.Deutlich wurde bei den Zeugenbefragungen der Ermittler*innen jedoch, dass in der Frage der Herkunft der Tatwaffe keine wirklichen Nachermittlungen durchgeführt wurden. Es wurde sich letztendlich — wie so oft im Komplex um den Mord an Walter Lübcke — alleine auf die Aussage von Ernst verlassen bzw. die verschiedenen Anklagen darauf zugeschnitten. Bei den Zeugenvernehmungen der Ermittler*innen zeigte sich, dass mit dem Geständnis von Ernst und der Offenlegung des Waffenversteckes die Herkunft der Waffen eine untergeordnete Rolle spielte. Widersprüche in den Angaben von Ernst wurden im Rahmen der Ermittlungen nicht geklärt. Der Prozess in Paderborn konnte diese auch nicht lösen. Extreme Rechte 7741 Tue, 17 May 2022 10:27:54 +0200 LOTTA „Eine gewisse Affinität zum Dritten Reich“ Anfang 2022 fand vor dem Paderborner Landgericht ein Prozess statt, der die Frage klären wollte, wer Stephan Ernst, dem Mörder von Walter Lübcke, die Tatwaffe verkaufte. Angeklagt war ein Trödelhändler aus Ostwestfalen-Lippe. Nach vier Prozesstagen gab es einen Freispruch. Offene Fragen bleiben.Am 26. Juni 2019 kam es im ostwestfälischen Borgentreich-Natzungen (Kreis Höxter) zu einer Hausdurchsuchung und Festnahme, die für bundesweite Schlagzeilen sorgte. Betroffen war der heute 65-jährige Elmar J., der unter dem Verdacht stand, die Tatwaffe verkauft zu haben, mit der Stephan Ernst am 1. Juni 2019 den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ermordete. Der Hinweis, dass J. der mutmaßliche Waffenverkäufer sei, kam von Stephan Ernst selbst. Gegen J. wurde zunächst wegen des Vorwurfs der Beihilfe zum Mord ermittelt und er verbrachte mehrere Monate in Untersuchungshaft. Im Januar 2020 kam er wieder auf freien Fuß. Die Ermittlungsbehörden gingen zwar weiterhin davon aus, dass die Waffe von J. stammt, aber es bestanden Zweifel über das Ausmaß der Verstrickung von J. in die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten. Während Ernst nach 45 Prozesstagen am 28. Januar 2021 vor dem Oberlandesgericht Frankfurt zu lebenslanger Haft verurteilt wurde (vgl. LOTTA #82, S. 50), begann der Prozess gegen J. dann im Januar 2022.Verlauf des ProzessesDas Medieninteresse beim ersten Prozesstag am 5. Januar 2022 am Paderborner Landgericht war größer als erwartet. Neben dem Tatbestand der fahrlässigen Tötung durch den Verkauf der Mordwaffe, einer Rossi Kaliber 38, wurde Elmar J. ein Verstoß gegen das Waffengesetz vorgeworfen, da im Rahmen der Hausdurchsuchung insgesamt 106 Patronen sichergestellt wurden. Die Staatsanwaltschaft warf J. vor, dass ihm hätte bewusst sein müssen, dass Stephan Ernst keine Waffenbesitzerlaubnis besaß und er damit hätte erkennen können, was Ernst mit der Waffe vorhabe. Elmar J., der sich vor Gericht nicht äußerte, ließ eine Erklärung durch seinen Anwalt Ashraf Abouzeid verlesen. In dieser hieß es, dass J. den Vorwurf des Besitzes der Munition einräume und bedauere. Den Vorwurf der fahrlässigen Tötung bestreitet J. Es habe diverse Verkaufstätigkeiten zwischen den beiden gegeben, aber die Tatwaffe hätte er Ernst nicht verkauft.Elmar J. könne nur spekulieren, warum Stephan Ernst ihn beschuldige — wohl um die „wahren Hintermänner“ zu schützen. Ernst habe er über Handel auf Flohmärkten als „Peter aus Kassel“ kennengelernt. Angeblich hatte Ernst auch Interesse gezeigt, das Haus von J. zu kaufen. Bei einigen privaten Feiern von J. war Stephan Ernst, den er als sympathisch empfunden habe, zu Gast. Die politische Einstellung von Ernst bezeichnete J. als „rechtskonservativ“.„Panzerjupp“Bis zur Inhaftierung 2019 war Elmar J. als Trödelhändler vornehmlich auf Flohmärkten tätig, wo ihm viele Gegenstände „zugefallen“ seien, angeblich auch NS-verherrlichende Devotionalien und Bücher, die bei der Hausdurchsuchung im Juni 2019 gefunden wurden. Ein Polizeibeamter, der bei der Hausdurchsuchung eingesetzt war, beschrieb vor Gericht, dass in den Räumlichkeiten der ehemaligen Gaststätte, die sich im Haus von J. befand und von diesem von 2012 bis 2014 betrieben wurde, Bilder von Wehrmachtssoldaten und der Waffen-SS hingen und auf dem Thekenbereich eine kleine Holzfigur mit verziertem Hitlerbart stand. In einem Schuppen auf dem Grundstück hing eine Reichskriegsfahne. Elmar J. räumte in seiner Erklärung vor Gericht eine gewisse „Affinität zum Dritten Reich“ ein. Diese erklärte er durch sein gutes Verhältnis zu seinem Vater, der Panzerfahrer bei der Wehrmacht war. Mit ihm sei er in seiner Jugend auch in Kneipen gegangen, wo NS-Zeitzeugen zugegen waren, die ihn beeindruckt und geprägt hätten. Auch sein Nutzername „Panzerjupp1925“ bei dem Online-Verkaufsportal ebay rühre aus seiner engen Beziehung zu seinem Vater.Warum er noch 2019 auf seiner Facebook-Seite unter anderem die NPD Sachsen likte, war nicht Gegenstand seiner Erklärung oder Thema vor Gericht. Auch konnte man nichts genaues über die Feiern bei J. erfahren, wo Ernst zugegen war. Die Raumgestaltung mit NS-verherrlichenden Bezügen dürfte diesem jedenfalls gefallen haben. Antifaschist*innen aus der Region war Elmar J. lediglich aus Materialien von Anfang der 1990er Jahre bekannt, da er sich mit Anschrift in Paderborn auf einer Adress- und Versandliste der Republikaner befand.Keine AussageSchon kurz nach Eröffnung des ersten Prozesstages verkündete der leitende Richter Eric Schülke, dass ein geladener Zeuge nicht im Rahmen des Prozesses zur Verfügung stehen werde: Stephan Ernst. Da Ernst Revision gegen seine Verurteilung eingelegt hat, konnte er von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen. Schon nach den ersten Zeug*innen, vornehmlich Polizeibeamt*innen, die im Rahmen der Ermittlungen zur Aufklärung des Mordes an Walter Lübcke eingesetzt waren, zeichnete sich ab, dass es für die Staatsanwaltschaft schwer werden würde, den konkreten Waffenverkauf zu beweisen. Denn im Raum standen wiederkehrend die belastenden Aussagen von Stephan Ernst. So ging es in den Befragungen der Zeug*innen vor Gericht direkt und indirekt immer wieder auch um dessen Glaubwürdigkeit, insbesondere aufgrund seines widersprüchlichen Aussageverhaltens im Rahmen der polizeilichen Vernehmungen.Offene FragenEin letzter Strohhalm der Staatsanwaltschaft war die beantragte Aussetzung des Verfahrens bis zu dem Zeitpunkt, an dem Stephan Ernst als Zeuge geladen werden kann. Da dies durch das Gericht am letzten Prozesstag abgelehnt wurde, musste selbst die Staatsanwaltschaft in ihrem Abschlussplädoyer einen Freispruch bezüglich des Vorwurfs des Waffenverkaufes fordern. Verurteilt wurde Elmar J. letztendlich für den Besitz der Munition zu einer Geldstrafe von 1.350 Euro (90 Tagessätze à 15 Euro) wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz. Das Gericht sah die Aussagen von Ernst, die durch verschiedene Zeugenvernehmungen von Polizeibeamt*innen, aber auch durch Dieter Killmer, der als Oberstaatsanwalt die Anklage gegen Ernst leitete, eingeführt wurden, als nicht konsistent glaubhaft zu bewerten. Unter anderem sagte Ernst im Laufe seiner Vernehmungen, dass nicht nur die Tatwaffe, sondern „alle Waffen“, die in dem von ihm angelegten Versteck gefunden wurden, von Elmar J. stammen würden.Nachweislich war dies aber bei mindestens drei Waffen nicht der Fall.Deutlich wurde bei den Zeugenbefragungen der Ermittler*innen jedoch, dass in der Frage der Herkunft der Tatwaffe keine wirklichen Nachermittlungen durchgeführt wurden. Es wurde sich letztendlich — wie so oft im Komplex um den Mord an Walter Lübcke — alleine auf die Aussage von Ernst verlassen bzw. die verschiedenen Anklagen darauf zugeschnitten. Bei den Zeugenvernehmungen der Ermittler*innen zeigte sich, dass mit dem Geständnis von Ernst und der Offenlegung des Waffenversteckes die Herkunft der Waffen eine untergeordnete Rolle spielte. Widersprüche in den Angaben von Ernst wurden im Rahmen der Ermittlungen nicht geklärt. Der Prozess in Paderborn konnte diese auch nicht lösen. 2022-05-17T10:27:54+02:00 „Es wird nichts Großes mehr daraus“ | Die „Identitäre Bewegung“ in der Transformation https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/86/es-wird-nichts-gro-es-mehr-daraus Man sieht sie kaum noch, die rassistischen Aufkleber der „Identitären Bewegung“ (IB), ihre in Szene gesetzten Bannerdrops und ihre schwarzgelben Lambda-Fahnen. Die IB befindet sich im Niedergang — oder treffender formuliert in einem Transformationsprozess.Verlautbarungen von anerkannten Führungspersonen haben in der streng hierarchischen „Neuen Rechten“ eine große Bedeutung. Und so wurden die Geburtshelfer und Vordenker der IB im deutschsprachigen Raum zu ihrem Totengräber. Im Juni 2019 attestierte Alexander Markovics, Gründer und Führungsfigur der IB in Österreich, der IB im Interview mit der NPD-Zeitung Deutsche Stimme, sie sei „zu einer Sekte verkommen, die sich nur noch auf die Vermarktung ihrer selbst beschränkt“. Der Aufruf der IB zu einer Demonstration in Halle kurz darauf im Juli 2019 wirkte wie ein letztes Aufbäumen und gleichzeitig wie eine verunsicherte Vergewisserung des verbliebenen Rückhalts. Der Tag wurde für die IB aufgrund antifaschistischer Gegenproteste zum Desaster und fand sein Ende in einem frustrierten Saufgelage. Kurz darauf wurde im Oktober 2019 das Hausprojekt in Halle aufgegeben. Als sich Götz Kubitschek im Herbst 2019 im Interview mit der Grazer Postille Neue Ordnung (jetzt Abendland) zu den „Identitären“ äußerte, hatte er die IB bereits abgeschrieben. „Dieser wirklich gute Ansatz einer patriotischen, nicht-extremen und sehr kreativen Jugendbewegung“ sei „nun bis zur Unberührbarkeit kontaminiert. Das bedeutet: Es wird nichts Großes mehr daraus.“„Sich neu erfinden“Die Gründe für den Niedergang der IB sind vielfältig und reichen von antifaschistischer Recherche, Aufklärungsarbeit und konkreten Interventionen über Deplatforming bis hin zu Martin Sellners Kontakten zum Christchurch-Attentäter und daraus folgenden juristischen Konsequenzen. In Frankreich wurde die IB im Frühjahr 2021 verboten, Österreich folgte dem Beispiel im Sommer 2021 in abgemilderter Form, als es Symbole der IB und ihrer Nachfolgeorganisationen verbot. Auch deutsche „Identitäre“ rechneten daraufhin fest mit einem Verbot. Interne Debatten um die Zukunft der IB nahmen an Fahrt auf. „Die Jungs […] müssen jedenfalls neu nachdenken, sich neu erfinden, den Dreh rauskriegen“, so Kubitschek im Dezember 2019. „Sich selbst aus dem Spiel nehmen“, wie Kubitschek es empfahl, und damit einen sauberen Schlussstrich ziehen, schien für den harten Kern der IB aber nicht in Frage zu kommen. Stattdessen begab sie sich mit pathetischen Durchhalteparolen in die Opferrolle und suchte verzweifelt neue Wege. Einige IB-Orts- und Regionalgruppen lösten sich aber tatsächlich auf. Andere, wie die Regionalgruppe Schwaben, begannen bereits Ende 2020 damit, ihr Auftreten zu verändern. Sie agierten anonym, verpixelten auf Fotos ihre Gesichter und traten bei Aktionen vermummt auf. Etwa mit dem von nun an von IB-Gruppen gern getragenen weißen Schlauchschal mit dem Aufdruck „Heimatschützer“, den der Phalanx Europa-Online-Shop um diese Zeit ins Sortiment aufgenommen hatte.Die Wiener „Identitären“ machten den schleichenden Transformationsprozess zum Konzept. In Österreich drängte es die „Identitären“ bereits 2020 in die Anonymität. Sellner und Jakob Gunacker scharten zunächst eine kleine Aktionsgruppe in Wien um sich und richteten den Aktionsblog Patrioten in Bewegung ein, über den sie fortan ihre anonym durchgeführten Aktionen veröffentlichten, die jedoch kaum noch mediale Beachtung erfuhren. Ab 2021 führten sie dann Aktionen unter dem Label Wiener Widerstand durch. Ästhetisch bedient sich die „identitäre“ Wiener Aktionsgruppe am Auftritt der faschistischen und offen antisemitischen Patriot Front aus den USA: Die Mitglieder reisen in Kleintransportern zu Aktionen an, tragen einheitliche dunkelblaue Jacken, sind mit weißen Halstüchern vermummt und inszenieren ihre Auftritte in Videos. Die rassistische Erzählung vom „Erhalt der ethnokulturellen Identität“ bleibt dieselbe.GenerationswechselSichtbarkeit erlangten die „Identitären“ zuletzt gelegentlich wieder im Kontext der großen Pandemieleugner*innen- und Impfgegner*innen-Demos ab Februar 2021. Auch hier waren die österreichischen „Identitären“ Vorreiter. Vermummt und mit rot-weißen Bannern sowie Pyrotechnik ausgestattet versuchen sie immer wieder, sich an die Spitze von Demonstrationen zu setzen, diesen damit ästhetisch wie inhaltlich ihren Stempel aufzudrücken und sich als Speerspitze der „Bewegung“ zu gerieren. Während sich die Gruppe in Anonymität hüllt und auch Martin Sellner Abstand vortäuscht, gibt es mit dem „identitären“ Burschenschafter Gernot Schmidt ein Gesicht und einen Sprecher der Gruppe, der mit dem neuen Auftreten vor allem „gute, junge, sportliche Männer“ ansprechen möchte.Im August 2021 unterfütterte die IB den bereits vollzogenen „Wandel“ in einem Artikel auf dem IB-Blog Der Funke. Neben viel Eigenlob wird der Niedergang seit 2018 eingestanden und ein Generationswechsel beschrieben. Tatsächlich sucht die erste Generation der „Identitären“, die mittlerweile die 30 überschritten hat und aktivistisch wie privat verbrannt ist, ihr Glück in Strukturen abseits der Straße. Beispielhaft seien hier etwa die Medienagentur Okzident Media von Daniel Fiß, die Medienagentur Tannwald Media von Alexander Kleine, das Medienteam von Ein Prozent um Simon Kaupert und die zahlreichen Übertritte in die AfD und ihre Jugendorganisation Junge Alternative genannt. Die neue „identitäre Bewegung“ (mit kleinem „i“) kommt mit Uniform und Schlauchtuch daher, ohne feste Ortsgruppen, Stammtische und das Corporate Design der IB. Auf Kosten der Anschlussfähigkeit ziehen sich die Neofaschist*innen in die Anonymität zurück, die die Hemmschwelle für potenzielle Mitstreiter*innen senkt und offenere Bezüge zu neonazistischen Inhalten und Strukturen erlaubt.IB-NachfolgegruppenSeit Mitte 2021 sprießen auch in Deutschland zahlreiche IB-Nachfolgegruppen aus dem Boden, die sich etwa Aktives Hessen, Revolte Rheinland, Westfalens Eichensöhne oder Schwaben Bande nennen und an ihren weißen Schlauchtüchern mit jeweiligem Regionalwappen zu identifizieren sind. Sie springen auf regionale Pandemieleugner*innen- und Impfgegner*innen-Demos auf und inszenieren sich dort zumeist vermummt hinter ihren Bannern. Wie die alte IB setzt auch die neue iB vor allem auf Inszenierung in den sozialen Medien. Hinter den einzelnen Ortsgruppen stecken zumeist nur wenige Personen. Ihre Aktionen kommen in den meisten Fällen nicht über die eigenen Echokammern der ihnen verbliebenen sozialen Medien wie Telegram und Instagram hinaus.Die maximal ein halbes Dutzend Personen umfassende „identitäre“ Gruppe Aktives Hessen trat mehrfach bei Pandemieleugner*innen- und Impfgegner*innen-Demos in Erscheinung. So am 27. November 2021 mit einem „Heimatschutz statt Mundschutz“-Banner in Frankfurt, am 19. Dezember 2021 gemeinsam mit der IB Schwaben hinter einem Transparent mit der Aufschrift „Wir halten stand“ in Nürnberg sowie am 29. Januar 2022 bei der Pandemieleugner*innen- und Impfgegner*innen-Demo wiederum in Frankfurt, wo sie ein „Wir sind die rote Linie“-Banner trug. Die hessischen „Identitären“ speisen sich immer noch aus dem Burschenschaftsmilieu; konkret der Marburger Burschenschaft Germania sowie — über die Landesgrenze hinweg — der Burschenschaft Germania Halle zu Mainz. Während der frühere hessische IB-Kader Heinrich Mahling zuletzt kaum noch öffentlich in Erscheinung trat, gerierte sich Patrick S. als neue exponierte Figur der „Identitären“ in Hessen. S. betreute 2021 gemeinsam mit dem Chefredakteur der „neurechten“ Öko-Zeitschrift Die Kehre, Jonas Schick, den Stand des „neurechten“ Kleinverlages Oikos Verlag auf der Frankfurter Buchmesse. Schick ist ebenfalls langjähriger „Identitärer“, der zur Zeit mit Support aus Schnellroda versucht, sein eigenes publizistisches Standbein aufzubauen.Revolte Rheinland ist ein Zusammenschluss „identitärer“ Restbestände aus NRW und Rheinland-Pfalz. Enge Kontakte und personelle Überschneidungen bestehen nicht nur in Richtung AfD, sondern besonders stark ins Spektrum der Bünde des extrem rechten Dachverbandes Deutsche Burschenschaft (DB). Die Ende 2021 gegründete Gruppierung ordnete sich in einem Interview selbst der „Neuen Rechten“ zu und gab an, dass ihre Mitglieder „bereits Erfahrung mit metapolitischem Aktivismus auf der Straße“ hätten. Aufgrund mangelnder eigener Mobilisierungsmöglichkeiten versuchten auch sie, nach Wiener Vorbild Pandemieleugner*innen- und Impfgegner*innen-Demos zur Selbstinszenierung zu nutzen, zum ersten Mal im November 2021 in Düsseldorf. Am 18. Dezember 2021 führte die Gruppe um den Ex-NPD- und späteren IB-Kader Benjamin Stein dort einen eigenen rechten Block an. Direkt hinter dem Banner marschierten die zur AfD gewechselte „Identitäre“ Reinhild Boßdorf und weitere AfD- und JA-Funktionäre. Sowie DB-Burschenschaftler, insbesondere von der extrem rechten Alten Halleschen Burschenschaft Rhenania-Salingia zu Düsseldorf um Jeremy Franosch aka „Jey Kowski“ und Maximilian Schmitz, die aktuell als vorsitzende DB-Burschenschaft fungiert. Nach diesem Auftritt verschwanden Teile des Blocks im Haus der „Rhenanen“. Am 20. Dezember 2021 führte eine kleinere Gruppe hinter dem Banner der Revolte Rheinland die Pandemieleugner*innen- und Impfgegner*innen-Demo in Bonn an. Die Gruppierung, die sich selbst ein „identitäres Weltbild“ zuschreibt, sorgte für hitzige Diskussionen im rechten Lager, weil sie am 8. Januar 2022 bei einer Demonstration in Düsseldorf ein Hochtransparent mit der Aufschrift „Die Krise heißt Kapitalismus“ mit sich führte. Der Versuch, Antikapitalismus von („neu“)rechts zu betreiben, wurde in den letzten Jahren vor allem vom „neurechten“ Ideologen Benedikt Kaiser theoretisch vorangetrieben.Am 12. März 2022 schließlich waren es weder die Revolte Rheinland noch die Junge Alternative, die einen eigenen Block auf der samstäglichen Pandemieleugner*innen- und Impfgegner*innen-Demo in Düsseldorf bildeten, sondern nordrhein-westfälische Burschenschaften aus mehreren Städten — unter Führung der Rhenania Salingia. Durchaus bemerkenswert ob dieses in der Öffentlichkeit traditionell eher zurückhaltend agierenden Spektrums. Im burschenschaftlichen Block zu finden war auch einer der meistgebuchten Rechtsanwälte der extremen Rechten: der Düsseldorfer Björn Clemens, „Alter Herr“ der Marburger Burschenschaft Rheinfranken.Keine ErfolgsgeschichteDie von Kubitschek geforderte „Neu­erfindung“ der IB ist bislang alles andere als eine Erfolgsgeschichte. Die „taktische Neuausrichtung“ in Form von Dezentralisierung und Anonymisierung dient dem Zwecke der Verschleierung — aus Angst vor öffentlichem Druck und Repression. Die neue „identitäre“ Generation versucht über ihre sportliche, militante Inszenierung jungen Männer eine „neurechte“ Erlebniswelt darzubieten. Damit büßt sie jedoch ihre ehemaligen Stärken des Corporate Designs und des Gesichtzeigens ein und verliert damit Anschlussfähigkeit und Wiedererkennungswert. Extreme Rechte 7739 Tue, 17 May 2022 10:22:33 +0200 LOTTA „Es wird nichts Großes mehr daraus“ Erich Nitsche Man sieht sie kaum noch, die rassistischen Aufkleber der „Identitären Bewegung“ (IB), ihre in Szene gesetzten Bannerdrops und ihre schwarzgelben Lambda-Fahnen. Die IB befindet sich im Niedergang — oder treffender formuliert in einem Transformationsprozess.Verlautbarungen von anerkannten Führungspersonen haben in der streng hierarchischen „Neuen Rechten“ eine große Bedeutung. Und so wurden die Geburtshelfer und Vordenker der IB im deutschsprachigen Raum zu ihrem Totengräber. Im Juni 2019 attestierte Alexander Markovics, Gründer und Führungsfigur der IB in Österreich, der IB im Interview mit der NPD-Zeitung Deutsche Stimme, sie sei „zu einer Sekte verkommen, die sich nur noch auf die Vermarktung ihrer selbst beschränkt“. Der Aufruf der IB zu einer Demonstration in Halle kurz darauf im Juli 2019 wirkte wie ein letztes Aufbäumen und gleichzeitig wie eine verunsicherte Vergewisserung des verbliebenen Rückhalts. Der Tag wurde für die IB aufgrund antifaschistischer Gegenproteste zum Desaster und fand sein Ende in einem frustrierten Saufgelage. Kurz darauf wurde im Oktober 2019 das Hausprojekt in Halle aufgegeben. Als sich Götz Kubitschek im Herbst 2019 im Interview mit der Grazer Postille Neue Ordnung (jetzt Abendland) zu den „Identitären“ äußerte, hatte er die IB bereits abgeschrieben. „Dieser wirklich gute Ansatz einer patriotischen, nicht-extremen und sehr kreativen Jugendbewegung“ sei „nun bis zur Unberührbarkeit kontaminiert. Das bedeutet: Es wird nichts Großes mehr daraus.“„Sich neu erfinden“Die Gründe für den Niedergang der IB sind vielfältig und reichen von antifaschistischer Recherche, Aufklärungsarbeit und konkreten Interventionen über Deplatforming bis hin zu Martin Sellners Kontakten zum Christchurch-Attentäter und daraus folgenden juristischen Konsequenzen. In Frankreich wurde die IB im Frühjahr 2021 verboten, Österreich folgte dem Beispiel im Sommer 2021 in abgemilderter Form, als es Symbole der IB und ihrer Nachfolgeorganisationen verbot. Auch deutsche „Identitäre“ rechneten daraufhin fest mit einem Verbot. Interne Debatten um die Zukunft der IB nahmen an Fahrt auf. „Die Jungs […] müssen jedenfalls neu nachdenken, sich neu erfinden, den Dreh rauskriegen“, so Kubitschek im Dezember 2019. „Sich selbst aus dem Spiel nehmen“, wie Kubitschek es empfahl, und damit einen sauberen Schlussstrich ziehen, schien für den harten Kern der IB aber nicht in Frage zu kommen. Stattdessen begab sie sich mit pathetischen Durchhalteparolen in die Opferrolle und suchte verzweifelt neue Wege. Einige IB-Orts- und Regionalgruppen lösten sich aber tatsächlich auf. Andere, wie die Regionalgruppe Schwaben, begannen bereits Ende 2020 damit, ihr Auftreten zu verändern. Sie agierten anonym, verpixelten auf Fotos ihre Gesichter und traten bei Aktionen vermummt auf. Etwa mit dem von nun an von IB-Gruppen gern getragenen weißen Schlauchschal mit dem Aufdruck „Heimatschützer“, den der Phalanx Europa-Online-Shop um diese Zeit ins Sortiment aufgenommen hatte.Die Wiener „Identitären“ machten den schleichenden Transformationsprozess zum Konzept. In Österreich drängte es die „Identitären“ bereits 2020 in die Anonymität. Sellner und Jakob Gunacker scharten zunächst eine kleine Aktionsgruppe in Wien um sich und richteten den Aktionsblog Patrioten in Bewegung ein, über den sie fortan ihre anonym durchgeführten Aktionen veröffentlichten, die jedoch kaum noch mediale Beachtung erfuhren. Ab 2021 führten sie dann Aktionen unter dem Label Wiener Widerstand durch. Ästhetisch bedient sich die „identitäre“ Wiener Aktionsgruppe am Auftritt der faschistischen und offen antisemitischen Patriot Front aus den USA: Die Mitglieder reisen in Kleintransportern zu Aktionen an, tragen einheitliche dunkelblaue Jacken, sind mit weißen Halstüchern vermummt und inszenieren ihre Auftritte in Videos. Die rassistische Erzählung vom „Erhalt der ethnokulturellen Identität“ bleibt dieselbe.GenerationswechselSichtbarkeit erlangten die „Identitären“ zuletzt gelegentlich wieder im Kontext der großen Pandemieleugner*innen- und Impfgegner*innen-Demos ab Februar 2021. Auch hier waren die österreichischen „Identitären“ Vorreiter. Vermummt und mit rot-weißen Bannern sowie Pyrotechnik ausgestattet versuchen sie immer wieder, sich an die Spitze von Demonstrationen zu setzen, diesen damit ästhetisch wie inhaltlich ihren Stempel aufzudrücken und sich als Speerspitze der „Bewegung“ zu gerieren. Während sich die Gruppe in Anonymität hüllt und auch Martin Sellner Abstand vortäuscht, gibt es mit dem „identitären“ Burschenschafter Gernot Schmidt ein Gesicht und einen Sprecher der Gruppe, der mit dem neuen Auftreten vor allem „gute, junge, sportliche Männer“ ansprechen möchte.Im August 2021 unterfütterte die IB den bereits vollzogenen „Wandel“ in einem Artikel auf dem IB-Blog Der Funke. Neben viel Eigenlob wird der Niedergang seit 2018 eingestanden und ein Generationswechsel beschrieben. Tatsächlich sucht die erste Generation der „Identitären“, die mittlerweile die 30 überschritten hat und aktivistisch wie privat verbrannt ist, ihr Glück in Strukturen abseits der Straße. Beispielhaft seien hier etwa die Medienagentur Okzident Media von Daniel Fiß, die Medienagentur Tannwald Media von Alexander Kleine, das Medienteam von Ein Prozent um Simon Kaupert und die zahlreichen Übertritte in die AfD und ihre Jugendorganisation Junge Alternative genannt. Die neue „identitäre Bewegung“ (mit kleinem „i“) kommt mit Uniform und Schlauchtuch daher, ohne feste Ortsgruppen, Stammtische und das Corporate Design der IB. Auf Kosten der Anschlussfähigkeit ziehen sich die Neofaschist*innen in die Anonymität zurück, die die Hemmschwelle für potenzielle Mitstreiter*innen senkt und offenere Bezüge zu neonazistischen Inhalten und Strukturen erlaubt.IB-NachfolgegruppenSeit Mitte 2021 sprießen auch in Deutschland zahlreiche IB-Nachfolgegruppen aus dem Boden, die sich etwa Aktives Hessen, Revolte Rheinland, Westfalens Eichensöhne oder Schwaben Bande nennen und an ihren weißen Schlauchtüchern mit jeweiligem Regionalwappen zu identifizieren sind. Sie springen auf regionale Pandemieleugner*innen- und Impfgegner*innen-Demos auf und inszenieren sich dort zumeist vermummt hinter ihren Bannern. Wie die alte IB setzt auch die neue iB vor allem auf Inszenierung in den sozialen Medien. Hinter den einzelnen Ortsgruppen stecken zumeist nur wenige Personen. Ihre Aktionen kommen in den meisten Fällen nicht über die eigenen Echokammern der ihnen verbliebenen sozialen Medien wie Telegram und Instagram hinaus.Die maximal ein halbes Dutzend Personen umfassende „identitäre“ Gruppe Aktives Hessen trat mehrfach bei Pandemieleugner*innen- und Impfgegner*innen-Demos in Erscheinung. So am 27. November 2021 mit einem „Heimatschutz statt Mundschutz“-Banner in Frankfurt, am 19. Dezember 2021 gemeinsam mit der IB Schwaben hinter einem Transparent mit der Aufschrift „Wir halten stand“ in Nürnberg sowie am 29. Januar 2022 bei der Pandemieleugner*innen- und Impfgegner*innen-Demo wiederum in Frankfurt, wo sie ein „Wir sind die rote Linie“-Banner trug. Die hessischen „Identitären“ speisen sich immer noch aus dem Burschenschaftsmilieu; konkret der Marburger Burschenschaft Germania sowie — über die Landesgrenze hinweg — der Burschenschaft Germania Halle zu Mainz. Während der frühere hessische IB-Kader Heinrich Mahling zuletzt kaum noch öffentlich in Erscheinung trat, gerierte sich Patrick S. als neue exponierte Figur der „Identitären“ in Hessen. S. betreute 2021 gemeinsam mit dem Chefredakteur der „neurechten“ Öko-Zeitschrift Die Kehre, Jonas Schick, den Stand des „neurechten“ Kleinverlages Oikos Verlag auf der Frankfurter Buchmesse. Schick ist ebenfalls langjähriger „Identitärer“, der zur Zeit mit Support aus Schnellroda versucht, sein eigenes publizistisches Standbein aufzubauen.Revolte Rheinland ist ein Zusammenschluss „identitärer“ Restbestände aus NRW und Rheinland-Pfalz. Enge Kontakte und personelle Überschneidungen bestehen nicht nur in Richtung AfD, sondern besonders stark ins Spektrum der Bünde des extrem rechten Dachverbandes Deutsche Burschenschaft (DB). Die Ende 2021 gegründete Gruppierung ordnete sich in einem Interview selbst der „Neuen Rechten“ zu und gab an, dass ihre Mitglieder „bereits Erfahrung mit metapolitischem Aktivismus auf der Straße“ hätten. Aufgrund mangelnder eigener Mobilisierungsmöglichkeiten versuchten auch sie, nach Wiener Vorbild Pandemieleugner*innen- und Impfgegner*innen-Demos zur Selbstinszenierung zu nutzen, zum ersten Mal im November 2021 in Düsseldorf. Am 18. Dezember 2021 führte die Gruppe um den Ex-NPD- und späteren IB-Kader Benjamin Stein dort einen eigenen rechten Block an. Direkt hinter dem Banner marschierten die zur AfD gewechselte „Identitäre“ Reinhild Boßdorf und weitere AfD- und JA-Funktionäre. Sowie DB-Burschenschaftler, insbesondere von der extrem rechten Alten Halleschen Burschenschaft Rhenania-Salingia zu Düsseldorf um Jeremy Franosch aka „Jey Kowski“ und Maximilian Schmitz, die aktuell als vorsitzende DB-Burschenschaft fungiert. Nach diesem Auftritt verschwanden Teile des Blocks im Haus der „Rhenanen“. Am 20. Dezember 2021 führte eine kleinere Gruppe hinter dem Banner der Revolte Rheinland die Pandemieleugner*innen- und Impfgegner*innen-Demo in Bonn an. Die Gruppierung, die sich selbst ein „identitäres Weltbild“ zuschreibt, sorgte für hitzige Diskussionen im rechten Lager, weil sie am 8. Januar 2022 bei einer Demonstration in Düsseldorf ein Hochtransparent mit der Aufschrift „Die Krise heißt Kapitalismus“ mit sich führte. Der Versuch, Antikapitalismus von („neu“)rechts zu betreiben, wurde in den letzten Jahren vor allem vom „neurechten“ Ideologen Benedikt Kaiser theoretisch vorangetrieben.Am 12. März 2022 schließlich waren es weder die Revolte Rheinland noch die Junge Alternative, die einen eigenen Block auf der samstäglichen Pandemieleugner*innen- und Impfgegner*innen-Demo in Düsseldorf bildeten, sondern nordrhein-westfälische Burschenschaften aus mehreren Städten — unter Führung der Rhenania Salingia. Durchaus bemerkenswert ob dieses in der Öffentlichkeit traditionell eher zurückhaltend agierenden Spektrums. Im burschenschaftlichen Block zu finden war auch einer der meistgebuchten Rechtsanwälte der extremen Rechten: der Düsseldorfer Björn Clemens, „Alter Herr“ der Marburger Burschenschaft Rheinfranken.Keine ErfolgsgeschichteDie von Kubitschek geforderte „Neu­erfindung“ der IB ist bislang alles andere als eine Erfolgsgeschichte. Die „taktische Neuausrichtung“ in Form von Dezentralisierung und Anonymisierung dient dem Zwecke der Verschleierung — aus Angst vor öffentlichem Druck und Repression. Die neue „identitäre“ Generation versucht über ihre sportliche, militante Inszenierung jungen Männer eine „neurechte“ Erlebniswelt darzubieten. Damit büßt sie jedoch ihre ehemaligen Stärken des Corporate Designs und des Gesichtzeigens ein und verliert damit Anschlussfähigkeit und Wiedererkennungswert. 2022-05-17T10:22:33+02:00 Scheitern nicht ausgeschlossen | Die AfD vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/86/scheitern-nicht-ausgeschlossen Die Inszenierung hätte so schön sein können. Mit klarer Mehrheit wählte Anfang Februar 2022 ein Parteitag in Siegen Martin Vincentz zum AfD-Landeschef in NRW. Nach dem ersten Parteichef Alexander Dilger, der noch im Übermaß das Flair der neoliberalen „Professorenpartei“ verströmt hatte, nach dem halbseiden wirkenden Marcus Pretzell, nach dem dauermonologisierenden Martin Renner, nach dem verkrachten Führungsduo Helmut Seifen/Thomas Röckemann und nach dem sich chronisch überschätzenden Rüdiger Lucassen schien endlich ein neuer Vorsitzender ohne all die Makel seiner Vorgänger gefunden zu sein. 63 Prozent stimmten für den 35-jährigen Arzt vom Niederrhein, 31 Prozent für seinen Gegenkandidaten — für AfD-Verhältnisse ein deutliches Ergebnis. Martin Vincentz‘ Aufstieg an die Spitze seiner Partei hatte seine Zeit gebraucht. Lange interessierte „sein“ Thema, die Gesundheitspolitik, kaum jemanden in der AfD. Doch Corona spülte ihn nach oben. Es war sein Thema im Landtag in den letzten zwei Jahren. Schon als die NRW-AfD im vorigen Oktober ihre Kandidaten für die Landtagswahl bestimmte, war er dafür belohnt worden. Mit ganz und gar untypischen 96 Prozent wählten ihn die Delegierten auf Listenplatz zwei, gleich hinter Fraktionschef Markus Wagner. Die NRW-AfD — jahrelang durch Fehden und Intrigen gebeutelt, mal ideologisch begründet, mal durch schlichte Karriereambitionen motiviert — hatte einen neuen Hoffnungsträger gefunden. Einen, der nicht durch Poltereien abschreckt, einen, der west-wähler:innen-kompatibel wirken und für so etwas wie eine Verjüngung stehen soll.Kurze EintrachtSo schön hätte die Inszenierung sein können. Doch die NRW-AfD wäre nicht die NRW-AfD, wenn die neue Eintracht lange währen würde. Zwei Beispiele aus der Provinz: Wenige Wochen nach jenem Landesparteitag, der Vincentz an die Spitze der Partei wählte, kamen rund 90 Delegierte aus dem Regierungsbezirk Arnsberg in Letmathe zu ihrem längst überfälligen Bezirksparteitag zusammen. Sie bauten ihren Vorstand gründlichst um. Von den zwölf Mitgliedern, die 2019 gewählt worden waren, zog nur noch einer in das neue Gremium ein. Der Dortmunder Bundestagsabgeordnete Matthias Helferich (siehe auch S. 22 f.), der selbst den Rechtstrend des Landesverbandes vorantreibt, ohne aber zu den „Flügel“-Kräften zu zählen, jubelte: „Die Zeit der alten Meuthen-Seilschaft ist in unserem Bezirk überwunden.“ Helferich hatte auch einen ganz persönlichen Grund zur Freude: Gerade erst hatte Vincentz‘ neuer Landesvorstand sich per förmlichem Beschluss hinter die Forderung gestellt, Helferich mit einer Ämtersperre zu belegen, weil er sich in einem Chat unter anderem als „das freundliche gesicht des ns“ bezeichnet hatte.Aber statt dieses Votum zu respektieren, wählte ihn die AfD aus dem Regierungsbezirk auf Platz 1 ihrer Delegierten für den Bundesparteitag. An der Spitze des Bezirksvorstands steht nun Christian Zaum, der den AfD-„Gemäßigten“ Peter Bohnhof ablöst. Zaum ist Lehrer für Deutsch und Geschichte, Fraktionsvorsitzender im Kreistag von Siegen-Wittgenstein und stellvertretender Sprecher des dortigen Kreisverbands. Dieser Kreisverband, Beispiel zwei, steht geradezu idealtypisch für die Zerrissenheit des gesamten Landesverbands. Einer aus der Riege der AfD-„Gemäßigten“ sagt über dessen Vorstand, „Inkompetenz und Flügelgehorsam“ würden ihn auszeichnen. Während Parteichef Roland Steffe in der Kreistagsfraktion sogar noch die Geschäfte führen darf, gehört er der von fünf auf drei Mitglieder geschrumpften Stadtratsfraktion in Siegen gar nicht mehr an. Dort haben die angeblich „Gemäßigten“ das Sagen, an der Spitze Michael M. Schwarzer, der zugleich Pressesprecher der AfD-Landtagsfraktion ist. Schwarzer ist meist mit von der Partie, wenn in der Landes-AfD Strippen gezogen werden. So war es schon, als Marcus Pretzell in NRW Regie führte — so ist es noch heute. Er stehe „für den bürgerlichen Kern der Partei“, beeilte sich seine Ratsfraktion zu betonen, nachdem Schwarzer an deren Spitze gewählt worden war. Siegen-Wittgensteins AfD: Das sind zwei Parteien unter einem Dach.Nur das Label vereintLandesweit sind es sogar mehr als zwei Parteien, die das Label AfD — und nicht viel mehr — vereint und die in wechselnden Konstellationen um die Macht ringen. Da gibt es die Gruppe, die sich seit Jahren um ein moderateres Erscheinungsbild bemüht. Schwarzer und der Bochumer Kreisvorsitzende Markus Scheer stehen dafür. Beide eint, dass ihre Chancen für persönliche Karrieren in der Partei denkbar gering sind: bei Scheer, weil er einst wegen Bilanzfälschung, Kreditbetrug und Untreue zu drei Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt wurde und daher als wenig präsentabel gilt, bei Schwarzer, weil er einmal bei einer Kandidatenvorstellung seine frühere Mitgliedschaft bei den „Grünen“ zu erwähnen „vergaß“ — ein K.O.-Kriterium bei der AfD.Auf der anderen Seite existieren nach wie vor die alten Netzwerke des „Flügels“ in NRW. Mit Thomas Röckemann und Christian Blex stellt er aktuell zwei Landtagsmitglieder. Sie machen sich Hoffnung, auch ins neue Landesparlament einziehen zu können. Blex steht auf Platz 5 der Landesliste, Röckemann auf Platz 13. Zumindest phasenweise konnte ein drittes Lager in den letzten zwei Jahren eine Mehrheit hinter sich wissen. Den Kern bildeten Ex-Landeschef Rüdiger Lucassen und sein Stellvertreter Helferich. Dabei versuchte Ex-Bundeswehroberst Lucassen den „seriösen“ Part zu geben, während Helferich sich um die „neurechte“ Durchdringung der AfD bemühte.Rund um die größeren Gruppen kreisen einige Solitäre. Renner, der selten zu erwähnen vergisst, dass er Anfang 2013 einer der Mitbegründer der AfD war, ihren Namen kreierte und das Logo entwarf, gehört dazu. In den Vordergrund gedrängt hat sich auch der Siegener Unternehmer Henning Zoz, der sich um jedes erreichbare oder nicht erreichbare Amt zu bemühen scheint. Feste Gruppen formieren sich nicht hinter beiden. Was freilich nicht ausschließt, dass sie bei Parteitagen erstaunlich gute Ergebnisse erzielen. Zoz zum Beispiel: Als die AfD ihren Spitzenkandidaten für die Landtagswahl bestimmte, votierte mehr als ein Drittel der Delegierten für das landespolitisch gänzlich unerfahrene Kuratoriumsmitglied der Desiderius-Erasmus-Stiftung. Parteiintern hatte er sich einen Namen gemacht, weil er in Zeiten der Maskenpflicht bevorzugt mit Darth-Vader-Maske unterwegs war. Einige in der Partei, die sich um bürgerliche Reputierlichkeit sorgten, schauten betreten weg; andere bewunderten seinen „Mut“. Jedenfalls sorgten Letztere bei der Kür des Spitzenkandidaten mit ihrem Votum für Zoz dafür, dass der bisherige Fraktionsvorsitzende Markus Wagner nur mit mageren 52 Prozent auf Listenplatz eins gesetzt — und damit eher abgestraft wurde.Blasse FraktionDabei hat die AfD Wagner, 2004 bis 2006 Vorsitzender der Offensive D, der früheren Schill-Partei, eigentlich viel zu verdanken. Mit wenigen Ausnahmen verhinderte er in den Jahren seit 2017, dass der Streit in der Partei öffentlich erkennbar auf die Fraktion übergriff. Und zugleich sorgte er dafür, dass das interne Murren über Abgeordnete, denen Urlaubsreisen oder Auftritte bei Demonstrationen wichtiger waren als die Arbeit im Parlament, nicht zu sehr nach draußen drang. Während sich AfD-Fraktionen in Niedersachsen, Schleswig-Holstein oder Bremen zerlegten, hielt der Laden in Düsseldorf zusammen. Selbstverständlich war das nicht. Denn die Fliehkräfte waren enorm. Auf der einen Seite die große Mehrheit der Anhänger von Jörg Meuthen, unter anderem Ex-Landeschef Helmut Seifen und Vincentz. Auf der anderen Seite Blex/Röckemann. In der Fraktion hatte das „Flügel“-Duo wenig zu melden — in der Partei dafür deutlich mehr: Immerhin verhinderten sie so, dass die Fraktion vor fünf Jahren für Armin Laschet als Ministerpräsident stimmte, wie die Riege um Pretzell das eigentlich im Sinn gehabt hatte.Auch wenn die Fraktion nach dem Abgang von Pretzell und Co. unbeschädigt blieb, gelang es ihr kaum einmal, mit eigenen Vorstößen in die Schlagzeilen zu kommen. Stattdessen fiel sie durch Missgeschicke, Polit-Inszenierungen und den Versuch der Selbstverharmlosung öffentlich auf: sei es bei der Laschet-Wahl 2017, bei einem angeblichen Bergarbeiterprotest im Parlament 2019 oder 2020 mit der Herausgabe eines rassistischen Malbuchs, das dann nach massiver Kritik wieder zurückgezogen werden musste.Im UmfragelochUmfragen sehen die NRW-AfD bei Redaktionsschluss dieser LOTTA-Ausgabe zwischen sechs und acht Prozent. Doch ausgeschlossen ist es nicht, dass ihre Zeit im Landtag nach fünf Jahren schon wieder zu Ende geht. Die Entscheidung des Kölner Verwaltungsgerichts, das dem Verfassungsschutz die Einstufung der Partei als „Verdachtsfall“ für extremistische Bestrebungen genehmigte, kann auch Wähler:innen abschrecken. Weitere Faktoren kommen hinzu. Etwa der Trend des vorigen Jahres, als die AfD in zwei anderen westdeutschen Flächenländern, in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, mehr als ein Drittel ihrer Stimmen verlor. Oder die Pleite bei der NRW-Kommunalwahl vom September 2020, als die Funktionär:innen von einem zweistelligen Ergebnis träumten, die AfD am Ende aber nur mit Mühe über fünf Prozent kam. Und da ist die doppelte parteipolitische Konkurrenz, die in diesem Jahr in der potenziellen AfD-Klientel wildern könnte: auf der einen Seite die Freien Wähler, die um ein rechts-„bürgerliches“ Publikum buhlen, auf der anderen Seite dieBasis, die konsequenter noch als die AfD Corona-Leugner:innen anspricht.Und schließlich dürften auch die AfD- Ergebnisse aus zwei anderen Bundesländern nicht ohne Einfluss auf NRW bleiben. Im Saarland, wo die AfD nicht einmal in der Lage war, eine Landesliste aufzustellen, kam sie nur noch auf 5,7 Prozent. Schleswig-Holstein, wo die AfD noch schwächer dasteht als in NRW, stimmt eine Woche vor den Wahlberechtigten an Rhein und Ruhr ab. Ein Landtag ohne AfD: Möglich wäre das.---Die AfD tritt am 15. Mai 2022 mit einer 23-köpfigen Landesliste an. Auf Wagner und Vincentz folgen auf den nächsten vier Plätzen weitere Politiker, die derzeit bereits dem Landtag angehören. Insgesamt kandidieren neun der aktuell 13 AfD-Abgeordneten erneut. Erste von nur zwei Frauen auf der Liste ist Enxhi Seli-Zacharias auf Platz sieben. Die Liste im Überblick:Markus Wagner (Minden-Lübbecke)Martin Vincentz (Krefeld)Andreas Keith (Leverkusen)Christian Loose (Bochum)Christian Blex (Warendorf)Sven Tritschler (Köln)Enxhi Seli-Zacharias (Gelsenkirchen)Carlo Clemens (Rheinisch-Bergischer Kreis)Hartmut Beucker (Wuppertal)Klaus Esser (Düren)Daniel Zerbin (Recklinghausen)Zacharias Schalley (Rhein-Kreis Neuss)Thomas Röckemann (Minden-Lübbecke)Helmut Seifen (Borken)Iris Dworeck-Danielowski (Köln)Christian Zaum (Siegen-Wittgenstein)Alexander Schaary (Duisburg)Udo Pauen (Bottrop)Bernd Rummler (Oberbergischer Kreis)Ulrich von Zons (Soest)Jürgen Antoni (Hochsauerlandkreis)Maxim Dyck (Gütersloh)Dietmar Gedig (Solingen) Extreme Rechte 7738 Tue, 17 May 2022 10:17:32 +0200 LOTTA Scheitern nicht ausgeschlossen Rainer Roeser Die Inszenierung hätte so schön sein können. Mit klarer Mehrheit wählte Anfang Februar 2022 ein Parteitag in Siegen Martin Vincentz zum AfD-Landeschef in NRW. Nach dem ersten Parteichef Alexander Dilger, der noch im Übermaß das Flair der neoliberalen „Professorenpartei“ verströmt hatte, nach dem halbseiden wirkenden Marcus Pretzell, nach dem dauermonologisierenden Martin Renner, nach dem verkrachten Führungsduo Helmut Seifen/Thomas Röckemann und nach dem sich chronisch überschätzenden Rüdiger Lucassen schien endlich ein neuer Vorsitzender ohne all die Makel seiner Vorgänger gefunden zu sein. 63 Prozent stimmten für den 35-jährigen Arzt vom Niederrhein, 31 Prozent für seinen Gegenkandidaten — für AfD-Verhältnisse ein deutliches Ergebnis. Martin Vincentz‘ Aufstieg an die Spitze seiner Partei hatte seine Zeit gebraucht. Lange interessierte „sein“ Thema, die Gesundheitspolitik, kaum jemanden in der AfD. Doch Corona spülte ihn nach oben. Es war sein Thema im Landtag in den letzten zwei Jahren. Schon als die NRW-AfD im vorigen Oktober ihre Kandidaten für die Landtagswahl bestimmte, war er dafür belohnt worden. Mit ganz und gar untypischen 96 Prozent wählten ihn die Delegierten auf Listenplatz zwei, gleich hinter Fraktionschef Markus Wagner. Die NRW-AfD — jahrelang durch Fehden und Intrigen gebeutelt, mal ideologisch begründet, mal durch schlichte Karriereambitionen motiviert — hatte einen neuen Hoffnungsträger gefunden. Einen, der nicht durch Poltereien abschreckt, einen, der west-wähler:innen-kompatibel wirken und für so etwas wie eine Verjüngung stehen soll.Kurze EintrachtSo schön hätte die Inszenierung sein können. Doch die NRW-AfD wäre nicht die NRW-AfD, wenn die neue Eintracht lange währen würde. Zwei Beispiele aus der Provinz: Wenige Wochen nach jenem Landesparteitag, der Vincentz an die Spitze der Partei wählte, kamen rund 90 Delegierte aus dem Regierungsbezirk Arnsberg in Letmathe zu ihrem längst überfälligen Bezirksparteitag zusammen. Sie bauten ihren Vorstand gründlichst um. Von den zwölf Mitgliedern, die 2019 gewählt worden waren, zog nur noch einer in das neue Gremium ein. Der Dortmunder Bundestagsabgeordnete Matthias Helferich (siehe auch S. 22 f.), der selbst den Rechtstrend des Landesverbandes vorantreibt, ohne aber zu den „Flügel“-Kräften zu zählen, jubelte: „Die Zeit der alten Meuthen-Seilschaft ist in unserem Bezirk überwunden.“ Helferich hatte auch einen ganz persönlichen Grund zur Freude: Gerade erst hatte Vincentz‘ neuer Landesvorstand sich per förmlichem Beschluss hinter die Forderung gestellt, Helferich mit einer Ämtersperre zu belegen, weil er sich in einem Chat unter anderem als „das freundliche gesicht des ns“ bezeichnet hatte.Aber statt dieses Votum zu respektieren, wählte ihn die AfD aus dem Regierungsbezirk auf Platz 1 ihrer Delegierten für den Bundesparteitag. An der Spitze des Bezirksvorstands steht nun Christian Zaum, der den AfD-„Gemäßigten“ Peter Bohnhof ablöst. Zaum ist Lehrer für Deutsch und Geschichte, Fraktionsvorsitzender im Kreistag von Siegen-Wittgenstein und stellvertretender Sprecher des dortigen Kreisverbands. Dieser Kreisverband, Beispiel zwei, steht geradezu idealtypisch für die Zerrissenheit des gesamten Landesverbands. Einer aus der Riege der AfD-„Gemäßigten“ sagt über dessen Vorstand, „Inkompetenz und Flügelgehorsam“ würden ihn auszeichnen. Während Parteichef Roland Steffe in der Kreistagsfraktion sogar noch die Geschäfte führen darf, gehört er der von fünf auf drei Mitglieder geschrumpften Stadtratsfraktion in Siegen gar nicht mehr an. Dort haben die angeblich „Gemäßigten“ das Sagen, an der Spitze Michael M. Schwarzer, der zugleich Pressesprecher der AfD-Landtagsfraktion ist. Schwarzer ist meist mit von der Partie, wenn in der Landes-AfD Strippen gezogen werden. So war es schon, als Marcus Pretzell in NRW Regie führte — so ist es noch heute. Er stehe „für den bürgerlichen Kern der Partei“, beeilte sich seine Ratsfraktion zu betonen, nachdem Schwarzer an deren Spitze gewählt worden war. Siegen-Wittgensteins AfD: Das sind zwei Parteien unter einem Dach.Nur das Label vereintLandesweit sind es sogar mehr als zwei Parteien, die das Label AfD — und nicht viel mehr — vereint und die in wechselnden Konstellationen um die Macht ringen. Da gibt es die Gruppe, die sich seit Jahren um ein moderateres Erscheinungsbild bemüht. Schwarzer und der Bochumer Kreisvorsitzende Markus Scheer stehen dafür. Beide eint, dass ihre Chancen für persönliche Karrieren in der Partei denkbar gering sind: bei Scheer, weil er einst wegen Bilanzfälschung, Kreditbetrug und Untreue zu drei Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt wurde und daher als wenig präsentabel gilt, bei Schwarzer, weil er einmal bei einer Kandidatenvorstellung seine frühere Mitgliedschaft bei den „Grünen“ zu erwähnen „vergaß“ — ein K.O.-Kriterium bei der AfD.Auf der anderen Seite existieren nach wie vor die alten Netzwerke des „Flügels“ in NRW. Mit Thomas Röckemann und Christian Blex stellt er aktuell zwei Landtagsmitglieder. Sie machen sich Hoffnung, auch ins neue Landesparlament einziehen zu können. Blex steht auf Platz 5 der Landesliste, Röckemann auf Platz 13. Zumindest phasenweise konnte ein drittes Lager in den letzten zwei Jahren eine Mehrheit hinter sich wissen. Den Kern bildeten Ex-Landeschef Rüdiger Lucassen und sein Stellvertreter Helferich. Dabei versuchte Ex-Bundeswehroberst Lucassen den „seriösen“ Part zu geben, während Helferich sich um die „neurechte“ Durchdringung der AfD bemühte.Rund um die größeren Gruppen kreisen einige Solitäre. Renner, der selten zu erwähnen vergisst, dass er Anfang 2013 einer der Mitbegründer der AfD war, ihren Namen kreierte und das Logo entwarf, gehört dazu. In den Vordergrund gedrängt hat sich auch der Siegener Unternehmer Henning Zoz, der sich um jedes erreichbare oder nicht erreichbare Amt zu bemühen scheint. Feste Gruppen formieren sich nicht hinter beiden. Was freilich nicht ausschließt, dass sie bei Parteitagen erstaunlich gute Ergebnisse erzielen. Zoz zum Beispiel: Als die AfD ihren Spitzenkandidaten für die Landtagswahl bestimmte, votierte mehr als ein Drittel der Delegierten für das landespolitisch gänzlich unerfahrene Kuratoriumsmitglied der Desiderius-Erasmus-Stiftung. Parteiintern hatte er sich einen Namen gemacht, weil er in Zeiten der Maskenpflicht bevorzugt mit Darth-Vader-Maske unterwegs war. Einige in der Partei, die sich um bürgerliche Reputierlichkeit sorgten, schauten betreten weg; andere bewunderten seinen „Mut“. Jedenfalls sorgten Letztere bei der Kür des Spitzenkandidaten mit ihrem Votum für Zoz dafür, dass der bisherige Fraktionsvorsitzende Markus Wagner nur mit mageren 52 Prozent auf Listenplatz eins gesetzt — und damit eher abgestraft wurde.Blasse FraktionDabei hat die AfD Wagner, 2004 bis 2006 Vorsitzender der Offensive D, der früheren Schill-Partei, eigentlich viel zu verdanken. Mit wenigen Ausnahmen verhinderte er in den Jahren seit 2017, dass der Streit in der Partei öffentlich erkennbar auf die Fraktion übergriff. Und zugleich sorgte er dafür, dass das interne Murren über Abgeordnete, denen Urlaubsreisen oder Auftritte bei Demonstrationen wichtiger waren als die Arbeit im Parlament, nicht zu sehr nach draußen drang. Während sich AfD-Fraktionen in Niedersachsen, Schleswig-Holstein oder Bremen zerlegten, hielt der Laden in Düsseldorf zusammen. Selbstverständlich war das nicht. Denn die Fliehkräfte waren enorm. Auf der einen Seite die große Mehrheit der Anhänger von Jörg Meuthen, unter anderem Ex-Landeschef Helmut Seifen und Vincentz. Auf der anderen Seite Blex/Röckemann. In der Fraktion hatte das „Flügel“-Duo wenig zu melden — in der Partei dafür deutlich mehr: Immerhin verhinderten sie so, dass die Fraktion vor fünf Jahren für Armin Laschet als Ministerpräsident stimmte, wie die Riege um Pretzell das eigentlich im Sinn gehabt hatte.Auch wenn die Fraktion nach dem Abgang von Pretzell und Co. unbeschädigt blieb, gelang es ihr kaum einmal, mit eigenen Vorstößen in die Schlagzeilen zu kommen. Stattdessen fiel sie durch Missgeschicke, Polit-Inszenierungen und den Versuch der Selbstverharmlosung öffentlich auf: sei es bei der Laschet-Wahl 2017, bei einem angeblichen Bergarbeiterprotest im Parlament 2019 oder 2020 mit der Herausgabe eines rassistischen Malbuchs, das dann nach massiver Kritik wieder zurückgezogen werden musste.Im UmfragelochUmfragen sehen die NRW-AfD bei Redaktionsschluss dieser LOTTA-Ausgabe zwischen sechs und acht Prozent. Doch ausgeschlossen ist es nicht, dass ihre Zeit im Landtag nach fünf Jahren schon wieder zu Ende geht. Die Entscheidung des Kölner Verwaltungsgerichts, das dem Verfassungsschutz die Einstufung der Partei als „Verdachtsfall“ für extremistische Bestrebungen genehmigte, kann auch Wähler:innen abschrecken. Weitere Faktoren kommen hinzu. Etwa der Trend des vorigen Jahres, als die AfD in zwei anderen westdeutschen Flächenländern, in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, mehr als ein Drittel ihrer Stimmen verlor. Oder die Pleite bei der NRW-Kommunalwahl vom September 2020, als die Funktionär:innen von einem zweistelligen Ergebnis träumten, die AfD am Ende aber nur mit Mühe über fünf Prozent kam. Und da ist die doppelte parteipolitische Konkurrenz, die in diesem Jahr in der potenziellen AfD-Klientel wildern könnte: auf der einen Seite die Freien Wähler, die um ein rechts-„bürgerliches“ Publikum buhlen, auf der anderen Seite dieBasis, die konsequenter noch als die AfD Corona-Leugner:innen anspricht.Und schließlich dürften auch die AfD- Ergebnisse aus zwei anderen Bundesländern nicht ohne Einfluss auf NRW bleiben. Im Saarland, wo die AfD nicht einmal in der Lage war, eine Landesliste aufzustellen, kam sie nur noch auf 5,7 Prozent. Schleswig-Holstein, wo die AfD noch schwächer dasteht als in NRW, stimmt eine Woche vor den Wahlberechtigten an Rhein und Ruhr ab. Ein Landtag ohne AfD: Möglich wäre das.---Die AfD tritt am 15. Mai 2022 mit einer 23-köpfigen Landesliste an. Auf Wagner und Vincentz folgen auf den nächsten vier Plätzen weitere Politiker, die derzeit bereits dem Landtag angehören. Insgesamt kandidieren neun der aktuell 13 AfD-Abgeordneten erneut. Erste von nur zwei Frauen auf der Liste ist Enxhi Seli-Zacharias auf Platz sieben. Die Liste im Überblick:Markus Wagner (Minden-Lübbecke)Martin Vincentz (Krefeld)Andreas Keith (Leverkusen)Christian Loose (Bochum)Christian Blex (Warendorf)Sven Tritschler (Köln)Enxhi Seli-Zacharias (Gelsenkirchen)Carlo Clemens (Rheinisch-Bergischer Kreis)Hartmut Beucker (Wuppertal)Klaus Esser (Düren)Daniel Zerbin (Recklinghausen)Zacharias Schalley (Rhein-Kreis Neuss)Thomas Röckemann (Minden-Lübbecke)Helmut Seifen (Borken)Iris Dworeck-Danielowski (Köln)Christian Zaum (Siegen-Wittgenstein)Alexander Schaary (Duisburg)Udo Pauen (Bottrop)Bernd Rummler (Oberbergischer Kreis)Ulrich von Zons (Soest)Jürgen Antoni (Hochsauerlandkreis)Maxim Dyck (Gütersloh)Dietmar Gedig (Solingen) 2022-05-17T10:17:32+02:00 „Mut zur Provokation und Diskursraumerweiterung“ | Matthias Helferich im Portrait https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/86/mut-zur-provokation-und-diskursraumerweiterung Der Dortmunder Bundestagsabgeordnete und ehemalige Partei-Vize der nordrhein-westfälischen AfD wirbt für sich unter dem Motto: „jung, freiheitlich und heimatverliebt“. Er steht dem völkisch-nationalen Flügel der AfD nahe. Durch geleakte Chatprotokolle, in denen er sich selbst „als freundliches Gesicht des NS“ und „demokratischen Freisler“ bezeichnete, wurde er einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.Matthias Helferich wuchs in Dortmund auf, zu Schulzeiten war er in der CDU-nahen Schüler Union Nordrhein Westfalens aktiv und von 2005-2006 deren Landesvorsitzender. Ehemalige Mitschüle­r­:innen berichten, dass er schon immer ein „Arschloch“ gewesen sei, das durch rassistische Äußerungen auffiel. Mittlerweile hat er für die Christdemokraten nur noch Verachtung übrig. In einer Rede, die er im Februar im Bundestag hielt, bezeichnete er CDUler als „pseudokonservative Waschlappen“. Helferich studierte nach seinem Wehrdienst Jura in Bochum und Bonn und trat der Bonner Burschenschaft Frankonia bei. Seit 2020 ist er als Rechtsanwalt zugelassen.Als stellvertretender Landesvorsitzender der AfD in Nordrhein-Westfalen zog Helferich im September 2021 in den 20. Deutschen Bundestag ein. Im JA-Magazin Distel stellte er sich als „Kandidat der idealistischen Jugend zwischen Rhein und Ruhr“ vor. Er selbst charakterisiert sich dort als Politiker, der angetreten sei, um „professionelle parlamentarische Arbeit, Bürgernähe in der Heimat“ und „Angriffslust“ mit „Mut zur Provokation und Diskursraumerweiterung“ zu verknüpfen. Er spekuliert offen darüber, wie man mit den Einkünften aus der parlamentarischen Tätigkeit das politische Vorfeld der AfD unterstützen und eine rechte „Kampfgemeinschaft“ formen könne. Bemerkenswert ist, dass Helferich in diesem Zusammenhang nicht nur von einer Kampf- sondern auch von einer „Gesinnungsgemeinschaft“ spricht. Der Jungen Alternative (JA) rät er außerdem, provokanter aufzutreten.„Das freundliche Gesicht des NS“Sein eigener Mut zur Provokation und Diskursraumerweiterung wurde Helferich schließlich zum Verhängnis. Infolge des Skandals um die „NS“-Chatnachrichten aus den Jahren 2016 und 2017, verzichtete Helferich unter dem Druck der Partei auf die Fraktionszugehörigkeit. Der ehemalige AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen forderte sogar den Parteiausschluss Helferichs, verfehlte jedoch die hierfür notwendige Zweidrittel-Mehrheit im Bundesvorstand der AfD. Vorerst durfte Helferich bleiben. Die JA solidarisierte sich mit ihm und bekannte: „Die AfD lebt von Köpfen wie dir!“ Einer der ersten, die sich hinter Helferich stellten, war der ehemalige Aktivist der Identitären Bewegung Nils Hartwig (vgl. LOTTA #78), der als sein enger Vertrauter gilt.LokalpolitikNeben seinem Bundestagsmandat ist Helferich auch lokalpolitisch aktiv. Er ist Mitglied des Rates der Stadt Dortmund sowie der Bezirksvertretung Scharnhorst. Auch hier fällt er durch Populismus und Provokation auf. Bei der Wahlparty der AfD zum Einzug in den Rat der Stadt Dortmund trug Helferich eine Kornblume am Revers, Symbol der 22. SS-Kavallerie-Division und in Österreich Symbol der NS-Bewegung zur Zeit ihres Verbotes. In der Bezirksvertretung setzt er sich gemeinsam mit Mike Dennis Barthold für mehr Law-and-Order-Politik ein. Helferich berichtet unter Verweis auf das „Netzwerk“ Russlanddeutsche für die AfD NRW, dass er viele Gespräche mit Russlanddeutschen in Scharnhorst führe, die der AfD wohlgesonnen seien. Auf lokaler Ebene ist Helferich in den vergangenen Monaten vor allem durch die Beteiligung an Demonstrationen gegen die Coronapolitik aufgefallen. Sowohl in Düsseldorf als auch in Dortmund beteiligte Helferich sich an Aufmärschen der Pandemieleugner:innen, mit Verweis auf die AfD-Kampagne „Gesund ohne Zwang“.Themenschwerpunkte Inflation, Migration, CoronaUnter dem Motto: „Gegen Impfzwang, Inflation und Massenmigration“ mobilisierte Helferich am 30. November letzten Jahres nach Dortmund-Hörde. Als vermeintlicher Anwalt „der kleinen Leute“, inszenierte er sich vor der Hörder Burg. In seiner Rede bediente er rassistische, faschistische und antisemitische Ideen und Bilder. Ziel war es offenbar, gezielt das verschwörungsideologische Spektrum der Corona-Leugner:innen anzusprechen. Sprachlich und ideologisch unterscheidet sich Helferich teilweise kaum noch von der neonazistischen Rechten. So ist es kaum verwunderlich, dass die Partei Die Rechte den Aufruf der AfD teilte und etwa 20 Neonazis dem Aufruf folgten, um bei vermeintlich „bürgerlicheren“ rechten Kräften Anschluss zu finden. Im Anschluss an die Veranstaltung wurden drei Neonazis aus dem Umfeld der Partei Die Rechte festgenommen, weil sie zuvor Antifas angegriffen hatten.Fest verankert in der „Neuen Rechten“Wer sich einen Eindruck von Helferichs inhaltlichen Positionierungen verschaffen möchte, kann sich exemplarisch seine Reden im Bundestag anhören. Diese sind von purem Rassismus und populistischen Äußerungen durchzogen. Seine jüngste Rede zum Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission, nutzte er, um Migration als „Angriff auf die Europäische Lebensweise“, welche sich „gegen den Willen der Europäischen Völker“ richte, heranzuziehen. „Die Europäer“ wollten Helferich zufolge „nicht Opfer einer großen europäischen Transformation zu werden“ und „nicht in abendländischen Parallelgesellschaften leben“. Hier bedient er die „neurechte“ Verschwörungsideologie des „großen Austausches“.Helferich proklamiert auf seiner Webseite, dass er Stipendien für Mitglieder der Jungen Alternative und „parteiunabhängige Projekte aus dem politischen Vorfeld“ anbiete. Diesen Stipendiaten bietet er regelmäßig Vorträge mit Akteur:innen der „Neuen Rechten“ aus dem Umfeld der JA NRW an. In diesem Frühjahr fanden beispielsweise ein Seminar mit Tim Csehan zum „Konzept der wehrhaften Demokratie“ und ein Vortrag mit Zacharias Schalley zur Ökologie von rechts mit kostenloser Leseprobe der extrem rechten Ökologiezeitschrift „Die Kehre“ statt. Auf seinen Social-Media-Kanälen bewirbt er das Projekt „Gegenuni“ für „Akademische Kontrakultur“ und regelmäßig Bücher des Antaios-Verlags, zuletzt „Ansage“ und „Konservativenbeschimpfung“ von Manfred Kleine-Hartlage sowie Günther Scholdts „Brechts »Die Maßnahme« und die AfD“.Karriere vor dem Ende?Dem AfD-Landesvorstand, der im Februar in Siegen neu gewählt wurde, wird Helferich künftig nicht mehr angehören. Ebenso wie sein einstiger Förderer Rüdiger Lucassen. So ganz will die AfD Helferich dann aber doch nicht fallen lassen: Auf dem Siegener Parteitag wurde er ausgerechnet in das Landesschiedsgericht gewählt, also jenes Gremium, das über seine Zukunft entscheiden wird. 52,23 Prozent der Delegierten votierten für Helferich. Aufgrund von Befangenheit wird er zwar nicht in eigener Sache mitentscheiden können — aber die Wahl hat zumindest symbolische Wirkung. Die JA lädt unterdessen demonstrativ am 23. April 2022 unter dem Motto: „Die Jugend wählt Blau“ zum Wahlkampfevent nach Dortmund ein. Mit dabei: Matthias Helferich. Extreme Rechte 7737 Tue, 17 May 2022 10:14:13 +0200 LOTTA „Mut zur Provokation und Diskursraumerweiterung“ Hannah Tietze Der Dortmunder Bundestagsabgeordnete und ehemalige Partei-Vize der nordrhein-westfälischen AfD wirbt für sich unter dem Motto: „jung, freiheitlich und heimatverliebt“. Er steht dem völkisch-nationalen Flügel der AfD nahe. Durch geleakte Chatprotokolle, in denen er sich selbst „als freundliches Gesicht des NS“ und „demokratischen Freisler“ bezeichnete, wurde er einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.Matthias Helferich wuchs in Dortmund auf, zu Schulzeiten war er in der CDU-nahen Schüler Union Nordrhein Westfalens aktiv und von 2005-2006 deren Landesvorsitzender. Ehemalige Mitschüle­r­:innen berichten, dass er schon immer ein „Arschloch“ gewesen sei, das durch rassistische Äußerungen auffiel. Mittlerweile hat er für die Christdemokraten nur noch Verachtung übrig. In einer Rede, die er im Februar im Bundestag hielt, bezeichnete er CDUler als „pseudokonservative Waschlappen“. Helferich studierte nach seinem Wehrdienst Jura in Bochum und Bonn und trat der Bonner Burschenschaft Frankonia bei. Seit 2020 ist er als Rechtsanwalt zugelassen.Als stellvertretender Landesvorsitzender der AfD in Nordrhein-Westfalen zog Helferich im September 2021 in den 20. Deutschen Bundestag ein. Im JA-Magazin Distel stellte er sich als „Kandidat der idealistischen Jugend zwischen Rhein und Ruhr“ vor. Er selbst charakterisiert sich dort als Politiker, der angetreten sei, um „professionelle parlamentarische Arbeit, Bürgernähe in der Heimat“ und „Angriffslust“ mit „Mut zur Provokation und Diskursraumerweiterung“ zu verknüpfen. Er spekuliert offen darüber, wie man mit den Einkünften aus der parlamentarischen Tätigkeit das politische Vorfeld der AfD unterstützen und eine rechte „Kampfgemeinschaft“ formen könne. Bemerkenswert ist, dass Helferich in diesem Zusammenhang nicht nur von einer Kampf- sondern auch von einer „Gesinnungsgemeinschaft“ spricht. Der Jungen Alternative (JA) rät er außerdem, provokanter aufzutreten.„Das freundliche Gesicht des NS“Sein eigener Mut zur Provokation und Diskursraumerweiterung wurde Helferich schließlich zum Verhängnis. Infolge des Skandals um die „NS“-Chatnachrichten aus den Jahren 2016 und 2017, verzichtete Helferich unter dem Druck der Partei auf die Fraktionszugehörigkeit. Der ehemalige AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen forderte sogar den Parteiausschluss Helferichs, verfehlte jedoch die hierfür notwendige Zweidrittel-Mehrheit im Bundesvorstand der AfD. Vorerst durfte Helferich bleiben. Die JA solidarisierte sich mit ihm und bekannte: „Die AfD lebt von Köpfen wie dir!“ Einer der ersten, die sich hinter Helferich stellten, war der ehemalige Aktivist der Identitären Bewegung Nils Hartwig (vgl. LOTTA #78), der als sein enger Vertrauter gilt.LokalpolitikNeben seinem Bundestagsmandat ist Helferich auch lokalpolitisch aktiv. Er ist Mitglied des Rates der Stadt Dortmund sowie der Bezirksvertretung Scharnhorst. Auch hier fällt er durch Populismus und Provokation auf. Bei der Wahlparty der AfD zum Einzug in den Rat der Stadt Dortmund trug Helferich eine Kornblume am Revers, Symbol der 22. SS-Kavallerie-Division und in Österreich Symbol der NS-Bewegung zur Zeit ihres Verbotes. In der Bezirksvertretung setzt er sich gemeinsam mit Mike Dennis Barthold für mehr Law-and-Order-Politik ein. Helferich berichtet unter Verweis auf das „Netzwerk“ Russlanddeutsche für die AfD NRW, dass er viele Gespräche mit Russlanddeutschen in Scharnhorst führe, die der AfD wohlgesonnen seien. Auf lokaler Ebene ist Helferich in den vergangenen Monaten vor allem durch die Beteiligung an Demonstrationen gegen die Coronapolitik aufgefallen. Sowohl in Düsseldorf als auch in Dortmund beteiligte Helferich sich an Aufmärschen der Pandemieleugner:innen, mit Verweis auf die AfD-Kampagne „Gesund ohne Zwang“.Themenschwerpunkte Inflation, Migration, CoronaUnter dem Motto: „Gegen Impfzwang, Inflation und Massenmigration“ mobilisierte Helferich am 30. November letzten Jahres nach Dortmund-Hörde. Als vermeintlicher Anwalt „der kleinen Leute“, inszenierte er sich vor der Hörder Burg. In seiner Rede bediente er rassistische, faschistische und antisemitische Ideen und Bilder. Ziel war es offenbar, gezielt das verschwörungsideologische Spektrum der Corona-Leugner:innen anzusprechen. Sprachlich und ideologisch unterscheidet sich Helferich teilweise kaum noch von der neonazistischen Rechten. So ist es kaum verwunderlich, dass die Partei Die Rechte den Aufruf der AfD teilte und etwa 20 Neonazis dem Aufruf folgten, um bei vermeintlich „bürgerlicheren“ rechten Kräften Anschluss zu finden. Im Anschluss an die Veranstaltung wurden drei Neonazis aus dem Umfeld der Partei Die Rechte festgenommen, weil sie zuvor Antifas angegriffen hatten.Fest verankert in der „Neuen Rechten“Wer sich einen Eindruck von Helferichs inhaltlichen Positionierungen verschaffen möchte, kann sich exemplarisch seine Reden im Bundestag anhören. Diese sind von purem Rassismus und populistischen Äußerungen durchzogen. Seine jüngste Rede zum Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission, nutzte er, um Migration als „Angriff auf die Europäische Lebensweise“, welche sich „gegen den Willen der Europäischen Völker“ richte, heranzuziehen. „Die Europäer“ wollten Helferich zufolge „nicht Opfer einer großen europäischen Transformation zu werden“ und „nicht in abendländischen Parallelgesellschaften leben“. Hier bedient er die „neurechte“ Verschwörungsideologie des „großen Austausches“.Helferich proklamiert auf seiner Webseite, dass er Stipendien für Mitglieder der Jungen Alternative und „parteiunabhängige Projekte aus dem politischen Vorfeld“ anbiete. Diesen Stipendiaten bietet er regelmäßig Vorträge mit Akteur:innen der „Neuen Rechten“ aus dem Umfeld der JA NRW an. In diesem Frühjahr fanden beispielsweise ein Seminar mit Tim Csehan zum „Konzept der wehrhaften Demokratie“ und ein Vortrag mit Zacharias Schalley zur Ökologie von rechts mit kostenloser Leseprobe der extrem rechten Ökologiezeitschrift „Die Kehre“ statt. Auf seinen Social-Media-Kanälen bewirbt er das Projekt „Gegenuni“ für „Akademische Kontrakultur“ und regelmäßig Bücher des Antaios-Verlags, zuletzt „Ansage“ und „Konservativenbeschimpfung“ von Manfred Kleine-Hartlage sowie Günther Scholdts „Brechts »Die Maßnahme« und die AfD“.Karriere vor dem Ende?Dem AfD-Landesvorstand, der im Februar in Siegen neu gewählt wurde, wird Helferich künftig nicht mehr angehören. Ebenso wie sein einstiger Förderer Rüdiger Lucassen. So ganz will die AfD Helferich dann aber doch nicht fallen lassen: Auf dem Siegener Parteitag wurde er ausgerechnet in das Landesschiedsgericht gewählt, also jenes Gremium, das über seine Zukunft entscheiden wird. 52,23 Prozent der Delegierten votierten für Helferich. Aufgrund von Befangenheit wird er zwar nicht in eigener Sache mitentscheiden können — aber die Wahl hat zumindest symbolische Wirkung. Die JA lädt unterdessen demonstrativ am 23. April 2022 unter dem Motto: „Die Jugend wählt Blau“ zum Wahlkampfevent nach Dortmund ein. Mit dabei: Matthias Helferich. 2022-05-17T10:14:13+02:00 Parteiischer Journalismus in Kassel | Die eigenen Geschichten in die Öffentlichkeit zu bringen https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/86/parteiischer-journalismus-kassel Über Journalismus herrscht die Meinung vor, er müsste „neutral” sein. Und ist deswegen oft vor allem eines: beliebig. Seit etwa zwei Jahren arbeiten wir in Kassel an einer Plattform für kritischen Lokaljournalismus. Damit wollen wir denen eine Stimme in der Öffentlichkeit geben, die sonst nicht gehört werden. Wie wichtig das ist, zeigt sich auch bei rassistischen Vorfällen.Die pressestelle besteht seit Januar 2020 und ist eine kleine Online-Zeitung für Kassel und Umgebung. Wir organisieren uns als Redaktionskollektiv und sind angedockt an die dezentrale, eine Online-Plattform, auf der es neben unseren Artikeln auch einen Terminkalender und eine Übersicht über linke Strukturen in Kassel gibt. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir, nicht nur das vielfältige politische Leben in Kassel abzubilden, sondern auch denen in der Öffentlichkeit eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden. Ein Beispiel ist ein Vorfall im Kasseler Nordstadtpark im Oktober 2021. Damals wurden zwei Personen aus rassistischen und queerfeindlichen Motiven angegriffen und teils schwer verletzt, eine Polizeimeldung oder einen Artikel in der Lokalpresse gab es darüber aber nicht. Einer der angegriffenen Personen war es sehr wichtig, dass der Vorfall öffentlich gemacht wird. Wir haben dann ein längeres Interview geführt und veröffentlicht.In Kassel war der Mord an Halit Yozgat und das Auffliegen des NSU ein einschneidendes Erlebnis. Als 2011 bekannt wurde, dass die Mordserie einen rassistischen Hintergrund hat, war das etwas, was Migrant:innen schon seit Jahren geahnt hatten. Angehörige der Ermordeten hatten immer wieder den Verdacht geäußert, Neonazis könnten die Taten begangen haben. Gehört wurden sie in der Öffentlichkeit aber nicht. Das ist eine Lehre, die man aus dem NSU-Komplex ziehen kann, und einer der Gründe, warum wir versuchen, die Betroffenen von Gewalt ihre Geschichte erzählen zu lassen.Dass die lokale rechte Szene nach dem Mord an Walter Lübcke bundesweit im Fokus der Öffentlichkeit stand, hat ein leicht verzerrtes Bild von den Zuständen in Kassel erzeugt. Im Alltag spielen Neonazis nur eine unbedeutende Rolle, und auch ein „Hotspot” rechter Gewalt ist Kassel nicht. Trotzdem erfahren Menschen auch hier Gewalt aus rassistischen, antisemitischen oder sexistischen Gründen. Als Teil unserer Arbeit verstehen wir nicht nur, darauf aufmerksam zu machen, sondern auch den Betroffenen eine Bühne zu bieten, die sie nutzen können, wenn sie das wollen. Oft werden vor allem bei der Berichterstattung über Straftaten Polizeimeldungen unkritisch übernommen. Für uns ist die Polizei keine „neutrale” Quelle, und was der Polizeisprecher zu sagen hat, interessiert uns erstmal nicht. Die polizeiliche Version wird ohnehin in allen anderen Medien verbreitet. Wir suchen grundsätzlich das Gespräch mit den Betroffenen. Damit können wir zwar keine „Ermittlungen” anstellen, um herauszufinden, was wirklich passiert ist, aber wir können ihre Erfahrungen, ihre Sichtweise und Einschätzung öffentlich machen und anderen Erzählungen gegenüberstellen.Hintergründe recherchierenAls zum Beispiel im Sommer 2020 der Kasseler Minicar-Fahrer Efe von einem Fahrgast mit einem Messer in den Hals gestochen wurde, fand sich auch nur genau das in der Polizeimeldung und schließlich in der Zeitung. Es kursierte aber das Gerücht in der Stadt, die Tat habe einen rassistischen Hintergrund gehabt. Wir haben uns dann bemüht, mit dem Betroffenen selbst oder Menschen aus seinem Umfeld Kontakt aufzunehmen. Der Leiter des Unternehmens bestätigte uns, dass sein Fahrer rassistisch beleidigt worden war, bevor der Täter zustach. Wir konnten damit nicht bloß auf den rassistischen Hintergrund der Tat aufmerksam machen, sondern auch die Frage aufwerfen, warum dies weder in der Polizeimeldung, noch in der bisherigen Berichterstattung auftauchte. Ob das absichtlich verschwiegen wurde oder bis dahin einfach niemand danach gefragt hatte, ist uns leider nicht bekannt. Auf unseren Artikel haben sich dann aber auch größere Medien bezogen und den rassistischen Hintergrund thematisiert. Mit diesem Wissen entstand dann relativ schnell eine Soli-Initiative, die kurz darauf mit einem Auto- und Fahrradkorso auf den Fall und den rassistischen Hintergrund aufmerksam machte. Gefunden wurde der Täter bisher trotzdem nicht.Mittlerweile suchen Menschen von sich aus das Gespräch mit uns, wenn sie etwas mitbekommen, das öffentlich gemacht werden soll. Zudem stoßen wir in unserem Umfeld immer wieder auf Geschichten, die wir erzählen wollen, und versuchen, sie zu skandalisieren. Zum Beispiel versuchte die Stadt Kassel mittlerweile mindestens drei Mal, politisch aktive Kurd:innen in die Türkei abzuschieben. Grund dafür sind vor allem deren Gesinnung und Aktivismus. Das wird besonders im Fall von Muhiddin F. deutlich. Der hat sich zwar, juristisch gesehen, nichts zu Schulden kommen lassen, soll aber trotzdem abgeschoben werden, weil er in einer Befragung gesagt habe, er sehe die PKK nicht als Terrororganisation an. Das reicht, ihn von seiner Frau und seinen fünf Kindern trennen zu wollen.Leerstellen des LokaljournalismusSo etwas würde untergehen, wenn es nicht in der einzigen nennenswerten Tageszeitung der Region auftaucht. Denn es gibt in Kassel mit der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen (HNA) eigentlich nur eine relevante Lokalzeitung, die in vielen Fällen dominiert, wie in der Stadtgesellschaft über bestimmte Ereignisse und Zusammenhänge gedacht und gesprochen wird. Es gibt zwar auch überregionale Tageszeitungen oder eine lokale Wochenzeitung, aber an der HNA kommt man nur schwer vorbei, ob man will oder nicht. Im Grunde hat die HNA keine eigene, konsistente politische Agenda — außer vielleicht gegen das Zeitungssterben anzuschreiben. Häufig aber werden den Leser:innen Positionen präsentiert, die man sonst eher in Postillen der extremen Rechten oder Landser-Heften vermuten würde. Neben obskuren „Opa erzählt vom Krieg”-Geschichten sind auch immer wieder Artikel zu lesen, die rechte Akteure eingemeinden. So darf sich beispielsweise jemand von der AfD zum Thema „Ausländerkriminalität” äußern oder ein Kandidat der NPD sich der Öffentlichkeit vorstellen.Selbst darüber schreibenAuch bei linken Protestaktionen oder Demonstrationen hat unsere Arbeit Auswirkungen. Statt uns in unseren Protestformen und Inhalten irgendwelchen bürgerlichen Journalist:innen anzubiedern oder viel Zeit in Pressearbeit zu investieren, um auf wohlwollende Berichterstattung zu hoffen, wollen wir der linken Bewegung in Kassel lieber ein eigenes Medium zur Verfügung stellen.Wir wollen Menschen dazu ermutigen und befähigen, selbst journalistisch zu schreiben. Dazu organisieren wir zum Beispiel Workshops, um Menschen die Angst davor zu nehmen, eine Geschichte zu recherchieren oder über ein Ereignis zu schreiben. Wir wollen nicht nur mit Menschen darüber sprechen, was sie beschäftigt, sondern die Grundlagen dafür schaffen, dass sie selbst darüber schreiben können. Auch das verstehen wir als Teil unserer Arbeit. Schwerpunkt 7736 Tue, 17 May 2022 10:12:26 +0200 LOTTA Parteiischer Journalismus in Kassel Pressestelle Über Journalismus herrscht die Meinung vor, er müsste „neutral” sein. Und ist deswegen oft vor allem eines: beliebig. Seit etwa zwei Jahren arbeiten wir in Kassel an einer Plattform für kritischen Lokaljournalismus. Damit wollen wir denen eine Stimme in der Öffentlichkeit geben, die sonst nicht gehört werden. Wie wichtig das ist, zeigt sich auch bei rassistischen Vorfällen.Die pressestelle besteht seit Januar 2020 und ist eine kleine Online-Zeitung für Kassel und Umgebung. Wir organisieren uns als Redaktionskollektiv und sind angedockt an die dezentrale, eine Online-Plattform, auf der es neben unseren Artikeln auch einen Terminkalender und eine Übersicht über linke Strukturen in Kassel gibt. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir, nicht nur das vielfältige politische Leben in Kassel abzubilden, sondern auch denen in der Öffentlichkeit eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden. Ein Beispiel ist ein Vorfall im Kasseler Nordstadtpark im Oktober 2021. Damals wurden zwei Personen aus rassistischen und queerfeindlichen Motiven angegriffen und teils schwer verletzt, eine Polizeimeldung oder einen Artikel in der Lokalpresse gab es darüber aber nicht. Einer der angegriffenen Personen war es sehr wichtig, dass der Vorfall öffentlich gemacht wird. Wir haben dann ein längeres Interview geführt und veröffentlicht.In Kassel war der Mord an Halit Yozgat und das Auffliegen des NSU ein einschneidendes Erlebnis. Als 2011 bekannt wurde, dass die Mordserie einen rassistischen Hintergrund hat, war das etwas, was Migrant:innen schon seit Jahren geahnt hatten. Angehörige der Ermordeten hatten immer wieder den Verdacht geäußert, Neonazis könnten die Taten begangen haben. Gehört wurden sie in der Öffentlichkeit aber nicht. Das ist eine Lehre, die man aus dem NSU-Komplex ziehen kann, und einer der Gründe, warum wir versuchen, die Betroffenen von Gewalt ihre Geschichte erzählen zu lassen.Dass die lokale rechte Szene nach dem Mord an Walter Lübcke bundesweit im Fokus der Öffentlichkeit stand, hat ein leicht verzerrtes Bild von den Zuständen in Kassel erzeugt. Im Alltag spielen Neonazis nur eine unbedeutende Rolle, und auch ein „Hotspot” rechter Gewalt ist Kassel nicht. Trotzdem erfahren Menschen auch hier Gewalt aus rassistischen, antisemitischen oder sexistischen Gründen. Als Teil unserer Arbeit verstehen wir nicht nur, darauf aufmerksam zu machen, sondern auch den Betroffenen eine Bühne zu bieten, die sie nutzen können, wenn sie das wollen. Oft werden vor allem bei der Berichterstattung über Straftaten Polizeimeldungen unkritisch übernommen. Für uns ist die Polizei keine „neutrale” Quelle, und was der Polizeisprecher zu sagen hat, interessiert uns erstmal nicht. Die polizeiliche Version wird ohnehin in allen anderen Medien verbreitet. Wir suchen grundsätzlich das Gespräch mit den Betroffenen. Damit können wir zwar keine „Ermittlungen” anstellen, um herauszufinden, was wirklich passiert ist, aber wir können ihre Erfahrungen, ihre Sichtweise und Einschätzung öffentlich machen und anderen Erzählungen gegenüberstellen.Hintergründe recherchierenAls zum Beispiel im Sommer 2020 der Kasseler Minicar-Fahrer Efe von einem Fahrgast mit einem Messer in den Hals gestochen wurde, fand sich auch nur genau das in der Polizeimeldung und schließlich in der Zeitung. Es kursierte aber das Gerücht in der Stadt, die Tat habe einen rassistischen Hintergrund gehabt. Wir haben uns dann bemüht, mit dem Betroffenen selbst oder Menschen aus seinem Umfeld Kontakt aufzunehmen. Der Leiter des Unternehmens bestätigte uns, dass sein Fahrer rassistisch beleidigt worden war, bevor der Täter zustach. Wir konnten damit nicht bloß auf den rassistischen Hintergrund der Tat aufmerksam machen, sondern auch die Frage aufwerfen, warum dies weder in der Polizeimeldung, noch in der bisherigen Berichterstattung auftauchte. Ob das absichtlich verschwiegen wurde oder bis dahin einfach niemand danach gefragt hatte, ist uns leider nicht bekannt. Auf unseren Artikel haben sich dann aber auch größere Medien bezogen und den rassistischen Hintergrund thematisiert. Mit diesem Wissen entstand dann relativ schnell eine Soli-Initiative, die kurz darauf mit einem Auto- und Fahrradkorso auf den Fall und den rassistischen Hintergrund aufmerksam machte. Gefunden wurde der Täter bisher trotzdem nicht.Mittlerweile suchen Menschen von sich aus das Gespräch mit uns, wenn sie etwas mitbekommen, das öffentlich gemacht werden soll. Zudem stoßen wir in unserem Umfeld immer wieder auf Geschichten, die wir erzählen wollen, und versuchen, sie zu skandalisieren. Zum Beispiel versuchte die Stadt Kassel mittlerweile mindestens drei Mal, politisch aktive Kurd:innen in die Türkei abzuschieben. Grund dafür sind vor allem deren Gesinnung und Aktivismus. Das wird besonders im Fall von Muhiddin F. deutlich. Der hat sich zwar, juristisch gesehen, nichts zu Schulden kommen lassen, soll aber trotzdem abgeschoben werden, weil er in einer Befragung gesagt habe, er sehe die PKK nicht als Terrororganisation an. Das reicht, ihn von seiner Frau und seinen fünf Kindern trennen zu wollen.Leerstellen des LokaljournalismusSo etwas würde untergehen, wenn es nicht in der einzigen nennenswerten Tageszeitung der Region auftaucht. Denn es gibt in Kassel mit der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen (HNA) eigentlich nur eine relevante Lokalzeitung, die in vielen Fällen dominiert, wie in der Stadtgesellschaft über bestimmte Ereignisse und Zusammenhänge gedacht und gesprochen wird. Es gibt zwar auch überregionale Tageszeitungen oder eine lokale Wochenzeitung, aber an der HNA kommt man nur schwer vorbei, ob man will oder nicht. Im Grunde hat die HNA keine eigene, konsistente politische Agenda — außer vielleicht gegen das Zeitungssterben anzuschreiben. Häufig aber werden den Leser:innen Positionen präsentiert, die man sonst eher in Postillen der extremen Rechten oder Landser-Heften vermuten würde. Neben obskuren „Opa erzählt vom Krieg”-Geschichten sind auch immer wieder Artikel zu lesen, die rechte Akteure eingemeinden. So darf sich beispielsweise jemand von der AfD zum Thema „Ausländerkriminalität” äußern oder ein Kandidat der NPD sich der Öffentlichkeit vorstellen.Selbst darüber schreibenAuch bei linken Protestaktionen oder Demonstrationen hat unsere Arbeit Auswirkungen. Statt uns in unseren Protestformen und Inhalten irgendwelchen bürgerlichen Journalist:innen anzubiedern oder viel Zeit in Pressearbeit zu investieren, um auf wohlwollende Berichterstattung zu hoffen, wollen wir der linken Bewegung in Kassel lieber ein eigenes Medium zur Verfügung stellen.Wir wollen Menschen dazu ermutigen und befähigen, selbst journalistisch zu schreiben. Dazu organisieren wir zum Beispiel Workshops, um Menschen die Angst davor zu nehmen, eine Geschichte zu recherchieren oder über ein Ereignis zu schreiben. Wir wollen nicht nur mit Menschen darüber sprechen, was sie beschäftigt, sondern die Grundlagen dafür schaffen, dass sie selbst darüber schreiben können. Auch das verstehen wir als Teil unserer Arbeit. 2022-05-17T10:12:26+02:00 Beuths Kampf um Deutungshoheit | Die „Besondere Aufbauorganisation Hessen R“ https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/86/beuths-kampf-um-deutungshoheit Nach dem Mord an Walter Lübcke wurde der hessische Polizeiapparat im Bereich „politisch motivierter Kriminalität“ stark ausgebaut. Innenminister Peter Beuth kann seither mit beeindruckenden Zahlen in „Hessens Kampf gegen Rechts“ aufwarten. Welche Qualität und Konsequenzen die Maßnahmen haben, ist für die Öffentlichkeit allerdings kaum nachvollziehbar. Ziel der Strategie ist die Kontrolle über Informationen und damit auch die Deutungshoheit über das Themenfeld „Rechtsextremismus“.„Hessen geht mit voller Kraft gegen Neonazis vor“, titelte der Wiesbadener Kurier im Juli 2019. Mit einer öffentlichkeitswirksamen Inszenierung hatte der hessische Innenminister Peter Beuth die Gründung der Besonderen Aufbauorganisation Hessen R (BAO Hessen R) bekanntgegeben. Man wolle, so Beuth, den Druck auf die „rechtsextreme“ Szene erhöhen und ihr konsequent auf den Füßen stehen. In den Wochen nach dem Mord an ihrem Parteifreund Walter Lübcke stand die hessische CDU unter Zugzwang. Nur zwei Tage nachdem Stephan Ernst mittels eines DNA-Treffers als Verdächtiger ermittelt und festgenommen worden war, hatte die antifaschistische Rechercheplattform exif ausführlich über seine Einbindung in die Neonazi-Szene berichtet. Zudem hatte der hessische Polizeiskandal rund um den NSU 2.0-Komplex (siehe Seite 14) Hessen bundesweit in die Schlagzeilen und Beuth erneut in die Kritik gebracht. Mit den hoch getakteten Maßnahmen gegen Neonazis soll nun das Vertrauen in die Behörde wiederhergestellt werden.Nicht kleckern, sondern klotzen — Die „BAO Hessen R“Als direkte Reaktion auf den Mord an Walter Lübcke wurde die BAO Hessen R mit 140 Beamt*innen eingerichtet. Sie sollte zusätzlich zu der im Mordfall ermittelnden SoKo Limecke des Landeskriminalamtes gegen die Neonazi-Szene vorgehen, war aber im Mordfall selbst nicht tätig. Aufgebaut wurde sie aus der BAO Herkules, einer Einheit, die Mitte Juni 2019 im Polizeipräsidium Nordhessen gegründet worden war.Die BAO Hessen R ist beim Landeskriminalamt angesiedelt und hat zusätzliche Unterabteilungen in den Staatsschutzabteilungen der sieben hessischen Polizeipräsidien. Die Einheit kann auch Verfahren, die nicht im Bereich „politisch motivierte Kriminalität“ liegen — wie zum Beispiel Waffenrechtsverstöße –, an sich ziehen. Innerhalb der BAO wurde die Taskforce Capture eingerichtet, die sich auf die Vollstreckung offener Haftbefehle konzentriert. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe Hasspostings im LKA kann die BAO auch bei Straftaten im Netz tätig werden.(Selbst-)Lob für den InnenministerTatsächlich kann das Innenministerium nun mit Zahlen aufwarten, die schier staunen lassen: Die Einheit habe seit ihrer Gründung mehr als 365 konzentrierte Maßnahmen gegen die „rechte Szene“ durchgeführt. Sie habe 255 Durchsuchungen sowie 1.300 Personenkontrollen durchgeführt, etwa 4.100 Gegenstände sichergestellt, 75 Szene-Veranstaltungen „begleitet“ sowie 145 Haftbefehle gegen 136 Personen vollstreckt, so die Landesregierung in einer Antwort auf eine „Kleine Anfrage“ der Partei Die Linke im hessischen Landtag im März 2022.Das Innenministerium lässt sich kaum eine Gelegenheit entgehen, die Zahlen medial zu platzieren und mit den immer gleichen Formulierungen die Bedeutung der BAO zu betonen. Mit der PR-Strategie wird versucht, die Schlagzeilen zu bestimmen. Detailliert wird dabei auf die Anzahl der Maßnahmen, die Durchsuchungen und Sicherstellungen, die Personenkontrollen, die „begleiteten“ Szene-Veranstaltungen sowie die vollstreckten Haftbefehle eingegangen. Auch werden immer wieder die gleichen Phrasen für die Ziele der Einheit verwendet, ob in Interviews und Antworten auf Parlamentsanfragen, im Innenausschuss oder in Pressemitteilungen des Innenministeriums oder des LKA. In „Hessens Kampf gegen Rechts“ setze man „die rechte Szene unter Druck“, erhöhe „den Druck“, halte „den Druck aufrecht“. Diese Strategie scheint mit Blick auf die Schlagzeilen erfolgreich. „Eine beachtliche Bilanz“ attestierte zum Beispiel tagesschau.de gut ein Jahr nach Gründung der Einheit. Auch wenn nur über eine einzelne Razzia berichtet wird, die die BAO durchführt, wiederholt die Presse den vom Ministerium gewählten Sprachgebrauch sowie die Gesamtzahl der Maßnahmen seit der Gründung der BAO. Hier zeichnet sich sicher die bekannte Tendenz im (Lokal-)Journalismus ab, Pressemeldungen von Behörden direkt zu übernehmen. Die PR-Strategie der Behörden verstärkt diesen Effekt jedoch.Quantität statt Qualität?Auffällig bei der Berichterstattung seit der Gründung der BAO Hessen R ist, dass weder seitens der Medien noch der Forschung eine Einordnung der polizeilichen Maßnahmen passiert. Die Zahlen sind dermaßen überfordernd, dass es unmöglich scheint, einen Überblick zu behalten. Nur ein kleiner Teil der Einsätze lässt sich mittels Pressemitteilungen des LKA und des Innenministeriums sowie der Presseberichterstattung öffentlich nachvollziehen. Es lässt sich nur schwer einordnen, ob und wenn ja welche Auswirkungen die vielen Maßnahmen auf die Neonazi-Szene haben. Es gibt bisher keine öffentlich einsehbare Übersicht der Maßnahmen, ob sich daraus Strafverfahren ergeben haben und wie diese ausgegangen sind. Um also den Erfolg der Einheit abschätzen zu können, müsste man auch die nicht in Pressemitteilungen verbreiteten Maßnahmen mitbekommen, bei allen infrage kommenden Gerichtsverfahren hessenweit zugegen sein, deren Ausgang verfolgen und anschließend abgleichen, welche Maßnahmen nicht zu einem Verfahren geführt haben beziehungsweise diese Informationen bei den Staatsanwaltschaften einholen. Eine unbezwingbare Aufgabe.Damit ist auch keine inhaltliche Bewertung der Maßnahmen möglich. Werden weiterhin vor allem für die Szene unbedeutende „Kameradschaften“ wie die Berserker Lahn-Dill oder die Sturmbrigade/Wolfsbrigade von ihnen getroffen oder nimmt sich das LKA derjenigen Organisationen an, die auch Antifaschist*innen relevant finden, wie beispielsweise die „Hammerskins“? Eine derartige Undurchsichtigkeit erlaubt es der Regierung, sich nicht für die inhaltliche Ausrichtung ihres „Kampfes gegen Rechts“ rechtfertigen zu müssen, kann sie doch die hohen Zahlen vor sich her tragen und behaupten, „der Szene keine Ruhe zu lassen“.Die „BAO Herkules“ und die Hufeisen-FrageInteressant ist der Ursprung der BAO Hessen R, die bereits erwähnte, Mitte Juni 2019 gegründete BAO Herkules. Auch über sie lassen sich nur wenige Informationen finden. Die Einheit soll aus etwa 20 Beamt*innen bestanden haben. Sie informierte über drei Vorgänge öffentlich: die Festnahme des Combat 18-Mitglieds Tobias Voll (vgl. LOTTA #71, S. 18) sowie die Begleitung von zwei Demonstrationen in Kassel. Ein Facebook-Posting des PP Nordhessen gibt noch am meisten Aufschluss über die Einheit: „Eine der Hauptaufgaben der temporär eingerichteten ‚BAO Herkules‘ ist, die gezielte Aufklärung gefahrenrelevanter Sachverhalte im Bereich politisch motivierter Gefährder und Straftäter weiter zu intensivieren. Dadurch sollen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, mögliche Netzwerke und politisch motivierte Straftaten frühzeitig erkannt und verhindert werden. Seit Mitte Juni führen unserer Kolleginnen und Kollegen der ‚BAO Herkules‘ bereits verdeckte und offene Maßnahmen mit dem deutlichen Signal durch, dass wir als Polizei keine rechtsfreien Räume dulden und derartigen Entwicklungen entschieden entgegentreten.“Die Einheit war nicht in die Ermittlungen zum Mordfall Lübcke eingebunden, auch gibt es keinen Zuschnitt auf den Bereich „Rechtsextremismus“. Es bleibt fraglich, welche „rechtsfreien Räume“ sich in Kassel im Kontext des Mordes an Walther Lübcke auftun könnten, für deren Bekämpfung es eine eigene BAO braucht. Denkbar ist, dass damit vermeintliche Attacken auf Neonazis durch Linke gemeint sind. Mitte Juni hatte die Wohnung eines führenden Kassler Neonazis gebrannt, Indizien für einen Anschlag gab es im Nachgang keine. Auch bei den Demonstrationseinsätzen der Einheit würde es passen, dass sie für die Verhinderung von „rechts-links“-Auseinandersetzungen zuständig war. Offen bleibt, ob die BAO Hessen R als das Aushängeschild der hessischen Regierung im „Kampf gegen Rechts“ damit einer Einheit entstammt, die womöglich unter anderem zum Schutz von Neonazis gegründet wurde.Verwirrende InformationspolitikNicht nur für die Medien ist es schwer, rund um die BAO Hessen R den Überblick zu behalten. Durch die schnelle Einsetzung nach dem Mord an Walter Lübcke ist in der Öffentlichkeit das Bild entstanden, die von ihr durchgeführten Razzien stünden mit den Mordermittlungen in Verbindung. Dabei geht verloren, dass die SoKo Limecke, die die Ermittlungen geführt hat, nur wenige Hausdurchsuchungen bei Neonazis gemacht hat. Man hat den Mord nicht zum Anlass genommen, die Kasseler Neonaziszene umzukrempeln und nach Mitwissenden zu suchen. Ausschlaggebend für die Durchsuchungen waren vor allem telefonische Kontakte sowie die Aussagen von Stephan Ernst. Immer wieder wird nun die Forderung laut, der Lübcke-Untersuchungsausschuss (UNA 20/1) im hessischen Landtag solle doch mehr Neonazis und Weggefährten Ernsts laden, um dessen Umfeld zu beleuchten. Der UNA hat allerdings weder Mittel noch Befugnisse, um Ermittlungen anzustellen. Abseits der Befragungen, die vor allem von parteipolitischen Ränkespielen geprägt sind, bleiben den Parlamentarier*innen keine Möglichkeiten. Was die Polizei also verpasst hat, das kann auch der Untersuchungsausschuss nicht nachholen.Antworten dank OppositionÜber die Aufgaben und den Aufbau der BAO Hessen R ist abseits der immer gleichen Textpassagen, die die Behörden vorgeben, nur wenig bekannt. Wer zu der Einheit und ihren Einsätzen abseits dessen recherchieren will, muss sich die Details mühsam in Antworten auf Parlamentsanfragen und aus Plenar- und Innenausschussprotokollen zusammensuchen. So wurde zum Beispiel auf Nachfrage der Opposition am Rande einer Innenausschusssitzung bekannt, dass die BAO Hessen R gemeinsam mit dem Geheimdienst mit der Überprüfung der Polizist*innen betraut war, die in rechten Chatgruppen aktiv waren.Für den Innenminister Peter Beuth jedenfalls hat sich der Ausbau des Sicherheitsapparates gelohnt, da er mit den „zählbaren Erfolgen der Ermittler“ auftrumpfen und gleichzeitig die „Rekordinvestitionen“ gut rechtfertigen kann. Der Opposition bleibt wenig Handhabe, schließlich forderten alle, der Staat müsse konsequenter gegen Neonazis vorgehen. Ob das in relevantem Maße in Hessen passiert, bleibt fraglich. Flankiert wurde die Aufstockung der Polizei mit einer Vielzahl weiterer Maßnahmen im Sicherheitsapparat, die mehr Geld, Personal und Entscheidungskompetenzen beinhalteten.Aktuell liegt eine Anfrage der Linksfraktion vor, die einige Antworten auf die hier aufgeworfenen Fragen rund um die BAO Hessen R liefern könnte. Die Antwort der Landesregierung stand zum Redaktionsschluss noch aus. Schwerpunkt 7735 Tue, 17 May 2022 10:11:18 +0200 LOTTA Beuths Kampf um Deutungshoheit Sonja Brasch Nach dem Mord an Walter Lübcke wurde der hessische Polizeiapparat im Bereich „politisch motivierter Kriminalität“ stark ausgebaut. Innenminister Peter Beuth kann seither mit beeindruckenden Zahlen in „Hessens Kampf gegen Rechts“ aufwarten. Welche Qualität und Konsequenzen die Maßnahmen haben, ist für die Öffentlichkeit allerdings kaum nachvollziehbar. Ziel der Strategie ist die Kontrolle über Informationen und damit auch die Deutungshoheit über das Themenfeld „Rechtsextremismus“.„Hessen geht mit voller Kraft gegen Neonazis vor“, titelte der Wiesbadener Kurier im Juli 2019. Mit einer öffentlichkeitswirksamen Inszenierung hatte der hessische Innenminister Peter Beuth die Gründung der Besonderen Aufbauorganisation Hessen R (BAO Hessen R) bekanntgegeben. Man wolle, so Beuth, den Druck auf die „rechtsextreme“ Szene erhöhen und ihr konsequent auf den Füßen stehen. In den Wochen nach dem Mord an ihrem Parteifreund Walter Lübcke stand die hessische CDU unter Zugzwang. Nur zwei Tage nachdem Stephan Ernst mittels eines DNA-Treffers als Verdächtiger ermittelt und festgenommen worden war, hatte die antifaschistische Rechercheplattform exif ausführlich über seine Einbindung in die Neonazi-Szene berichtet. Zudem hatte der hessische Polizeiskandal rund um den NSU 2.0-Komplex (siehe Seite 14) Hessen bundesweit in die Schlagzeilen und Beuth erneut in die Kritik gebracht. Mit den hoch getakteten Maßnahmen gegen Neonazis soll nun das Vertrauen in die Behörde wiederhergestellt werden.Nicht kleckern, sondern klotzen — Die „BAO Hessen R“Als direkte Reaktion auf den Mord an Walter Lübcke wurde die BAO Hessen R mit 140 Beamt*innen eingerichtet. Sie sollte zusätzlich zu der im Mordfall ermittelnden SoKo Limecke des Landeskriminalamtes gegen die Neonazi-Szene vorgehen, war aber im Mordfall selbst nicht tätig. Aufgebaut wurde sie aus der BAO Herkules, einer Einheit, die Mitte Juni 2019 im Polizeipräsidium Nordhessen gegründet worden war.Die BAO Hessen R ist beim Landeskriminalamt angesiedelt und hat zusätzliche Unterabteilungen in den Staatsschutzabteilungen der sieben hessischen Polizeipräsidien. Die Einheit kann auch Verfahren, die nicht im Bereich „politisch motivierte Kriminalität“ liegen — wie zum Beispiel Waffenrechtsverstöße –, an sich ziehen. Innerhalb der BAO wurde die Taskforce Capture eingerichtet, die sich auf die Vollstreckung offener Haftbefehle konzentriert. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe Hasspostings im LKA kann die BAO auch bei Straftaten im Netz tätig werden.(Selbst-)Lob für den InnenministerTatsächlich kann das Innenministerium nun mit Zahlen aufwarten, die schier staunen lassen: Die Einheit habe seit ihrer Gründung mehr als 365 konzentrierte Maßnahmen gegen die „rechte Szene“ durchgeführt. Sie habe 255 Durchsuchungen sowie 1.300 Personenkontrollen durchgeführt, etwa 4.100 Gegenstände sichergestellt, 75 Szene-Veranstaltungen „begleitet“ sowie 145 Haftbefehle gegen 136 Personen vollstreckt, so die Landesregierung in einer Antwort auf eine „Kleine Anfrage“ der Partei Die Linke im hessischen Landtag im März 2022.Das Innenministerium lässt sich kaum eine Gelegenheit entgehen, die Zahlen medial zu platzieren und mit den immer gleichen Formulierungen die Bedeutung der BAO zu betonen. Mit der PR-Strategie wird versucht, die Schlagzeilen zu bestimmen. Detailliert wird dabei auf die Anzahl der Maßnahmen, die Durchsuchungen und Sicherstellungen, die Personenkontrollen, die „begleiteten“ Szene-Veranstaltungen sowie die vollstreckten Haftbefehle eingegangen. Auch werden immer wieder die gleichen Phrasen für die Ziele der Einheit verwendet, ob in Interviews und Antworten auf Parlamentsanfragen, im Innenausschuss oder in Pressemitteilungen des Innenministeriums oder des LKA. In „Hessens Kampf gegen Rechts“ setze man „die rechte Szene unter Druck“, erhöhe „den Druck“, halte „den Druck aufrecht“. Diese Strategie scheint mit Blick auf die Schlagzeilen erfolgreich. „Eine beachtliche Bilanz“ attestierte zum Beispiel tagesschau.de gut ein Jahr nach Gründung der Einheit. Auch wenn nur über eine einzelne Razzia berichtet wird, die die BAO durchführt, wiederholt die Presse den vom Ministerium gewählten Sprachgebrauch sowie die Gesamtzahl der Maßnahmen seit der Gründung der BAO. Hier zeichnet sich sicher die bekannte Tendenz im (Lokal-)Journalismus ab, Pressemeldungen von Behörden direkt zu übernehmen. Die PR-Strategie der Behörden verstärkt diesen Effekt jedoch.Quantität statt Qualität?Auffällig bei der Berichterstattung seit der Gründung der BAO Hessen R ist, dass weder seitens der Medien noch der Forschung eine Einordnung der polizeilichen Maßnahmen passiert. Die Zahlen sind dermaßen überfordernd, dass es unmöglich scheint, einen Überblick zu behalten. Nur ein kleiner Teil der Einsätze lässt sich mittels Pressemitteilungen des LKA und des Innenministeriums sowie der Presseberichterstattung öffentlich nachvollziehen. Es lässt sich nur schwer einordnen, ob und wenn ja welche Auswirkungen die vielen Maßnahmen auf die Neonazi-Szene haben. Es gibt bisher keine öffentlich einsehbare Übersicht der Maßnahmen, ob sich daraus Strafverfahren ergeben haben und wie diese ausgegangen sind. Um also den Erfolg der Einheit abschätzen zu können, müsste man auch die nicht in Pressemitteilungen verbreiteten Maßnahmen mitbekommen, bei allen infrage kommenden Gerichtsverfahren hessenweit zugegen sein, deren Ausgang verfolgen und anschließend abgleichen, welche Maßnahmen nicht zu einem Verfahren geführt haben beziehungsweise diese Informationen bei den Staatsanwaltschaften einholen. Eine unbezwingbare Aufgabe.Damit ist auch keine inhaltliche Bewertung der Maßnahmen möglich. Werden weiterhin vor allem für die Szene unbedeutende „Kameradschaften“ wie die Berserker Lahn-Dill oder die Sturmbrigade/Wolfsbrigade von ihnen getroffen oder nimmt sich das LKA derjenigen Organisationen an, die auch Antifaschist*innen relevant finden, wie beispielsweise die „Hammerskins“? Eine derartige Undurchsichtigkeit erlaubt es der Regierung, sich nicht für die inhaltliche Ausrichtung ihres „Kampfes gegen Rechts“ rechtfertigen zu müssen, kann sie doch die hohen Zahlen vor sich her tragen und behaupten, „der Szene keine Ruhe zu lassen“.Die „BAO Herkules“ und die Hufeisen-FrageInteressant ist der Ursprung der BAO Hessen R, die bereits erwähnte, Mitte Juni 2019 gegründete BAO Herkules. Auch über sie lassen sich nur wenige Informationen finden. Die Einheit soll aus etwa 20 Beamt*innen bestanden haben. Sie informierte über drei Vorgänge öffentlich: die Festnahme des Combat 18-Mitglieds Tobias Voll (vgl. LOTTA #71, S. 18) sowie die Begleitung von zwei Demonstrationen in Kassel. Ein Facebook-Posting des PP Nordhessen gibt noch am meisten Aufschluss über die Einheit: „Eine der Hauptaufgaben der temporär eingerichteten ‚BAO Herkules‘ ist, die gezielte Aufklärung gefahrenrelevanter Sachverhalte im Bereich politisch motivierter Gefährder und Straftäter weiter zu intensivieren. Dadurch sollen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, mögliche Netzwerke und politisch motivierte Straftaten frühzeitig erkannt und verhindert werden. Seit Mitte Juni führen unserer Kolleginnen und Kollegen der ‚BAO Herkules‘ bereits verdeckte und offene Maßnahmen mit dem deutlichen Signal durch, dass wir als Polizei keine rechtsfreien Räume dulden und derartigen Entwicklungen entschieden entgegentreten.“Die Einheit war nicht in die Ermittlungen zum Mordfall Lübcke eingebunden, auch gibt es keinen Zuschnitt auf den Bereich „Rechtsextremismus“. Es bleibt fraglich, welche „rechtsfreien Räume“ sich in Kassel im Kontext des Mordes an Walther Lübcke auftun könnten, für deren Bekämpfung es eine eigene BAO braucht. Denkbar ist, dass damit vermeintliche Attacken auf Neonazis durch Linke gemeint sind. Mitte Juni hatte die Wohnung eines führenden Kassler Neonazis gebrannt, Indizien für einen Anschlag gab es im Nachgang keine. Auch bei den Demonstrationseinsätzen der Einheit würde es passen, dass sie für die Verhinderung von „rechts-links“-Auseinandersetzungen zuständig war. Offen bleibt, ob die BAO Hessen R als das Aushängeschild der hessischen Regierung im „Kampf gegen Rechts“ damit einer Einheit entstammt, die womöglich unter anderem zum Schutz von Neonazis gegründet wurde.Verwirrende InformationspolitikNicht nur für die Medien ist es schwer, rund um die BAO Hessen R den Überblick zu behalten. Durch die schnelle Einsetzung nach dem Mord an Walter Lübcke ist in der Öffentlichkeit das Bild entstanden, die von ihr durchgeführten Razzien stünden mit den Mordermittlungen in Verbindung. Dabei geht verloren, dass die SoKo Limecke, die die Ermittlungen geführt hat, nur wenige Hausdurchsuchungen bei Neonazis gemacht hat. Man hat den Mord nicht zum Anlass genommen, die Kasseler Neonaziszene umzukrempeln und nach Mitwissenden zu suchen. Ausschlaggebend für die Durchsuchungen waren vor allem telefonische Kontakte sowie die Aussagen von Stephan Ernst. Immer wieder wird nun die Forderung laut, der Lübcke-Untersuchungsausschuss (UNA 20/1) im hessischen Landtag solle doch mehr Neonazis und Weggefährten Ernsts laden, um dessen Umfeld zu beleuchten. Der UNA hat allerdings weder Mittel noch Befugnisse, um Ermittlungen anzustellen. Abseits der Befragungen, die vor allem von parteipolitischen Ränkespielen geprägt sind, bleiben den Parlamentarier*innen keine Möglichkeiten. Was die Polizei also verpasst hat, das kann auch der Untersuchungsausschuss nicht nachholen.Antworten dank OppositionÜber die Aufgaben und den Aufbau der BAO Hessen R ist abseits der immer gleichen Textpassagen, die die Behörden vorgeben, nur wenig bekannt. Wer zu der Einheit und ihren Einsätzen abseits dessen recherchieren will, muss sich die Details mühsam in Antworten auf Parlamentsanfragen und aus Plenar- und Innenausschussprotokollen zusammensuchen. So wurde zum Beispiel auf Nachfrage der Opposition am Rande einer Innenausschusssitzung bekannt, dass die BAO Hessen R gemeinsam mit dem Geheimdienst mit der Überprüfung der Polizist*innen betraut war, die in rechten Chatgruppen aktiv waren.Für den Innenminister Peter Beuth jedenfalls hat sich der Ausbau des Sicherheitsapparates gelohnt, da er mit den „zählbaren Erfolgen der Ermittler“ auftrumpfen und gleichzeitig die „Rekordinvestitionen“ gut rechtfertigen kann. Der Opposition bleibt wenig Handhabe, schließlich forderten alle, der Staat müsse konsequenter gegen Neonazis vorgehen. Ob das in relevantem Maße in Hessen passiert, bleibt fraglich. Flankiert wurde die Aufstockung der Polizei mit einer Vielzahl weiterer Maßnahmen im Sicherheitsapparat, die mehr Geld, Personal und Entscheidungskompetenzen beinhalteten.Aktuell liegt eine Anfrage der Linksfraktion vor, die einige Antworten auf die hier aufgeworfenen Fragen rund um die BAO Hessen R liefern könnte. Die Antwort der Landesregierung stand zum Redaktionsschluss noch aus. 2022-05-17T10:11:18+02:00 Kein willkürlich ausgewähltes Opfer | Übersehende Perspektiven auf den Mord im „Cafe Vivo“ 2017 https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/86/kein-willk-rlich-ausgew-hltes-opfer Vor fünf Jahren wurde Birgül Düven in Duisburg ermordet. Der Rückblick auf die Ermittlungen und den Gerichtsprozess ruft in Erinnerung, dass mit der Verurteilung des Täters politische Motive, Ideologien der Ungleichwertigkeit oder der Hass auf Frauen als tatauslösend ausgeschlossen blieben.Am 3. Mai 2017, gegen 9:45 Uhr, fand eine Angestellte sie. Die 46-Jährige war erschossen worden, noch bevor sie an diesem Morgen ihr Café Vivo im Duisburger Innenhafen hatte öffnen können. Bei der Untersuchung des Tatorts wurde schnell klar: ein Raubmord schied aus, da nichts entwendet worden war. Das gläserne Atrium teilte sich das Café mit einer Bank. Durch die Fenster hinweg hatte ein Bankangestellter Birgül Düven kurz vor ihrem Tod noch mit einem Winken gegrüßt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Täter bereits unter dem Vorwand Zutritt verschafft, die Toilette aufsuchen zu müssen. Hier bereitete er die Tatwaffe mit Schalldämpfer vor.„Das Café wirkt auf den ersten Blick völlig normal“, schrieb Der Westen am Tattag. Diese „Normalität“ mit der mörderischen Gewalttat in Verbindung zu bringen, bestimmte in der Folge die öffentliche Diskussion. Spekulationen kursierten: Offene Schutzgeldzahlungen könnten einen Auftragsmord ausgelöst haben, türkische Medien behaupteten gar eine Verstrickung des türkischen Geheimdienstes. Bei anderen Beobachter*innen rief der Mord Erinnerungen an die NSU-Serie wach: Eine Gastronomin mit türkischer Familiengeschichte war am helllichten Tag in ihrem Geschäft erschossen worden. NSU-Watch forderte die Ermittlungsbehörden öffentlich auf, zunächst ein „mögliches rassistisches Motiv des Mordes lückenlos [zu] untersuchen“, anstatt sich verfrüht auf Ermittlungsansätze zu „Organisiertem Verbrechen“ festzulegen.Da andere Spuren fehlten, ermittelte die Polizei zeitweilig im Umfeld der Ermordeten und ihrer Familie. Entscheidend war dann aber ein Zufall: übereinstimmende DNA-Spuren, die sich sowohl am Duisburger Tatort als auch am Ort einer brutalen Gewalttat in Berlin fanden. Am 1. November 2017 war dort eine 64-jährige Frau mit einer Metallstange niedergeschlagen worden. Der Täter hatte ihr Auto stehlen wollen. Als Passant*innen eingriffen, flüchtete er unerkannt. Am Tatort fanden sich zudem Fingerabdruckspuren, die später einem Mann zugeordnet wurden, der am 23. Januar 2018 einen Ladendetektiv mit Reizgas und einem Messer angegriffen hatte. Wenig später wurde Constantin Ulrich S. verhaftet.Motiv Mordlust?Im März 2019 verurteilte die 5. Große Strafkammer am Landgericht Duisburg den 30 Jahre alten S. wegen Mordes zu lebenslanger Haft. Zweifel an seiner Täterschaft bestanden nicht. Die Schussabgabe hatte er selbst eingeräumt, ohne Reue. Stattdessen beschuldigte er das Opfer, ihn auf der Toilette „wachgerüttelt“ und dann zum Gehen gedrängt zu haben. So hätte sich der Schuss „versehentlich“ gelöst. Die Waffe habe er zur Selbstverteidigung gegen „islamischen Terrorismus“ stets ungesichert bei sich getragen. Doch alle Beweise und Indizien zeigten: Er hatte die Tat geplant, die Ahnungslosigkeit seines Opfers ausgenutzt und Birgül Düven mit einem am Kopf aufgesetzten Schuss regelrecht hingerichtet.In seinen Einlassungen vor Gericht versuchte S. mehrfach, staatlichen Behörden die Schuld für die Tat anzulasten. Sie hätten ihn nicht gehindert, eine Waffe zu führen. 2016 hatte er in Österreich legal Schusswaffen gekauft. Dass der Angeklagte für eigene Handlungen Dritte verantwortlich zu machen versuche und krude „Privatlogiken“ äußere, erinnerte das Gericht an „fanatisierte Randgruppen“, etwa an „Reichsbürger“. Politische oder „fremdenfeindliche“ Motive schloss es aber aus – der Angeklagte sei polyglott und „reisefreundlich“, zudem fehle ein politisches Tatbekenntnis. Als Motiv sei stattdessen von Mordlust auszugehen. Einen Menschen sterben zu sehen, habe ihm „ein Gefühl der Erhabenheit und Freude, mithin ein Gefühl innerer Befriedigung verschafft“, so das Gericht.„Pickup artists“ und MisogynieDie Polizei hatte beim Täter Notizen zu Entführungs- und Tötungsszenarien sichergestellt, in denen auch Personen aus seinem sozialen Nahbereich erwähnt wurden. Birgül Düven gehörte nicht dazu. Mit ihr verband den Täter nichts. Wohl aber war sie eine Geschäftsfrau, die aus eigener Kraft erfolgreich war. Die Selbstwahrnehmung des Täters hingegen war eher von Ansprüchen denn von Wirklichkeit geprägt. Nach seinen Studienabschlüssen an kostspieligen (Privat-)Hochschulen in Dortmund und Barcelona konnte der wohlhabend aufgewachsene S. beruflich nicht Fuß fassen. Zeitweise jobbte er als Barista, gab sich zugleich den Anschein eines urbanen Flaneurs. Er täuschte Wohlstand vor. Nach einem Betrugsversuch verlor er seinen Finanzberater-Job in München. Den Erwartungen seiner Eltern wurde er nicht gerecht. Sein Vater machte vor Gericht deutlich: Sein Sohn sei ein Loser, ein Aufschneider und erfolgloser Mann. Zeug*innen-Aussagen offenbarten außerdem, dass der Täter in Freundschaften als empathielos galt und bei sexuellen Begegnungen grenzüberschreitend handelte. Er selbst gab an, dass ihm die sogenannte „pickup artist“-Szene Vorbild sei. So habe er das Buch „Mode One“ von Alan Roger Currie als Handreichung genutzt, um Frauen zu sexuellen Kontakten zu überreden. Zu den gegen ihn geführten Strafanzeigen wegen sexueller Nötigung schwieg er. Ein Zeuge indes gab an, den Kontakt zu ihm abgebrochen zu haben, da ihm seine Art, mit Frauen umzugehen, zu „krass“ gewesen sei.„Techniken der emotionalen Manipulation“ und „psychologische Tricks“, die Frauen erniedrigen und ihren Willen brechen sollen, gehören zur Strategie der misogynen „pickup artists“. Wo Männer erfolglos bleiben, richtet sich ihr Hass gegen diejenigen, die sich nicht haben „verführen“ lassen. Eine Männlichkeit, die davon ausgeht, „passive, wehrlose und tendenziell irrationale Frauen als Mütter […], Sexualpartnerin und Arbeitskraft zur Verfügung zu haben,“ legitimiert Gewalt gegen Frauen* damit, dass die Angegriffenen gegen diese Rollenideale verstoßen. „Tödliche Misogynie“, so Eike Sanders, richtet sich „gegen Frauen* als Repräsentant*innen ihres Geschlechts“, gegen Frauen, „die gegen die Ordnung verstoßen.“ (siehe hier). Im Prozess sind diese Aspekte des Tatzusammenhangs und der Täterbiographie nicht angemessen gewürdigt worden. Dabei ist aus guten Gründen davon auszugehen, dass – entgegen der Überzeugung des Gerichts – Birgül Düven eben kein willkürlich ausgewähltes Opfer war. Wäre sie männlich, weiß und weit entfernt von beruflichem Erfolg oder Statussymbolen – sie wäre heute 51 Jahre alt. Ihre Geschichte zeigt einmal mehr, dass es Zeit ist, misogyne Gewalt ernst zu nehmen. Im Gefolge von Rassismus, Abwertungsideologien und hegemonialer Männlichkeit ist sie Teil tödlichen Hasses. Gesellschaft 7730 Mon, 02 May 2022 22:32:02 +0200 LOTTA Kein willkürlich ausgewähltes Opfer Fanny Schneider, Jan-Henning Schmitt Vor fünf Jahren wurde Birgül Düven in Duisburg ermordet. Der Rückblick auf die Ermittlungen und den Gerichtsprozess ruft in Erinnerung, dass mit der Verurteilung des Täters politische Motive, Ideologien der Ungleichwertigkeit oder der Hass auf Frauen als tatauslösend ausgeschlossen blieben.Am 3. Mai 2017, gegen 9:45 Uhr, fand eine Angestellte sie. Die 46-Jährige war erschossen worden, noch bevor sie an diesem Morgen ihr Café Vivo im Duisburger Innenhafen hatte öffnen können. Bei der Untersuchung des Tatorts wurde schnell klar: ein Raubmord schied aus, da nichts entwendet worden war. Das gläserne Atrium teilte sich das Café mit einer Bank. Durch die Fenster hinweg hatte ein Bankangestellter Birgül Düven kurz vor ihrem Tod noch mit einem Winken gegrüßt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Täter bereits unter dem Vorwand Zutritt verschafft, die Toilette aufsuchen zu müssen. Hier bereitete er die Tatwaffe mit Schalldämpfer vor.„Das Café wirkt auf den ersten Blick völlig normal“, schrieb Der Westen am Tattag. Diese „Normalität“ mit der mörderischen Gewalttat in Verbindung zu bringen, bestimmte in der Folge die öffentliche Diskussion. Spekulationen kursierten: Offene Schutzgeldzahlungen könnten einen Auftragsmord ausgelöst haben, türkische Medien behaupteten gar eine Verstrickung des türkischen Geheimdienstes. Bei anderen Beobachter*innen rief der Mord Erinnerungen an die NSU-Serie wach: Eine Gastronomin mit türkischer Familiengeschichte war am helllichten Tag in ihrem Geschäft erschossen worden. NSU-Watch forderte die Ermittlungsbehörden öffentlich auf, zunächst ein „mögliches rassistisches Motiv des Mordes lückenlos [zu] untersuchen“, anstatt sich verfrüht auf Ermittlungsansätze zu „Organisiertem Verbrechen“ festzulegen.Da andere Spuren fehlten, ermittelte die Polizei zeitweilig im Umfeld der Ermordeten und ihrer Familie. Entscheidend war dann aber ein Zufall: übereinstimmende DNA-Spuren, die sich sowohl am Duisburger Tatort als auch am Ort einer brutalen Gewalttat in Berlin fanden. Am 1. November 2017 war dort eine 64-jährige Frau mit einer Metallstange niedergeschlagen worden. Der Täter hatte ihr Auto stehlen wollen. Als Passant*innen eingriffen, flüchtete er unerkannt. Am Tatort fanden sich zudem Fingerabdruckspuren, die später einem Mann zugeordnet wurden, der am 23. Januar 2018 einen Ladendetektiv mit Reizgas und einem Messer angegriffen hatte. Wenig später wurde Constantin Ulrich S. verhaftet.Motiv Mordlust?Im März 2019 verurteilte die 5. Große Strafkammer am Landgericht Duisburg den 30 Jahre alten S. wegen Mordes zu lebenslanger Haft. Zweifel an seiner Täterschaft bestanden nicht. Die Schussabgabe hatte er selbst eingeräumt, ohne Reue. Stattdessen beschuldigte er das Opfer, ihn auf der Toilette „wachgerüttelt“ und dann zum Gehen gedrängt zu haben. So hätte sich der Schuss „versehentlich“ gelöst. Die Waffe habe er zur Selbstverteidigung gegen „islamischen Terrorismus“ stets ungesichert bei sich getragen. Doch alle Beweise und Indizien zeigten: Er hatte die Tat geplant, die Ahnungslosigkeit seines Opfers ausgenutzt und Birgül Düven mit einem am Kopf aufgesetzten Schuss regelrecht hingerichtet.In seinen Einlassungen vor Gericht versuchte S. mehrfach, staatlichen Behörden die Schuld für die Tat anzulasten. Sie hätten ihn nicht gehindert, eine Waffe zu führen. 2016 hatte er in Österreich legal Schusswaffen gekauft. Dass der Angeklagte für eigene Handlungen Dritte verantwortlich zu machen versuche und krude „Privatlogiken“ äußere, erinnerte das Gericht an „fanatisierte Randgruppen“, etwa an „Reichsbürger“. Politische oder „fremdenfeindliche“ Motive schloss es aber aus – der Angeklagte sei polyglott und „reisefreundlich“, zudem fehle ein politisches Tatbekenntnis. Als Motiv sei stattdessen von Mordlust auszugehen. Einen Menschen sterben zu sehen, habe ihm „ein Gefühl der Erhabenheit und Freude, mithin ein Gefühl innerer Befriedigung verschafft“, so das Gericht.„Pickup artists“ und MisogynieDie Polizei hatte beim Täter Notizen zu Entführungs- und Tötungsszenarien sichergestellt, in denen auch Personen aus seinem sozialen Nahbereich erwähnt wurden. Birgül Düven gehörte nicht dazu. Mit ihr verband den Täter nichts. Wohl aber war sie eine Geschäftsfrau, die aus eigener Kraft erfolgreich war. Die Selbstwahrnehmung des Täters hingegen war eher von Ansprüchen denn von Wirklichkeit geprägt. Nach seinen Studienabschlüssen an kostspieligen (Privat-)Hochschulen in Dortmund und Barcelona konnte der wohlhabend aufgewachsene S. beruflich nicht Fuß fassen. Zeitweise jobbte er als Barista, gab sich zugleich den Anschein eines urbanen Flaneurs. Er täuschte Wohlstand vor. Nach einem Betrugsversuch verlor er seinen Finanzberater-Job in München. Den Erwartungen seiner Eltern wurde er nicht gerecht. Sein Vater machte vor Gericht deutlich: Sein Sohn sei ein Loser, ein Aufschneider und erfolgloser Mann. Zeug*innen-Aussagen offenbarten außerdem, dass der Täter in Freundschaften als empathielos galt und bei sexuellen Begegnungen grenzüberschreitend handelte. Er selbst gab an, dass ihm die sogenannte „pickup artist“-Szene Vorbild sei. So habe er das Buch „Mode One“ von Alan Roger Currie als Handreichung genutzt, um Frauen zu sexuellen Kontakten zu überreden. Zu den gegen ihn geführten Strafanzeigen wegen sexueller Nötigung schwieg er. Ein Zeuge indes gab an, den Kontakt zu ihm abgebrochen zu haben, da ihm seine Art, mit Frauen umzugehen, zu „krass“ gewesen sei.„Techniken der emotionalen Manipulation“ und „psychologische Tricks“, die Frauen erniedrigen und ihren Willen brechen sollen, gehören zur Strategie der misogynen „pickup artists“. Wo Männer erfolglos bleiben, richtet sich ihr Hass gegen diejenigen, die sich nicht haben „verführen“ lassen. Eine Männlichkeit, die davon ausgeht, „passive, wehrlose und tendenziell irrationale Frauen als Mütter […], Sexualpartnerin und Arbeitskraft zur Verfügung zu haben,“ legitimiert Gewalt gegen Frauen* damit, dass die Angegriffenen gegen diese Rollenideale verstoßen. „Tödliche Misogynie“, so Eike Sanders, richtet sich „gegen Frauen* als Repräsentant*innen ihres Geschlechts“, gegen Frauen, „die gegen die Ordnung verstoßen.“ (siehe hier). Im Prozess sind diese Aspekte des Tatzusammenhangs und der Täterbiographie nicht angemessen gewürdigt worden. Dabei ist aus guten Gründen davon auszugehen, dass – entgegen der Überzeugung des Gerichts – Birgül Düven eben kein willkürlich ausgewähltes Opfer war. Wäre sie männlich, weiß und weit entfernt von beruflichem Erfolg oder Statussymbolen – sie wäre heute 51 Jahre alt. Ihre Geschichte zeigt einmal mehr, dass es Zeit ist, misogyne Gewalt ernst zu nehmen. Im Gefolge von Rassismus, Abwertungsideologien und hegemonialer Männlichkeit ist sie Teil tödlichen Hasses. 2022-05-02T22:32:02+02:00 Hessische Zustände | Eine Einleitung in den Schwerpunkt https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/86/hessische-zust-nde „Hessen ist ein sicheres Land“, so Innenminister Peter Beuth bei der Vorstellung der Kriminalstatistik 2019. Doch für wen gilt dieser Satz? Für Kaloyan Velkov, Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu und Gökhan Gültekin  jedenfalls nicht. Sie starben nicht einmal zwei Tage nach der Aussage Beuths, ermordet von einem extrem rechten Täter. Weil Neonazis ihnen das Recht zu leben absprachen, mussten auch Halit Yozgat und Walter Lübcke sterben. Auch für die Überlebenden rassistischer Angriffe wie beispielsweise Bilal M. und Ahmed I., gab es keine Sicherheit. Oder für Seda Başay-Yıldız, eine der Empfänger*innen der Drohschreiben des NSU 2.0.Diese Menschen sind die bekannteren Todesopfer und Betroffene rechter Gewalt und Drohungen, also rechten Terrors in Hessen, nicht jedoch die einzigen. Ein Skandal mit extrem rechten Bezügen folgt auf den nächsten, die staatlichen Verstrickungen sind offenbar. Hessen hat ein strukturelles Problem mit Rassismus und rechter Gewalt. Die Gründe dafür sind vielfältig, die eine Antwort kann dieser Schwerpunkt nicht geben. Dass der Unwille, sich mit rechten Strukturen und Ungleichheitsideologien tiefgehender und ehrlich auseinanderzusetzen, nicht unwesentlichen Anteil daran hat, liegt jedoch auf der Hand. Deshalb tut es not, einen kritischen Blick auf staatliche Institutionen zu werfen und die staatliche Deutungshoheit in Frage zu stellen. LOTTA hat in den vergangenen Jahren regelmäßig über größere und kleinere Ereignisse, Entwicklungen und Erkenntnisse aus Hessen berichtet. Nun ist es Zeit für einen Schwerpunkt, der verschiedene Facetten tiefergehend beleuchtet. Denn an Hessen führt kein Weg vorbei, will man die Kontinuitätslinien rechten Terrors und ihre Verschränkung mit Staat und Gesellschaft verstehen.Hessen ist aber auch Ort des Kampfes und der Vernetzung. Wut und Trauer über die Verhältnisse werden zu widerständiger Praxis, gemeinsam werden Perspektiven des Lebens und Überlebens in den „Hessischen Zuständen“ geschaffen und Druck auf den Staat aufgebaut, der sich so lange weigerte zu reagieren. Im Radiofeature „Der letzte Tag“ von Sebastian Friedrich bringt Newroz Duman von der Initiative 19. Februar aus Hanau dies auf den Punkt: „Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass die Politik handelt, dass endlich Konsequenzen gezogen werden. Wir wollen keine weiteren Morde. Hanau war kein Einzelfall.“Rechte Chatgruppen und Polizist*innen, Bundeswehrsoldaten, Richter:  Wie Hessen von Skandal zu Skandal wegzusehen versucht, fassen Sonja Brasch und Sebastian Hell zusammen .Caro Keller von NSU-Watch schildert im Interview, welche Rolle Hessen im NSU-Komplex spielt und gibt einen Ausblick auf das Projekt „Kein Weg vorbei“,  das einen kritischen Blick auf die hessischen Zustände wirft.Den Hintergründen zum NSU 2.0 und den Versuchen, den Angeklagten im laufenden Prozess zum Einzeltäter zu erklären, widmen sich Sebastian Hell und Simon Tolvaj.Sonja Brasch analysiert die Arbeit der „BAO Hessen R“ hinter den Floskeln der staatlichen Öffentlichkeitsarbeit.Die Gruppe „Pressestelle“ stellt vor, wie sie mit eigenen Recherchen am Aufbau einer Gegenöffentlichkeit zu staatlichen Narrativen in Nordhessen arbeitet. Schwerpunkt 7731 Mon, 02 May 2022 22:32:02 +0200 LOTTA Hessische Zustände Britta Kremers „Hessen ist ein sicheres Land“, so Innenminister Peter Beuth bei der Vorstellung der Kriminalstatistik 2019. Doch für wen gilt dieser Satz? Für Kaloyan Velkov, Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu und Gökhan Gültekin  jedenfalls nicht. Sie starben nicht einmal zwei Tage nach der Aussage Beuths, ermordet von einem extrem rechten Täter. Weil Neonazis ihnen das Recht zu leben absprachen, mussten auch Halit Yozgat und Walter Lübcke sterben. Auch für die Überlebenden rassistischer Angriffe wie beispielsweise Bilal M. und Ahmed I., gab es keine Sicherheit. Oder für Seda Başay-Yıldız, eine der Empfänger*innen der Drohschreiben des NSU 2.0.Diese Menschen sind die bekannteren Todesopfer und Betroffene rechter Gewalt und Drohungen, also rechten Terrors in Hessen, nicht jedoch die einzigen. Ein Skandal mit extrem rechten Bezügen folgt auf den nächsten, die staatlichen Verstrickungen sind offenbar. Hessen hat ein strukturelles Problem mit Rassismus und rechter Gewalt. Die Gründe dafür sind vielfältig, die eine Antwort kann dieser Schwerpunkt nicht geben. Dass der Unwille, sich mit rechten Strukturen und Ungleichheitsideologien tiefgehender und ehrlich auseinanderzusetzen, nicht unwesentlichen Anteil daran hat, liegt jedoch auf der Hand. Deshalb tut es not, einen kritischen Blick auf staatliche Institutionen zu werfen und die staatliche Deutungshoheit in Frage zu stellen. LOTTA hat in den vergangenen Jahren regelmäßig über größere und kleinere Ereignisse, Entwicklungen und Erkenntnisse aus Hessen berichtet. Nun ist es Zeit für einen Schwerpunkt, der verschiedene Facetten tiefergehend beleuchtet. Denn an Hessen führt kein Weg vorbei, will man die Kontinuitätslinien rechten Terrors und ihre Verschränkung mit Staat und Gesellschaft verstehen.Hessen ist aber auch Ort des Kampfes und der Vernetzung. Wut und Trauer über die Verhältnisse werden zu widerständiger Praxis, gemeinsam werden Perspektiven des Lebens und Überlebens in den „Hessischen Zuständen“ geschaffen und Druck auf den Staat aufgebaut, der sich so lange weigerte zu reagieren. Im Radiofeature „Der letzte Tag“ von Sebastian Friedrich bringt Newroz Duman von der Initiative 19. Februar aus Hanau dies auf den Punkt: „Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass die Politik handelt, dass endlich Konsequenzen gezogen werden. Wir wollen keine weiteren Morde. Hanau war kein Einzelfall.“Rechte Chatgruppen und Polizist*innen, Bundeswehrsoldaten, Richter:  Wie Hessen von Skandal zu Skandal wegzusehen versucht, fassen Sonja Brasch und Sebastian Hell zusammen .Caro Keller von NSU-Watch schildert im Interview, welche Rolle Hessen im NSU-Komplex spielt und gibt einen Ausblick auf das Projekt „Kein Weg vorbei“,  das einen kritischen Blick auf die hessischen Zustände wirft.Den Hintergründen zum NSU 2.0 und den Versuchen, den Angeklagten im laufenden Prozess zum Einzeltäter zu erklären, widmen sich Sebastian Hell und Simon Tolvaj.Sonja Brasch analysiert die Arbeit der „BAO Hessen R“ hinter den Floskeln der staatlichen Öffentlichkeitsarbeit.Die Gruppe „Pressestelle“ stellt vor, wie sie mit eigenen Recherchen am Aufbau einer Gegenöffentlichkeit zu staatlichen Narrativen in Nordhessen arbeitet. 2022-05-02T22:32:02+02:00 Von Skandal zu Skandal | Der Umgang mit extrem rechten Vorfällen in Hessen https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/86/von-skandal-zu-skandal „Wer gegen die Nazis kämpft, der kann sich auf den Staat nicht verlassen“. Auf kaum ein anderes westdeutsches Bundesland passt der Satz von Esther Bejarano so gut wie auf Hessen, ist dieses Bundesland doch in den vergangenen zehn Jahren zum Synonym für einen skandalösen staatlichen Umgang mit rechter Gewalt geworden. Die Landesregierung reagiert vor allem mit Beschwichtigungen und Lippenbekenntnissen. Die Betroffenen müssen gemeinsam mit ihrem Umfeld und Verbündeten mühsam um Aufklärung kämpfen. Sie versuchen, durch Eigeninitiative und Vernetzung aus der Passivität auszubrechen und sich gegen die Zustände zu wehren. Eine grundlegende gesellschaftliche Debatte über Rassismus bleibt derweil aus.„Hessen, das neue Sachsen?“, fragte eine Twitter-Nutzerin im Januar 2019, nachdem die Frankfurter Anwältin Seda Başay-Yıldız zum wiederholten Mal ein Drohschreiben des NSU 2.0 erhalten hatte. Die Frage zielte vor allem auf Rassismus innerhalb der Polizei und Verbindungen zu Neonazis ab, denn die Drohschreiben sollen auf Datenabfragen im 1. Polizeirevier in Frankfurt fußen. Parallel flogen zu dieser Zeit immer mehr Chatgruppen innerhalb der hessischen Polizei auf, in denen rassistische, anti­semitische und sexistische Nachrichten und Bilder geteilt und kommentiert wurden. Die Zusammenhänge erhielten unter dem Begriff „hessischer Polizeiskandal“ große mediale Aufmerksamkeit. Unter dem Eindruck der rassistischen Anschläge von Hanau, des Mordes am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und des Mordanschlags in Wächtersbach verstärkte sich das Misstrauen gegenüber der Polizei mit jeder neu entdeckten Chatgruppe.Schon im NSU-Komplex schuf die sog­e­nannte Causa Temme eine große Skepsis gegenüber den Behörden, besonders dem Geheimdienst. Bis heute ist die Frage unbeantwortet, was der damalige VS-Mitarbeiter Andreas Temme während des Mordes an Halit Yozgat im Internetcafé der Familie Yozgat machte. Dass der als „NSU-Akten“ titulierte Geheimbericht des hessischen Geheimdienstes zuerst für 120, nun für 30 Jahre unter Verschluss bleiben soll, ist einer der Tiefpunkte in der Aufarbeitung.(K)ein PolizeiskandalSeit 2018 wurden von mehreren hessischen Dienstcomputern — unter anderem im 1. Polizeirevier in Frankfurt sowie in Wiesbaden — persönliche Daten von Personen abgerufen, die Drohschreiben des NSU 2.0 erhielten. Adressiert waren die weit über 100 Schreiben an mehrheitlich weibliche Personen, die aufgrund ihres politischen Engagements in der Öffentlichkeit standen. Zeitgleich wurde in Hessen gegen etwa 100 Polizist*innen wegen Chatgruppen mit extrem rechten Inhalten ermittelt. Hierbei ging es um Bilder wie jenes eines Polizeianwärters, auf dem jüdische Menschen in einem Deportationszug zu sehen waren, verbunden mit der Botschaft „Genieß das Leben in vollen Zügen.“ Ein Polizist aus Kirtorf soll in einem Chat Hitler-Bilder geteilt haben. Er und sein Bruder wurden auch bekannt, da ihnen vorgeworfen wurde, auf einer Kirmes rassistische Parolen gerufen zu haben. (Siehe LOTTA #74 „Tiefe moralische Verkommenheit“, S. 33 ff).Die Konsequenzen für die Teilnehmer*­innen der Chats waren unterschiedlich. Der erwähnte Polizeianwärter sowie die fünf weiteren Beteiligten wurden entlassen. In Frankfurt wurde nach Bekanntwerden einer Chatgruppe das SEK aufgelöst, die Polizist*innen wurden versetzt. Die Fälle, die vor Gericht verhandelt wurden, endeten oftmals mit Freisprüchen, da die Chats als nicht-öffentlicher Raum gewertet wurden. 93 Disziplinarverfahren wurden eingeleitet. Über den Stand und Ausgang der disziplinarrechtlichen Maßnahmen lassen sich nur wenige Informationen finden. So resümiert der Bericht der Kommission „Verantwortung der Polizei in einer pluralistischen Gesellschaft“: „Wegen des Verdachts von Beamtenpflichtverletzungen aufgrund rechtsextremistischer Gesinnung wurden [im Zeitraum 01.01.2015 bis 30.04.2021. Anm.d. Verf.] 93 Disziplinarverfahren eingeleitet. Mit Stand vom 30. April 2021 waren hiervon 39 Verfahren abgeschlossen und 33 ausgesetzt. Bei 21 Verfahren laufen noch disziplinarrechtliche Ermittlungen.“ Aktuellere Zahlen wurden bislang nicht veröffentlicht.Wenn du mal nicht weiter weißt, …Das Innenministerium geriet während der Vorgänge immer wieder unter Druck, auch wegen seiner Informationspolitik. Innenminister Peter Beuth (CDU) blieb dennoch seiner Linie treu, weitestgehend nur zu sagen, was ohnehin schon bekannt war. Dies führte dazu, dass Betroffene und Parlamentarier*innen vieles erst aus der Presse erfuhren. Konsequenzen folgten kaum oder waren wie bei der Auflösung des SEK in Frankfurt eine Inszenierung vermeintlicher Stärke oder Handlungsfähigkeit. So auch, als 2020 der Landespolizeipräsident Udo Münch in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurde. Beuth gab an, er sei von Münch erst Monate später über Details zu den Datenabfragen im NSU 2.0-Komplex informiert worden. Statt den vielen Forderungen nach Rücktritt nachzukommen, arrangierte Beuth drei öffentlichkeitswirksame Maßnahmen. Er holte sich Wissenschaftler*innen zu Hilfe und gab eine Studie in Auftrag, bei der sich Polizist*innen selbst politisch einschätzen sollten. Das Ergebnis passte trefflich: Fast alle Polizist*innen seien Demokraten, unter die sich „extremistische“ Einzelfälle mischten. Die Studie wurde allerdings von Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirats hart kritisiert und als unbrauchbar beschrieben.Als zweites wurde eine Expert*innenkommission mit dem Titel „Verantwortung der Polizei in einer pluralistischen Gesellschaft. Die gute Arbeit der Polizeibeamten stärken, Fehlverhalten frühzeitig erkennen und ahnden“ gegründet, die die Vorgänge aufarbeiten und daraus Handlungsanweisungen ableiten sollte. Sie legte ihren Abschlussbericht im Juli 2021 vor. Unter anderem beschäftigte sie sich mit Datenschutz im Polizeikontext. Auch hier kam es zum Eklat: Zwei Mitglieder traten zurück, über die Motive äußerten sie sich aufgrund einer Verschwiegenheitserklärung nicht. Allerdings berichteten mehrere Medien, dass das Thema Datenschutz der Grund gewesen sei. Eine vorläufige Fassung, die noch Namen von Polizist*innen enthielt, die die Kommission auf Missstände innerhalb der Behörde aufmerksam gemacht hatten, sei an leitende Polizeibeamte weitergegeben worden.Die dritte Maßnahme war die Schaffung eines „Bürger- und Polizeibeauftragten“. Der Hamburger Polizeiwissenschaftler Rafael Behr sollte die Stelle besetzen, zog aber zurück. Eine Nachfolge ist bisher nicht gefunden.Kein Rassismus, keine NetzwerkeAls der vermutete Versender der NSU 2.0-Drohschreiben festgenommen worden war, meldete sich Beuth schnell und öffentlichkeitswirksam zu Wort. Er zeigte sich erleichtert, dass die Frankfurter Polizist*innen nun entlastet seien, obwohl unklar blieb, wie der Beschuldigte an die Adressdaten der Betroffenen gelangte (siehe S. 14ff).Einer grundsätzlichen Debatte über Rassismus in der Polizei erteilte der Minister stets eine Absage. Zunächst versuchte er, Vorkommnisse als Einzelfälle zu deklarieren. Als dies nicht mehr haltbar war, sprach er von einzelnen Netzwerken. Strukturellen Rassismus in der hessischen Polizei verneinte er stets, einen solchen „Generalverdacht“ verbitte er sich. Doch wie Maximilian Pichl in LOTTA #68 („Nicht nur das Fehlverhalten Einzelner ist das Problem“, S. 16 ff) darlegte, geht es im Polizeiapparat eben „nicht nur [um] das Fehlverhalten einzelner“. Bei den offenbar mit dem NSU 2.0 verwobenen Polizist*innen wurde zeitweise auch — quasi als Rechtfertigungsversuch — um Verständnis für deren schwierige Lage geworben und auf die — überwiegend „nichtdeutschen“ — Personen verwiesen, mit denen sie tagtäglich zu tun hätten.Es lässt sich erahnen, welche Stimmung in hessischen Polizeidienststellen herrscht, die es Beamt*innen erlaubten, ihr Weltbild so offensiv mit Gleichgesinnten in Chatgruppen auszuleben. Das Handeln des Innenministers zeigt, dass nicht zu erwarten ist, dass er die Probleme begriffen hat. So verteidigte Beuth, dass gesperrte Adressdaten von Başay-Yıldız ungeschwärzt in Akten eines Untersuchungsausschusses auftauchten. Er sehe lediglich die „staatlichen Schutzinteressen“ als maßgeblich an, für den „Schutz von Privatgeheimnissen“ sei er nicht zuständig. Dass in der Vergangenheit dem Parlament ganze Aktenteile vorenthalten wurden, um V-Personen zu schützen, zeigt erneut die Empathielosigkeit Beuths gegenüber Betroffenen rassistischer Drohungen und Gewalt. Zwischenzeitlich hat die Kommission mehrere Empfehlungen zur Reform der Polizei vorgelegt. Ob und wie diese umgesetzt werden, ist ungewiss. Am Beispiel NRW zeigte Günter Born in LOTTA #81 („Risse in der Wagenburg“, S. 4 ff), dass es wenig Anlass zur Hoffnung gibt.Lebenswelt statt OrganisationLange waren Politik und Behörden in Hessen bemüht, rechte Strukturen und Gewalttaten systematisch zu verschweigen. Ein Beispiel dafür ist ein versuchter Mordanschlag auf einen Frankfurter AStA-Vorsitzenden im Jahr 2000. Nur wenn die Gewalt nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden konnte, setzte Repression ein. Kameradschaftsstrukturen wie beispielsweise die Berserker Kirtorf in den 2000er Jahren oder die Freien Kräfte Schwalm-Eder in den 2010ern konnten sich als Organisationen nie langfristig entfalten. Ihrem Treiben wurde durch antifaschistische Intervention, zivilgesellschaftlichen Protest und/oder staatliche Repression ein Ende gesetzt. Langfristig erfolgreicher sind und waren in Hessen lose Strukturen aus Bekanntschaften und Freundeskreisen ohne Verein, Label oder Parteibuch. Die im Jahr 2010 veröffentlichte Broschüre „Dunkelfeld“ widmet sich ausführlich diesen rechten hessischen Lebenswelten. Und so ist für fast alle Regionen festzustellen: Auch wenn die Gruppen verschwanden, blieb zum einen das Personal, zum anderen die Mentalität. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus und Sexismus folgte nie, insbesondere nicht in den ländlichen Regionen abseits der Nord-Süd-Achse der Städte Kassel, Marburg, Gießen, Frankfurt und Wiesbaden.Wenn Neonazis sich in Hessen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten abseits von extrem rechten Strukturen, die allzu vehement in die Öffentlichkeit drängten, organisierten, konnten diese sich meist problemlos unter dem Radar der Öffentlichkeit und der Sicherheitsbehörden bewegen. Das zeigt eindrücklich das Beispiel von Stephan Ernst, der den Kameradschaftsabend gegen den Frühstücksraum seines Arbeitsplatzes als Agitationsort tauschte (vgl. LOTTA #80, „Der Kleinbürger“, S. 24 ff.). Auch dem Täter von Wächtersbach wurde attestiert, nicht der rechten Szene angehört zu haben. Ihm bot seine Stammkneipe ein Umfeld, in dem es scheinbar problemlos möglich war, rassistische Gewaltphantasien zu äußern. Als er im Juli 2019 dort seine Tat ankündigte, intervenierte niemand. (siehe hierzu LOTTA #76, „Irgendwo in Hessen“, S. 6 ff.)Trotz dieser Beispiele, die auch bundesweit Widerhall fanden, hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass Neonazi-Sein mit einem NPD-Parteibuch oder zumindest der Teilnahme an Kameradschaftsveranstaltungen einhergehe. Doch sowohl bei verübten als auch bei vermutlich geplanten Attentaten zeigt sich, wie fatal diese Annahme ist. Der Hanau-Attentäter ist dafür ebenso ein Beispiel wie der Bundeswehrsoldat Franco Albrecht (vgl. LOTTA #79, „Rechter Soldat bald vor Gericht“, S. 25 ff.). Und auch Tim K. — ebenfalls Bundeswehrsoldat — aus Glashüten und Marvin E. aus dem nordhessischen Spangenberg, bei denen Waffen und/oder Sprengstoff gefunden wurden und die der Vorbereitung von Anschlägen verdächtigt werden. Abseits der gängigen Neonazi-Strukturen bauten diese sich eine eigene Weltsicht auf, die durch virtuelle Kontakte untermauert wurde. E. trat sogar noch 2021 auf der CDU-Liste zur Kommunalwahl an. Alle genannten Männer fühlten sich berufen, ihr Weltbild in „Manifesten“ oder Schreiben an staatliche Stellen festzuhalten.GerichteWie sehr Rassismus auch in Behörden und Gerichten verbreitet ist, bekam unter anderen Ahmed I. zu spüren. Bei seiner Aussage im Prozess gegen den Lübke-Mörder Stephan Ernst wurde ihm immer wieder und äußerst ungeduldig von Richter Thomas Sagebiel zugesetzt. Ihm wurde kein Raum zugestanden, seine Erfahrungen zu schildern. (Vgl. LOTTA #82, „Chance, nochmal hinzuschauen“, S. 20 ff.). Sein Kollege Andreas Höfer am Verwaltungsgericht im mittelhessischen Gießen hingegen gab 2019 der NPD recht, indem er ein Wahlplakat mit der Aufschrift „Migration tötet“ als nicht volksverhetzend einstufte. In der Urteilsbegründung führte Höfer weitschweifig aus, es handele sich bei dem Slogan um eine empirisch beweisbare Tatsache und Einwanderung von geflüchteten Menschen sei eine „Invasion“.Wegen dieses Urteils lehnte sechs Monate später ein afghanischer Asylbewerber den Richter wegen Befangenheit in seinem Asylverfahren ab. Die darüber urteilenden Richter am Gießener Verwaltungsgericht sahen diese nicht gegeben. Höfer lehnte den Asylantrag ab, gewährte dem Geflüchteten allerdings subsidiären Schutz. Dieser legte daraufhin Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe ein. Dort endlich wurde der rassistische Lokalklüngel erkannt und Höfer als ungeeignet für Asylverfahren eingestuft. Den Verwaltungsrichtern wurde „Willkür“ attestiert und ihre Entscheidung als „offensichtlich unhaltbar“ deklariert.Druck selbst aufbauenBetroffenen rechter Gewalt bleibt oft nur Frustration, wenn die Versprechen der Politik nach „lückenloser Aufklärung“ ins Leere laufen. Gerichts- und Parlamentssäle sind bisher ungeeignet, um Gerechtigkeit herzustellen. Nur selten gibt es Personal, das Rassismus nicht als moralische Verfehlung Einzelner, sondern als Machtstruktur in der Gesellschaft begreift. Gerichte urteilen über individuelle Schuld, Untersuchungsausschüsse dienen vor allem den Parteien als politische Bühne. Nur mit Mühe und unter großer Anstrengung können sich die Betroffenen und Angehörigen hier Räume erkämpfen, wie das Beispiel von Ayşe Yozgat und İsmail Yozgat im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss zeigt (vgl. LOTTA #77, „Wessen Wissen zählt“, S. 4 ff.). Kraftvollstes Beispiel dieses Kampfes sind die Angehörigen der Menschen, die in Hanau ermordet wurden, sowie die Überlebenden des Anschlags. Sie schufen sich nicht nur ihren eigenen Raum und sorgten dafür, dass die Namen ihrer Liebsten an allen Wänden zu lesen waren, sondern sie setzten auch die Politik derart unter Druck, dass ein Untersuchungsausschuss eingesetzt werden musste. Seda Ardal stellte in LOTTA #79 (S. 13 ff.) den Ort des gemeinsamen Trauerns, der Wut und der Aktion vor, den die Initiative als „140 qm gegen das Vergessen“ charakterisiert.Die immer wiederkehrenden Kreisläufe aus Angriffen, rassistischen und politisch motivierten Ermittlungen oder gar Kriminalisierungen, ausbleibenden Urteilen und dem Verpuffen als ein Skandal unter vielen sind kräftezehrend und frustrierend. Doch stößt der gemeinsame Kampf auch neue Bündnisse an. Antifaschistische Gruppen und Recherchekollektive reflektieren ihre Rolle und Aufgabe der Beobachtung der Neonazi-Szene und begreifen vermehrt, dass ohne die Betrachtung aller Ebenen von Rassismus und anderen Ungleichheitsideologien ihr Kampf kein nachhaltiger ist. Langsam setzt sich die Einsicht durch, dass solidarisch kämpfen heißt, die unterschiedlichen Ebenen von Betroffenheit anzuerkennen und sich gegenseitig zu unterstützen, anstatt sich gegeneinander ausspielen zu lassen. Denn klar ist: Rechter Terror baut auf die ohnehin schon vorhandenen gesellschaftlichen Gräben auf, will neue schaffen und bestehende vertiefen. Schwerpunkt 7732 Mon, 02 May 2022 22:32:02 +0200 LOTTA Von Skandal zu Skandal Sebastian Hell, Sonja Brasch „Wer gegen die Nazis kämpft, der kann sich auf den Staat nicht verlassen“. Auf kaum ein anderes westdeutsches Bundesland passt der Satz von Esther Bejarano so gut wie auf Hessen, ist dieses Bundesland doch in den vergangenen zehn Jahren zum Synonym für einen skandalösen staatlichen Umgang mit rechter Gewalt geworden. Die Landesregierung reagiert vor allem mit Beschwichtigungen und Lippenbekenntnissen. Die Betroffenen müssen gemeinsam mit ihrem Umfeld und Verbündeten mühsam um Aufklärung kämpfen. Sie versuchen, durch Eigeninitiative und Vernetzung aus der Passivität auszubrechen und sich gegen die Zustände zu wehren. Eine grundlegende gesellschaftliche Debatte über Rassismus bleibt derweil aus.„Hessen, das neue Sachsen?“, fragte eine Twitter-Nutzerin im Januar 2019, nachdem die Frankfurter Anwältin Seda Başay-Yıldız zum wiederholten Mal ein Drohschreiben des NSU 2.0 erhalten hatte. Die Frage zielte vor allem auf Rassismus innerhalb der Polizei und Verbindungen zu Neonazis ab, denn die Drohschreiben sollen auf Datenabfragen im 1. Polizeirevier in Frankfurt fußen. Parallel flogen zu dieser Zeit immer mehr Chatgruppen innerhalb der hessischen Polizei auf, in denen rassistische, anti­semitische und sexistische Nachrichten und Bilder geteilt und kommentiert wurden. Die Zusammenhänge erhielten unter dem Begriff „hessischer Polizeiskandal“ große mediale Aufmerksamkeit. Unter dem Eindruck der rassistischen Anschläge von Hanau, des Mordes am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und des Mordanschlags in Wächtersbach verstärkte sich das Misstrauen gegenüber der Polizei mit jeder neu entdeckten Chatgruppe.Schon im NSU-Komplex schuf die sog­e­nannte Causa Temme eine große Skepsis gegenüber den Behörden, besonders dem Geheimdienst. Bis heute ist die Frage unbeantwortet, was der damalige VS-Mitarbeiter Andreas Temme während des Mordes an Halit Yozgat im Internetcafé der Familie Yozgat machte. Dass der als „NSU-Akten“ titulierte Geheimbericht des hessischen Geheimdienstes zuerst für 120, nun für 30 Jahre unter Verschluss bleiben soll, ist einer der Tiefpunkte in der Aufarbeitung.(K)ein PolizeiskandalSeit 2018 wurden von mehreren hessischen Dienstcomputern — unter anderem im 1. Polizeirevier in Frankfurt sowie in Wiesbaden — persönliche Daten von Personen abgerufen, die Drohschreiben des NSU 2.0 erhielten. Adressiert waren die weit über 100 Schreiben an mehrheitlich weibliche Personen, die aufgrund ihres politischen Engagements in der Öffentlichkeit standen. Zeitgleich wurde in Hessen gegen etwa 100 Polizist*innen wegen Chatgruppen mit extrem rechten Inhalten ermittelt. Hierbei ging es um Bilder wie jenes eines Polizeianwärters, auf dem jüdische Menschen in einem Deportationszug zu sehen waren, verbunden mit der Botschaft „Genieß das Leben in vollen Zügen.“ Ein Polizist aus Kirtorf soll in einem Chat Hitler-Bilder geteilt haben. Er und sein Bruder wurden auch bekannt, da ihnen vorgeworfen wurde, auf einer Kirmes rassistische Parolen gerufen zu haben. (Siehe LOTTA #74 „Tiefe moralische Verkommenheit“, S. 33 ff).Die Konsequenzen für die Teilnehmer*­innen der Chats waren unterschiedlich. Der erwähnte Polizeianwärter sowie die fünf weiteren Beteiligten wurden entlassen. In Frankfurt wurde nach Bekanntwerden einer Chatgruppe das SEK aufgelöst, die Polizist*innen wurden versetzt. Die Fälle, die vor Gericht verhandelt wurden, endeten oftmals mit Freisprüchen, da die Chats als nicht-öffentlicher Raum gewertet wurden. 93 Disziplinarverfahren wurden eingeleitet. Über den Stand und Ausgang der disziplinarrechtlichen Maßnahmen lassen sich nur wenige Informationen finden. So resümiert der Bericht der Kommission „Verantwortung der Polizei in einer pluralistischen Gesellschaft“: „Wegen des Verdachts von Beamtenpflichtverletzungen aufgrund rechtsextremistischer Gesinnung wurden [im Zeitraum 01.01.2015 bis 30.04.2021. Anm.d. Verf.] 93 Disziplinarverfahren eingeleitet. Mit Stand vom 30. April 2021 waren hiervon 39 Verfahren abgeschlossen und 33 ausgesetzt. Bei 21 Verfahren laufen noch disziplinarrechtliche Ermittlungen.“ Aktuellere Zahlen wurden bislang nicht veröffentlicht.Wenn du mal nicht weiter weißt, …Das Innenministerium geriet während der Vorgänge immer wieder unter Druck, auch wegen seiner Informationspolitik. Innenminister Peter Beuth (CDU) blieb dennoch seiner Linie treu, weitestgehend nur zu sagen, was ohnehin schon bekannt war. Dies führte dazu, dass Betroffene und Parlamentarier*innen vieles erst aus der Presse erfuhren. Konsequenzen folgten kaum oder waren wie bei der Auflösung des SEK in Frankfurt eine Inszenierung vermeintlicher Stärke oder Handlungsfähigkeit. So auch, als 2020 der Landespolizeipräsident Udo Münch in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurde. Beuth gab an, er sei von Münch erst Monate später über Details zu den Datenabfragen im NSU 2.0-Komplex informiert worden. Statt den vielen Forderungen nach Rücktritt nachzukommen, arrangierte Beuth drei öffentlichkeitswirksame Maßnahmen. Er holte sich Wissenschaftler*innen zu Hilfe und gab eine Studie in Auftrag, bei der sich Polizist*innen selbst politisch einschätzen sollten. Das Ergebnis passte trefflich: Fast alle Polizist*innen seien Demokraten, unter die sich „extremistische“ Einzelfälle mischten. Die Studie wurde allerdings von Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirats hart kritisiert und als unbrauchbar beschrieben.Als zweites wurde eine Expert*innenkommission mit dem Titel „Verantwortung der Polizei in einer pluralistischen Gesellschaft. Die gute Arbeit der Polizeibeamten stärken, Fehlverhalten frühzeitig erkennen und ahnden“ gegründet, die die Vorgänge aufarbeiten und daraus Handlungsanweisungen ableiten sollte. Sie legte ihren Abschlussbericht im Juli 2021 vor. Unter anderem beschäftigte sie sich mit Datenschutz im Polizeikontext. Auch hier kam es zum Eklat: Zwei Mitglieder traten zurück, über die Motive äußerten sie sich aufgrund einer Verschwiegenheitserklärung nicht. Allerdings berichteten mehrere Medien, dass das Thema Datenschutz der Grund gewesen sei. Eine vorläufige Fassung, die noch Namen von Polizist*innen enthielt, die die Kommission auf Missstände innerhalb der Behörde aufmerksam gemacht hatten, sei an leitende Polizeibeamte weitergegeben worden.Die dritte Maßnahme war die Schaffung eines „Bürger- und Polizeibeauftragten“. Der Hamburger Polizeiwissenschaftler Rafael Behr sollte die Stelle besetzen, zog aber zurück. Eine Nachfolge ist bisher nicht gefunden.Kein Rassismus, keine NetzwerkeAls der vermutete Versender der NSU 2.0-Drohschreiben festgenommen worden war, meldete sich Beuth schnell und öffentlichkeitswirksam zu Wort. Er zeigte sich erleichtert, dass die Frankfurter Polizist*innen nun entlastet seien, obwohl unklar blieb, wie der Beschuldigte an die Adressdaten der Betroffenen gelangte (siehe S. 14ff).Einer grundsätzlichen Debatte über Rassismus in der Polizei erteilte der Minister stets eine Absage. Zunächst versuchte er, Vorkommnisse als Einzelfälle zu deklarieren. Als dies nicht mehr haltbar war, sprach er von einzelnen Netzwerken. Strukturellen Rassismus in der hessischen Polizei verneinte er stets, einen solchen „Generalverdacht“ verbitte er sich. Doch wie Maximilian Pichl in LOTTA #68 („Nicht nur das Fehlverhalten Einzelner ist das Problem“, S. 16 ff) darlegte, geht es im Polizeiapparat eben „nicht nur [um] das Fehlverhalten einzelner“. Bei den offenbar mit dem NSU 2.0 verwobenen Polizist*innen wurde zeitweise auch — quasi als Rechtfertigungsversuch — um Verständnis für deren schwierige Lage geworben und auf die — überwiegend „nichtdeutschen“ — Personen verwiesen, mit denen sie tagtäglich zu tun hätten.Es lässt sich erahnen, welche Stimmung in hessischen Polizeidienststellen herrscht, die es Beamt*innen erlaubten, ihr Weltbild so offensiv mit Gleichgesinnten in Chatgruppen auszuleben. Das Handeln des Innenministers zeigt, dass nicht zu erwarten ist, dass er die Probleme begriffen hat. So verteidigte Beuth, dass gesperrte Adressdaten von Başay-Yıldız ungeschwärzt in Akten eines Untersuchungsausschusses auftauchten. Er sehe lediglich die „staatlichen Schutzinteressen“ als maßgeblich an, für den „Schutz von Privatgeheimnissen“ sei er nicht zuständig. Dass in der Vergangenheit dem Parlament ganze Aktenteile vorenthalten wurden, um V-Personen zu schützen, zeigt erneut die Empathielosigkeit Beuths gegenüber Betroffenen rassistischer Drohungen und Gewalt. Zwischenzeitlich hat die Kommission mehrere Empfehlungen zur Reform der Polizei vorgelegt. Ob und wie diese umgesetzt werden, ist ungewiss. Am Beispiel NRW zeigte Günter Born in LOTTA #81 („Risse in der Wagenburg“, S. 4 ff), dass es wenig Anlass zur Hoffnung gibt.Lebenswelt statt OrganisationLange waren Politik und Behörden in Hessen bemüht, rechte Strukturen und Gewalttaten systematisch zu verschweigen. Ein Beispiel dafür ist ein versuchter Mordanschlag auf einen Frankfurter AStA-Vorsitzenden im Jahr 2000. Nur wenn die Gewalt nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden konnte, setzte Repression ein. Kameradschaftsstrukturen wie beispielsweise die Berserker Kirtorf in den 2000er Jahren oder die Freien Kräfte Schwalm-Eder in den 2010ern konnten sich als Organisationen nie langfristig entfalten. Ihrem Treiben wurde durch antifaschistische Intervention, zivilgesellschaftlichen Protest und/oder staatliche Repression ein Ende gesetzt. Langfristig erfolgreicher sind und waren in Hessen lose Strukturen aus Bekanntschaften und Freundeskreisen ohne Verein, Label oder Parteibuch. Die im Jahr 2010 veröffentlichte Broschüre „Dunkelfeld“ widmet sich ausführlich diesen rechten hessischen Lebenswelten. Und so ist für fast alle Regionen festzustellen: Auch wenn die Gruppen verschwanden, blieb zum einen das Personal, zum anderen die Mentalität. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus und Sexismus folgte nie, insbesondere nicht in den ländlichen Regionen abseits der Nord-Süd-Achse der Städte Kassel, Marburg, Gießen, Frankfurt und Wiesbaden.Wenn Neonazis sich in Hessen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten abseits von extrem rechten Strukturen, die allzu vehement in die Öffentlichkeit drängten, organisierten, konnten diese sich meist problemlos unter dem Radar der Öffentlichkeit und der Sicherheitsbehörden bewegen. Das zeigt eindrücklich das Beispiel von Stephan Ernst, der den Kameradschaftsabend gegen den Frühstücksraum seines Arbeitsplatzes als Agitationsort tauschte (vgl. LOTTA #80, „Der Kleinbürger“, S. 24 ff.). Auch dem Täter von Wächtersbach wurde attestiert, nicht der rechten Szene angehört zu haben. Ihm bot seine Stammkneipe ein Umfeld, in dem es scheinbar problemlos möglich war, rassistische Gewaltphantasien zu äußern. Als er im Juli 2019 dort seine Tat ankündigte, intervenierte niemand. (siehe hierzu LOTTA #76, „Irgendwo in Hessen“, S. 6 ff.)Trotz dieser Beispiele, die auch bundesweit Widerhall fanden, hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass Neonazi-Sein mit einem NPD-Parteibuch oder zumindest der Teilnahme an Kameradschaftsveranstaltungen einhergehe. Doch sowohl bei verübten als auch bei vermutlich geplanten Attentaten zeigt sich, wie fatal diese Annahme ist. Der Hanau-Attentäter ist dafür ebenso ein Beispiel wie der Bundeswehrsoldat Franco Albrecht (vgl. LOTTA #79, „Rechter Soldat bald vor Gericht“, S. 25 ff.). Und auch Tim K. — ebenfalls Bundeswehrsoldat — aus Glashüten und Marvin E. aus dem nordhessischen Spangenberg, bei denen Waffen und/oder Sprengstoff gefunden wurden und die der Vorbereitung von Anschlägen verdächtigt werden. Abseits der gängigen Neonazi-Strukturen bauten diese sich eine eigene Weltsicht auf, die durch virtuelle Kontakte untermauert wurde. E. trat sogar noch 2021 auf der CDU-Liste zur Kommunalwahl an. Alle genannten Männer fühlten sich berufen, ihr Weltbild in „Manifesten“ oder Schreiben an staatliche Stellen festzuhalten.GerichteWie sehr Rassismus auch in Behörden und Gerichten verbreitet ist, bekam unter anderen Ahmed I. zu spüren. Bei seiner Aussage im Prozess gegen den Lübke-Mörder Stephan Ernst wurde ihm immer wieder und äußerst ungeduldig von Richter Thomas Sagebiel zugesetzt. Ihm wurde kein Raum zugestanden, seine Erfahrungen zu schildern. (Vgl. LOTTA #82, „Chance, nochmal hinzuschauen“, S. 20 ff.). Sein Kollege Andreas Höfer am Verwaltungsgericht im mittelhessischen Gießen hingegen gab 2019 der NPD recht, indem er ein Wahlplakat mit der Aufschrift „Migration tötet“ als nicht volksverhetzend einstufte. In der Urteilsbegründung führte Höfer weitschweifig aus, es handele sich bei dem Slogan um eine empirisch beweisbare Tatsache und Einwanderung von geflüchteten Menschen sei eine „Invasion“.Wegen dieses Urteils lehnte sechs Monate später ein afghanischer Asylbewerber den Richter wegen Befangenheit in seinem Asylverfahren ab. Die darüber urteilenden Richter am Gießener Verwaltungsgericht sahen diese nicht gegeben. Höfer lehnte den Asylantrag ab, gewährte dem Geflüchteten allerdings subsidiären Schutz. Dieser legte daraufhin Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe ein. Dort endlich wurde der rassistische Lokalklüngel erkannt und Höfer als ungeeignet für Asylverfahren eingestuft. Den Verwaltungsrichtern wurde „Willkür“ attestiert und ihre Entscheidung als „offensichtlich unhaltbar“ deklariert.Druck selbst aufbauenBetroffenen rechter Gewalt bleibt oft nur Frustration, wenn die Versprechen der Politik nach „lückenloser Aufklärung“ ins Leere laufen. Gerichts- und Parlamentssäle sind bisher ungeeignet, um Gerechtigkeit herzustellen. Nur selten gibt es Personal, das Rassismus nicht als moralische Verfehlung Einzelner, sondern als Machtstruktur in der Gesellschaft begreift. Gerichte urteilen über individuelle Schuld, Untersuchungsausschüsse dienen vor allem den Parteien als politische Bühne. Nur mit Mühe und unter großer Anstrengung können sich die Betroffenen und Angehörigen hier Räume erkämpfen, wie das Beispiel von Ayşe Yozgat und İsmail Yozgat im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss zeigt (vgl. LOTTA #77, „Wessen Wissen zählt“, S. 4 ff.). Kraftvollstes Beispiel dieses Kampfes sind die Angehörigen der Menschen, die in Hanau ermordet wurden, sowie die Überlebenden des Anschlags. Sie schufen sich nicht nur ihren eigenen Raum und sorgten dafür, dass die Namen ihrer Liebsten an allen Wänden zu lesen waren, sondern sie setzten auch die Politik derart unter Druck, dass ein Untersuchungsausschuss eingesetzt werden musste. Seda Ardal stellte in LOTTA #79 (S. 13 ff.) den Ort des gemeinsamen Trauerns, der Wut und der Aktion vor, den die Initiative als „140 qm gegen das Vergessen“ charakterisiert.Die immer wiederkehrenden Kreisläufe aus Angriffen, rassistischen und politisch motivierten Ermittlungen oder gar Kriminalisierungen, ausbleibenden Urteilen und dem Verpuffen als ein Skandal unter vielen sind kräftezehrend und frustrierend. Doch stößt der gemeinsame Kampf auch neue Bündnisse an. Antifaschistische Gruppen und Recherchekollektive reflektieren ihre Rolle und Aufgabe der Beobachtung der Neonazi-Szene und begreifen vermehrt, dass ohne die Betrachtung aller Ebenen von Rassismus und anderen Ungleichheitsideologien ihr Kampf kein nachhaltiger ist. Langsam setzt sich die Einsicht durch, dass solidarisch kämpfen heißt, die unterschiedlichen Ebenen von Betroffenheit anzuerkennen und sich gegenseitig zu unterstützen, anstatt sich gegeneinander ausspielen zu lassen. Denn klar ist: Rechter Terror baut auf die ohnehin schon vorhandenen gesellschaftlichen Gräben auf, will neue schaffen und bestehende vertiefen. 2022-05-02T22:32:02+02:00 „Kein Weg vorbei“ | Interview mit „NSU-Watch“ https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/86/kein-weg-vorbei Der Imageslogan „An Hessen führt kein Weg vorbei“, den sich die landeseigene Werbeagentur ausdachte, beschreibt treffend die Rolle Hessens beim Thema rechter Terror, dachte sich das Netzwerk „NSU-Watch“ und benannte ihr neues Projekt in Anlehnung daran. Caro Keller, Redakteurin bei „NSU-Watch“, stellt die bei Redaktionsschluss der LOTTA noch im Aufbau befindliche Webseite vor und erklärt, warum sich Hessen als Beispiel eignet, um ein Umdenken bei diesem Thema zu erkämpfen.Hallo Caro! Vielen Dank, dass du uns  das Projekt „Kein Weg vorbei“ vorstellst. Kannst du uns erst einmal erzählen, was es damit auf sich hat?Klar, gerne. NSU-Watch ist ein antifaschistisches Netzwerk, das sich mit dem NSU-Komplex und rechtem Terror befasst. Und da schauen wir natürlich auch schon lange nach Hessen. Nach den Morden an Halit Yozgat und Mehmet Kubaşık hatten die Angehörigen der Ermordeten im Jahr 2006 eine große Demonstration in Kassel unter dem Motto „Kein 10. Opfer“ organisiert. Sie machten auf das mögliche rassistische Tatmotiv aufmerksam. Diese Demonstration ist erst nach 2011, also nach der Selbstenttarnung des NSU, breit bekannt geworden. Das war eine Leerstelle, auch in der antifaschistischen Betrachtung. Wir haben uns das sehr zu Herzen genommen und arbeiten aktiv daran, solche Leerstellen aufzuspüren.Wir überlegen, wie man rechten Terror beschreiben und analysieren kann, um ihn verhindern zu können. Da sind für uns die Kontinuitätslinien sehr zentral und dass man den Blick weiten muss, um rechten Terror aufzuklären. In Hessen gibt es sowohl eine lange rechtsterroristische Geschichte, als auch viele rechte und rechtsterroristische Morde und Angriffe in jüngster Vergangenheit. Deswegen fordern wir, dass man die letzten 30 oder 40 Jahre in den Blick nehmen muss, um die Taten einzuordnen und aufzuklären. Die Morde an Halit Yozgat und Walter Lübcke, die Morde in Hanau oder die Mordversuche in Wächtersbach und Kassel sind Beispiele dafür. Um nicht nur bei der Forderung zu bleiben, wollen wir das nun selbst einlösen. Deswegen haben wir uns zu diesem Projekt „Kein Weg vorbei“ entschieden, wo anhand von vier Kontinuitätslinien genau diese Geschichte aufgearbeitet werden soll. Dafür haben wir erneut mit Talya Feldmann zusammengearbeitet. Wir haben sie bei unserer Arbeit zum antisemitischen, rassistischen und misogynen Attentat in Halle kennengelernt. Sie ist Überlebende des Anschlags auf die Synagoge und arbeitet als Künstlerin und Aktivistin zum Thema rechter Terror. Gemeinsam haben wir bereits das Projekt „Global White Supremacist Terror: Halle“ veröffentlicht. Wir haben uns gemeinsam überlegt, dass wir als nächstes intensiver nach Hessen schauen wollen. Talya arbeitet, genauso wie wir, am Aufbau und der Erweiterung solidarischer Netzwerke von Betroffenen, Angehörigen und Überlebenden deutschlandweit und ist dementsprechend auch immer wieder in Hessen aktiv.Wie seid ihr dabei vorgegangen und wie wird das Ergebnis konkret aussehen?Wir sind nach Hessen gefahren, um uns mit den Menschen vor Ort zu unterhalten, haben die Gespräche je nach Wunsch als Video, Audio oder als Text festgehalten und unsere Eindrücke fotografisch dokumentiert. Wir haben mit Betroffenen und Überlebenden gesprochen, zum Beispiel mit Ahmed I. und Seda Başay-Yıldız. Ahmed wurde 2016 mutmaßlich — muss man leider sagen — von Stephan Ernst von hinten niedergestochen. Mutmaßlich deswegen, weil Ernst in erster Instanz vom Vorwurf, diese Tat begangen zu haben, freigesprochen wurde. Seda Başay-Yıldız ist Nebenklägerin im Prozess gegen Alexander Mensch, sie wurde vom sogenannten NSU 2.0 bedroht. Wir haben mit Aktivist*innen gesprochen, zum Beispiel mit Newroz Duman von der Initiative 19. Februar aus Hanau, und mit Antifas aus verschiedenen Städten. Sowie mit Journalist*innen. Wir haben mit ihnen gemeinsam diese Kontinuitätslinien aufgearbeitet. Das Ergebnis wird dann in einem Webprojekt als digitaler Essay zu sehen sein. Durch Interviews, Videos und Fotos kann man sich ein umfassendes Bild machen.Du hast von verschiedenen Kontinuitätslinien gesprochen. Welche sind das? Und warum sind sie so wichtig für das Verständnis von rechtem Terror?Wir schauen zum einen auf Neonazi-Aktivitäten — und hier speziell auf die Geschichte von Stephan Ernst und Markus H. Ihre Aktivitäten und Biographien stehen als eine Art personalisierte Kontinuität des rechten Terrors. Zum zweiten schauen wir auf die Behörden, wo es eine große Kontinuität von Nicht-Ermittlungen, Nicht-Aufklärung gibt. Zum dritten schauen wir auf die Kontinuitäten von Rassismus in der Gesellschaft. Und die vierte Linie stellt, als Gegengewicht dazu, die Kontinuität der Kämpfe um Anerkennung und Aufklärung dar. Hessen ist ein Beispiel für bundesdeutsche Zustände, anhand dessen man genau zeigen kann, wie rechter Terror funktioniert. Es gibt immer wieder rechte Mobilisierungen in der Gesellschaft, die dann eben auch möglichen rechten TerroristInnen den Rücken stärken, um ihre Taten zu begehen. Es gibt eine lange rechtsterroristische Tradition und die entsprechenden Netzwerke. Und dem gegenüber steht die Nichtaufarbeitung und Nichtaufklärung durch die Behörden sowie eine Ignoranz durch die Politik. Das führt in der Konsequenz immer wieder dazu, dass weitere Taten nicht verhindert, sondern ermöglicht werden. Was wir in Hessen feststellen, gilt für viele Gegenden Deutschlands. Wir wollen auch dazu ermutigen, diese Geschichten weiter aufzuarbeiten. Wir haben in den letzten zehn Jahren Aufklärung des NSU-Komplexes viel im Themenbereich rechter Terror gelernt und sind in der Auseinandersetzung ein gutes Stück weiter gekommen. Es sind eben nicht nur eine Reihe von Neonazis, die betrachtet werden müssen. Die Gesellschaft gehört ebenso in den Blick wie die Behörden. Wir wollen aber auch zeigen, dass wir diesen Kontinuitätslinien nicht ohnmächtig ausgesetzt sind, sondern ihnen etwas entgegensetzen können. Woran liegt es, dass diese Kontinuitäten bei staatlichen Versuchen von Aufklärung so außen vor bleiben?Wenn es um rechten Terror geht, gibt es gesellschaftlich immer noch die Narrative vom Einzeltäter und Einzeltaten. Also im Grunde einzelne Menschen, die einzelne Taten begehen, die angeblich nichts miteinander zu tun haben. Dem muss man widersprechen. Man muss zeigen, dass es eine Kontinuität rechten Terrors gibt. Die Taten ähneln sich, die Ideologie ähnelt sich, man nimmt aufeinander Bezug. Nur wenn man diese Kontinuitäten analysiert und versteht, schafft man die Grundlage, rechten Terror zu verhindern, indem man die Aufarbeitung leistet, Netzwerke zerschlägt und eben endlich die Lehren aus der Vergangenheit zieht. Man ist aber nicht bereit, den Blick zu öffnen und die Verantwortung zu übernehmen. Es wäre sowohl juristisch als auch parlamentarisch möglich und notwendig. Natürlich geht es bei einem Gerichtsprozess darum, die Schuld der jeweiligen Angeklagten festzustellen. Die Frage ist aber oft, wie es zur Auswahl der Angeklagten kommt und welche Thesen der Ermittler*innen, Staatsanwält*innen und Richter*innen dahinter stehen. Insbesondere bei der Aufdeckung rechter Netzwerke gehört mehr dazu als nur die einzelnen Täter­Innen auf der Anklagebank. Im par­lamentarischen Raum gilt das natürlich umso mehr. Die Abgeordneten haben wirklich alle Möglichkeiten in der Hand, um aufzuklären. Die Untersuchungsausschüsse in Thüringen, im Bundestag und in Sachsen haben gezeigt, wie viel Aufklärung auf parlamentarischem Weg möglich ist. Man muss es nur tun. Man muss bereit sein, diese Arbeit zu leisten und diese Verantwortung zu übernehmen. Es gibt viele Gründe, diese Verantwortung abzulehnen. Sie zu übernehmen, würde ein anderes Bild dieser Gesellschaft bedeuten. Es würde auch ein anderes Bild von Behörden bedeuten, wenn man wirklich einmal feststellt: Es gibt eine Nichtaufklärung, es gibt institutionellen Rassismus. Es gibt eine Verantwortung im Bereich rechter Terror, dass man Taten — Beispiel „Verfassungsschutz“ — mit ermöglicht hat. Und das würde eben auch bedeuten, dass die Behörden umgebaut und im besten Fall abgeschafft werden müssen. Im Fall des „Verfassungsschutzes“ hätte das einfach sehr, sehr große Auswirkungen, wenn man dieser Verantwortung gerecht werden würde. Und vielleicht ist man dazu nicht bereit, oder man findet es nicht wichtig genug. Was es braucht, ist gesellschaftlicher Druck, um noch einmal auf die Wichtigkeit der aktivistischen Kontinuitätslinie einzugehen. Es braucht gesellschaftlichen Druck, weil nur dadurch die Aufklärungsbereitschaft steigt. Das ist das, was wir in den letzten Jahren beobachten konnten. Hier zeigt sich, dass man dem nicht ohnmächtig ausgesetzt ist, sondern dass man etwas bewirken kann, indem man diese Gremien dazu zwingt, aufzuklären und Verantwortung zu übernehmen.Warum ist es dabei so wichtig, das Wissen von Betroffenen in den Fokus zu nehmen?Wir müssen das Sprechen über rechten Terror ändern, dann kann man hoffentlich auch an rechtem Terror an sich etwas ändern. Dafür müssen die Perspektiven der Betroffenen, Angehörigen, Überlebenden in den Fokus rücken. İbrahim Arslan, Aktivist und Überlebender des rassistischen Brandanschlags von Mölln 1992, sagt immer wieder: „Die Betroffenen sind die Hauptzeugen des Geschehenen. Sie sind keine Statisten.“ Sie wissen am besten, was passiert ist. Und das zeigt ja auch genau die Demonstration der Angehörigen der vom NSU Ermordeten 2006 in Kassel. Sie wussten schon Jahre bevor der NSU sich selbst enttarnt hat und die Mehrheitsgesellschaft und auch Antifaschist*innen endlich hinschauten, dass es sich wahrscheinlich um rechte Morde handelt. Weil ihnen eben klar ist, wer ihnen feindlich gegenüber steht in Deutschland, nämlich Neonazis und RassistInnen. Wenn man damals auf die Angehörigen gehört hätte, hätte man gemeinsam mit ihnen um Aufklärung kämpfen können. Und es hätte hoffentlich einen Unterschied gemacht. Es geht dabei auch um ein Lernen aus dem NSU-Komplex, dass diesem Wissen Glauben geschenkt muss und die Perspektiven in den Vordergrund rücken. Und es geht auch darum, Empathie für die Betroffenen rechter Gewalt zu schaffen in der Gesellschaft, nicht immer nur Sympathie und Identifikation mit den Tätern und Täterinnen, die entsteht, wenn man immer nur ihre Bilder sieht und ihre Namen hört. Die Mehrheitsgesellschaft weiß mehr über die Angeklagten im NSU-Prozess als über die Ermordeten und ihre Angehörigen. Das muss sich ändern. Es muss Solidarität entstehen, die man rechtem Terror entgegensetzen kann. Das klingt idealistisch oder vielleicht auch naiv. Aber genau das wird hoffentlich der Weg sein: solidarische Netzwerke zu knüpfen gemeinsam mit Angehörigen, Überlebenden und Betroffenen, die dann dem rechten Grundkonsens in der Gesellschaft entgegen stehen, um damit rechtem Terror die Grundlage zu entziehen. Schwerpunkt 7733 Mon, 02 May 2022 22:32:02 +0200 LOTTA „Kein Weg vorbei“ Sonja Brasch Der Imageslogan „An Hessen führt kein Weg vorbei“, den sich die landeseigene Werbeagentur ausdachte, beschreibt treffend die Rolle Hessens beim Thema rechter Terror, dachte sich das Netzwerk „NSU-Watch“ und benannte ihr neues Projekt in Anlehnung daran. Caro Keller, Redakteurin bei „NSU-Watch“, stellt die bei Redaktionsschluss der LOTTA noch im Aufbau befindliche Webseite vor und erklärt, warum sich Hessen als Beispiel eignet, um ein Umdenken bei diesem Thema zu erkämpfen.Hallo Caro! Vielen Dank, dass du uns  das Projekt „Kein Weg vorbei“ vorstellst. Kannst du uns erst einmal erzählen, was es damit auf sich hat?Klar, gerne. NSU-Watch ist ein antifaschistisches Netzwerk, das sich mit dem NSU-Komplex und rechtem Terror befasst. Und da schauen wir natürlich auch schon lange nach Hessen. Nach den Morden an Halit Yozgat und Mehmet Kubaşık hatten die Angehörigen der Ermordeten im Jahr 2006 eine große Demonstration in Kassel unter dem Motto „Kein 10. Opfer“ organisiert. Sie machten auf das mögliche rassistische Tatmotiv aufmerksam. Diese Demonstration ist erst nach 2011, also nach der Selbstenttarnung des NSU, breit bekannt geworden. Das war eine Leerstelle, auch in der antifaschistischen Betrachtung. Wir haben uns das sehr zu Herzen genommen und arbeiten aktiv daran, solche Leerstellen aufzuspüren.Wir überlegen, wie man rechten Terror beschreiben und analysieren kann, um ihn verhindern zu können. Da sind für uns die Kontinuitätslinien sehr zentral und dass man den Blick weiten muss, um rechten Terror aufzuklären. In Hessen gibt es sowohl eine lange rechtsterroristische Geschichte, als auch viele rechte und rechtsterroristische Morde und Angriffe in jüngster Vergangenheit. Deswegen fordern wir, dass man die letzten 30 oder 40 Jahre in den Blick nehmen muss, um die Taten einzuordnen und aufzuklären. Die Morde an Halit Yozgat und Walter Lübcke, die Morde in Hanau oder die Mordversuche in Wächtersbach und Kassel sind Beispiele dafür. Um nicht nur bei der Forderung zu bleiben, wollen wir das nun selbst einlösen. Deswegen haben wir uns zu diesem Projekt „Kein Weg vorbei“ entschieden, wo anhand von vier Kontinuitätslinien genau diese Geschichte aufgearbeitet werden soll. Dafür haben wir erneut mit Talya Feldmann zusammengearbeitet. Wir haben sie bei unserer Arbeit zum antisemitischen, rassistischen und misogynen Attentat in Halle kennengelernt. Sie ist Überlebende des Anschlags auf die Synagoge und arbeitet als Künstlerin und Aktivistin zum Thema rechter Terror. Gemeinsam haben wir bereits das Projekt „Global White Supremacist Terror: Halle“ veröffentlicht. Wir haben uns gemeinsam überlegt, dass wir als nächstes intensiver nach Hessen schauen wollen. Talya arbeitet, genauso wie wir, am Aufbau und der Erweiterung solidarischer Netzwerke von Betroffenen, Angehörigen und Überlebenden deutschlandweit und ist dementsprechend auch immer wieder in Hessen aktiv.Wie seid ihr dabei vorgegangen und wie wird das Ergebnis konkret aussehen?Wir sind nach Hessen gefahren, um uns mit den Menschen vor Ort zu unterhalten, haben die Gespräche je nach Wunsch als Video, Audio oder als Text festgehalten und unsere Eindrücke fotografisch dokumentiert. Wir haben mit Betroffenen und Überlebenden gesprochen, zum Beispiel mit Ahmed I. und Seda Başay-Yıldız. Ahmed wurde 2016 mutmaßlich — muss man leider sagen — von Stephan Ernst von hinten niedergestochen. Mutmaßlich deswegen, weil Ernst in erster Instanz vom Vorwurf, diese Tat begangen zu haben, freigesprochen wurde. Seda Başay-Yıldız ist Nebenklägerin im Prozess gegen Alexander Mensch, sie wurde vom sogenannten NSU 2.0 bedroht. Wir haben mit Aktivist*innen gesprochen, zum Beispiel mit Newroz Duman von der Initiative 19. Februar aus Hanau, und mit Antifas aus verschiedenen Städten. Sowie mit Journalist*innen. Wir haben mit ihnen gemeinsam diese Kontinuitätslinien aufgearbeitet. Das Ergebnis wird dann in einem Webprojekt als digitaler Essay zu sehen sein. Durch Interviews, Videos und Fotos kann man sich ein umfassendes Bild machen.Du hast von verschiedenen Kontinuitätslinien gesprochen. Welche sind das? Und warum sind sie so wichtig für das Verständnis von rechtem Terror?Wir schauen zum einen auf Neonazi-Aktivitäten — und hier speziell auf die Geschichte von Stephan Ernst und Markus H. Ihre Aktivitäten und Biographien stehen als eine Art personalisierte Kontinuität des rechten Terrors. Zum zweiten schauen wir auf die Behörden, wo es eine große Kontinuität von Nicht-Ermittlungen, Nicht-Aufklärung gibt. Zum dritten schauen wir auf die Kontinuitäten von Rassismus in der Gesellschaft. Und die vierte Linie stellt, als Gegengewicht dazu, die Kontinuität der Kämpfe um Anerkennung und Aufklärung dar. Hessen ist ein Beispiel für bundesdeutsche Zustände, anhand dessen man genau zeigen kann, wie rechter Terror funktioniert. Es gibt immer wieder rechte Mobilisierungen in der Gesellschaft, die dann eben auch möglichen rechten TerroristInnen den Rücken stärken, um ihre Taten zu begehen. Es gibt eine lange rechtsterroristische Tradition und die entsprechenden Netzwerke. Und dem gegenüber steht die Nichtaufarbeitung und Nichtaufklärung durch die Behörden sowie eine Ignoranz durch die Politik. Das führt in der Konsequenz immer wieder dazu, dass weitere Taten nicht verhindert, sondern ermöglicht werden. Was wir in Hessen feststellen, gilt für viele Gegenden Deutschlands. Wir wollen auch dazu ermutigen, diese Geschichten weiter aufzuarbeiten. Wir haben in den letzten zehn Jahren Aufklärung des NSU-Komplexes viel im Themenbereich rechter Terror gelernt und sind in der Auseinandersetzung ein gutes Stück weiter gekommen. Es sind eben nicht nur eine Reihe von Neonazis, die betrachtet werden müssen. Die Gesellschaft gehört ebenso in den Blick wie die Behörden. Wir wollen aber auch zeigen, dass wir diesen Kontinuitätslinien nicht ohnmächtig ausgesetzt sind, sondern ihnen etwas entgegensetzen können. Woran liegt es, dass diese Kontinuitäten bei staatlichen Versuchen von Aufklärung so außen vor bleiben?Wenn es um rechten Terror geht, gibt es gesellschaftlich immer noch die Narrative vom Einzeltäter und Einzeltaten. Also im Grunde einzelne Menschen, die einzelne Taten begehen, die angeblich nichts miteinander zu tun haben. Dem muss man widersprechen. Man muss zeigen, dass es eine Kontinuität rechten Terrors gibt. Die Taten ähneln sich, die Ideologie ähnelt sich, man nimmt aufeinander Bezug. Nur wenn man diese Kontinuitäten analysiert und versteht, schafft man die Grundlage, rechten Terror zu verhindern, indem man die Aufarbeitung leistet, Netzwerke zerschlägt und eben endlich die Lehren aus der Vergangenheit zieht. Man ist aber nicht bereit, den Blick zu öffnen und die Verantwortung zu übernehmen. Es wäre sowohl juristisch als auch parlamentarisch möglich und notwendig. Natürlich geht es bei einem Gerichtsprozess darum, die Schuld der jeweiligen Angeklagten festzustellen. Die Frage ist aber oft, wie es zur Auswahl der Angeklagten kommt und welche Thesen der Ermittler*innen, Staatsanwält*innen und Richter*innen dahinter stehen. Insbesondere bei der Aufdeckung rechter Netzwerke gehört mehr dazu als nur die einzelnen Täter­Innen auf der Anklagebank. Im par­lamentarischen Raum gilt das natürlich umso mehr. Die Abgeordneten haben wirklich alle Möglichkeiten in der Hand, um aufzuklären. Die Untersuchungsausschüsse in Thüringen, im Bundestag und in Sachsen haben gezeigt, wie viel Aufklärung auf parlamentarischem Weg möglich ist. Man muss es nur tun. Man muss bereit sein, diese Arbeit zu leisten und diese Verantwortung zu übernehmen. Es gibt viele Gründe, diese Verantwortung abzulehnen. Sie zu übernehmen, würde ein anderes Bild dieser Gesellschaft bedeuten. Es würde auch ein anderes Bild von Behörden bedeuten, wenn man wirklich einmal feststellt: Es gibt eine Nichtaufklärung, es gibt institutionellen Rassismus. Es gibt eine Verantwortung im Bereich rechter Terror, dass man Taten — Beispiel „Verfassungsschutz“ — mit ermöglicht hat. Und das würde eben auch bedeuten, dass die Behörden umgebaut und im besten Fall abgeschafft werden müssen. Im Fall des „Verfassungsschutzes“ hätte das einfach sehr, sehr große Auswirkungen, wenn man dieser Verantwortung gerecht werden würde. Und vielleicht ist man dazu nicht bereit, oder man findet es nicht wichtig genug. Was es braucht, ist gesellschaftlicher Druck, um noch einmal auf die Wichtigkeit der aktivistischen Kontinuitätslinie einzugehen. Es braucht gesellschaftlichen Druck, weil nur dadurch die Aufklärungsbereitschaft steigt. Das ist das, was wir in den letzten Jahren beobachten konnten. Hier zeigt sich, dass man dem nicht ohnmächtig ausgesetzt ist, sondern dass man etwas bewirken kann, indem man diese Gremien dazu zwingt, aufzuklären und Verantwortung zu übernehmen.Warum ist es dabei so wichtig, das Wissen von Betroffenen in den Fokus zu nehmen?Wir müssen das Sprechen über rechten Terror ändern, dann kann man hoffentlich auch an rechtem Terror an sich etwas ändern. Dafür müssen die Perspektiven der Betroffenen, Angehörigen, Überlebenden in den Fokus rücken. İbrahim Arslan, Aktivist und Überlebender des rassistischen Brandanschlags von Mölln 1992, sagt immer wieder: „Die Betroffenen sind die Hauptzeugen des Geschehenen. Sie sind keine Statisten.“ Sie wissen am besten, was passiert ist. Und das zeigt ja auch genau die Demonstration der Angehörigen der vom NSU Ermordeten 2006 in Kassel. Sie wussten schon Jahre bevor der NSU sich selbst enttarnt hat und die Mehrheitsgesellschaft und auch Antifaschist*innen endlich hinschauten, dass es sich wahrscheinlich um rechte Morde handelt. Weil ihnen eben klar ist, wer ihnen feindlich gegenüber steht in Deutschland, nämlich Neonazis und RassistInnen. Wenn man damals auf die Angehörigen gehört hätte, hätte man gemeinsam mit ihnen um Aufklärung kämpfen können. Und es hätte hoffentlich einen Unterschied gemacht. Es geht dabei auch um ein Lernen aus dem NSU-Komplex, dass diesem Wissen Glauben geschenkt muss und die Perspektiven in den Vordergrund rücken. Und es geht auch darum, Empathie für die Betroffenen rechter Gewalt zu schaffen in der Gesellschaft, nicht immer nur Sympathie und Identifikation mit den Tätern und Täterinnen, die entsteht, wenn man immer nur ihre Bilder sieht und ihre Namen hört. Die Mehrheitsgesellschaft weiß mehr über die Angeklagten im NSU-Prozess als über die Ermordeten und ihre Angehörigen. Das muss sich ändern. Es muss Solidarität entstehen, die man rechtem Terror entgegensetzen kann. Das klingt idealistisch oder vielleicht auch naiv. Aber genau das wird hoffentlich der Weg sein: solidarische Netzwerke zu knüpfen gemeinsam mit Angehörigen, Überlebenden und Betroffenen, die dann dem rechten Grundkonsens in der Gesellschaft entgegen stehen, um damit rechtem Terror die Grundlage zu entziehen. 2022-05-02T22:32:02+02:00 In Sachen „NSU 2.0“ | Der Verfasser der „NSU 2.0“-Drohschreiben soll zum Einzeltäter erklärt werden https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/86/sachen-nsu-20 Am 16. Februar 2022 begann vor dem Landgericht in Frankfurt am Main der Prozess gegen den 54-jährigen Alexander Mensch. Ihm wird vorgeworfen, von 2018 bis 2021 über 100 Drohschreiben eines „NSU 2.0“ verschickt zu haben. Diese enthielten teilweise Informationen, die zuvor von Polizeicomputern abgerufen worden waren. Doch das soll nach dem Willen der Staatsanwaltschaft kein Thema im Prozess sein.Die bekannte Geschichte des NSU 2.0 beginnt am 2. August 2018 gegen 14:00 Uhr. Von einem Computer im 1. Frankfurter Polizeirevier werden über das Log-in der Polizistin Miriam D. Informationen über die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız abgerufen. Wenig später, um 15:41 Uhr, erreicht ein Fax die Kanzlei von Başay-Yıldız. Darin droht ein „NSU 2.0“ ihr und ihrer kleinen Tochter mit dem Tod. Das Schreiben ist voll rassistischer Fäkalsprache, die Verfasser*innen nennen die Meldeadresse von Başay-Yıldız und den Namen ihrer Tochter. Es sind Informationen, die nicht aus frei zugänglichen Quellen beschafft werden konnten. Am selben Tag wird kurz nach 23:00 Uhr auf der linken Plattform indymedia ein Text lanciert, in dem Başay-Yıldız erneut rassistisch beleidigt und wieder ihre Meldeadresse genannt wird. Der Text wird nach kurzer Zeit gelöscht.Die Ermittlungen führen zu Miriam D. Die zeitliche Nähe zwischen der Datenabfrage und dem Drohschreiben ist signifikant, es wurde zudem in drei verschiedenen Datenbanken über mehrere Minuten hinweg nach Informationen zu Başay-Yıldız und ihrer Familie gesucht, ohne dass es eine dienstliche Veranlassung dafür gab. Doch Miriam D. will sich an nichts erinnern, sie vermag die Abfrage weder zu bestätigen noch auszuschließen. Die Ermittler*innen stoßen nach einer Wohnungsdurchsuchung bei der Polizistin auf eine Chatgruppe namens „Itiotentreff“, in der sich neben Miriam D. drei weitere Beamte ihrer Dienstgruppe, zwei ehemalige Kollegen des 1. Reviers und die Partnerin eines der Polizisten rassistische und nazistische Bilder und Kommentare hin- und herschicken. Daraufhin finden weitere Durchsuchungen bei den beteiligten Beamten statt. In den Fokus gerät nun das „Itiotentreff“-Mitglied Johannes S. Schnell wird klar: Er ist ein Neonazi in Polizeiuniform. Er tat am Nachmittag des 2. August auf dem 1. Revier Dienst und hatte die Möglichkeit, die Daten abzurufen und das Drohfax zu versenden. Und er hatte versucht, sich hierfür ein falsches Alibi zu verschaffen. In einer Kommunikation von ihm findet sich außerdem eine wortgleiche und zudem ungewöhnliche Formulierung, wie sie auch im Drohschreiben an Başay-Yıldız auftaucht. In der Folge wird gegen ihn und Miriam D. wegen des Datenabrufs und der Drohung ermittelt.Die ErmittlungenMitte Dezember wird das Drohschreiben des NSU 2.0 öffentlich. Vom 19. Dezember 2018 bis zum 21. März 2021 werden unter diesem Namen 115 weitere Drohschreiben als E-Mail oder SMS verschickt, manchmal sind es mehrere an einem Tag, manchmal liegen einige Wochen Pause dazwischen. Immer wieder wird auch Seda Başay-Yıldız bedroht. Sie ist umgezogen, doch die Verfasser*innen nennen in einem Drohschreiben Anfang 2020 ihre aktuelle Adresse, obgleich diese mit einem besonderen Sperrvermerk versehen ist.Da sich die Drohungen technisch nicht zurückverfolgen lassen, kommen die Ermittlungen zunächst nicht voran. Den Durchbruch bringt eine linguistische Textanalyse. Eine Gutachterin des BKA stellt im Herbst 2020 fest, dass einzelne Drohschreiben mit hoher Wahrscheinlichkeit von derselben Person verfasst wurden wie Kommentare auf dem rechten Blog PI-News. Zwar hat der Verfasser dieser Kommentare seine IP-Adresse durch die Nutzung eines Tor-Browsers anonymisiert, doch wird mit einer einfachen Internetrecherche festgestellt, dass die Person offensichtlich identisch ist mit einem Spieler in einem Online-Schachportal. Beide schreiben unter den Namen „Sudel-Ede“ und „Obersimulant“, beide beziehen sich auf die Figur „Beaker“ aus der „Muppet-Show“. Die Daten, die der Spieler im Schachportal hinterlegt hat, führen zu Alexander Mensch. Die Überwachung seiner Internetaktivitäten zeigt, dass sich Schachspiele, PI-News-Kommentare und Drohschreiben niemals überlagern, in mehreren Fällen werden Drohschreiben exakt im Zeitraum der Schachpausen verschickt.Am 3. Mai 2021 stürmt eine Polizeisondereinheit die Wohnung von Alexander Mensch in Berlin. Er kommt nicht mehr dazu, seinen Computer auszuschalten. Darauf finden sich nach genauer Untersuchung Fragmente von Drohschreiben des NSU 2.0. Alexander Mensch lebt in einer kleinen Wohnung im Stadtteil Wedding, er hat keinen Job und ist sozial isoliert. Sein Leben spielt sich zwischen seinem Computer und einem durchgelegenen Schlafsofa ab. Seit 1992 hat er etliche polizeiliche Einträge und Verurteilungen, unter anderem wegen Betrugs, Urkundenfälschung, Amtsanmaßung und immer wieder Beleidigung und Körperverletzung. Er gilt als „querulantische Persönlichkeit“, die zu „affektlabilen Reaktionen“ neige. Mehrfach wurde er angezeigt, weil er in und vor Supermärkten Frauen sexistisch und rassistisch beleidigte und tätlich angriff. Er ist Neonazi, Soziopath und Frauenhasser, überheblich und selbstmitleidig. In seiner lebensweltlichen Tristesse schuf er sich einen virtuellen Raum, in dem er sich als „Herrenmensch“ fantasierte. Seine Aggressionen waren in großer Mehrheit gegen Frauen gerichtet. Die Drohschreiben schickte er in Kopie an Medien und Behörden, um ein möglichst großes Echo zu erzeugen.Die InformationsbeschaffungIm Zuge der Ermittlungen wurden im zeitlichen Zusammenhang mit den Drohungen des NSU 2.0 auch polizeiliche Datenabrufe in Wiesbaden, Hamburg und Berlin ermittelt. In keinem Fall konnten hierfür dienstliche Gründe festgestellt werden. Doch wie kamen die aus den Polizeicomputern abgerufenen Informationen zu Alexander Mensch? Die Staatsanwaltschaft stellt die These auf, dass er auf Revieren anrief, sich als Behördenmitarbeiter ausgab und entsprechende Auskünfte erhielt. Notizen, die man bei ihm fand, lassen darauf schließen, dass er derartige Anrufe tatsächlich tätigte; auch standen in einem Regal Bücher mit Titeln wie „Die Kunst der Täuschung“ und „Verbotene Rhetorik: Die Kunst der skrupellosen Rhetorik“. So ist durchaus vorstellbar, dass er durch fingierte Anrufe und rhetorische Tricks im Einzelfall an vertrauliche Informationen gelangte. Doch die Vielzahl der Fälle, in denen er derartige Daten erhielt, lässt die These der Staatsanwaltschaft wenig plausibel erscheinen. Dies bestätigte schon die Hauptverhandlung. Die stellvertretende Chefredakteurin der taz sagte als Zeugin aus, dass ein Mann — mutmaßlich Alexander Mensch — sich am Telefon als Polizist ausgegeben und die Mobilfunknummer der taz-Autor*in Hengameh Yaghoobifarah erfragt habe. Sie sei jedoch misstrauisch gewesen und habe die Nummer nicht herausgegeben — woraufhin der falsche Polizist aus seiner Rolle fiel und Drohungen ausstieß.Dennoch wird die Behauptung, Alexander Mensch sei durch fingierte Anrufe auf den Revieren an Informationen aus polizeilichen Datenbanken gekommen, vom hessischen Innenminister Peter Beuth für bare Münze genommen. Um den Verdacht auszuräumen, Polizeibedienstete hätten mit Neonazis in Verbindung gestanden, stellt er diese lieber als Tölpel dar, die leichtfertig Informationen herausgeben. Wahrscheinlicher als diese Erzählung ist es, dass in abgeschirmten Foren rechte Polizist*innen mit Neonazis vernetzt sind und diesen Informationen liefern. Diese Spekulation wird auch von Alexander Mensch genährt. Am 17. Februar, dem zweiten Prozesstag, erklärte er, Mitglied in einem derartigen Forum gewesen zu sein, sich dort jedoch passiv verhalten zu haben. Überprüfen lässt sich das nicht.Keinen vernünftigen Zweifel gibt es jedoch daran, dass der Datenabruf zu Başay-Yıldız am 2. August 2018 durch einen oder mehrere Polizeibeamt*innen erfolgte, um diese so erlangten Daten zu Drohzwecken zu gebrauchen. Der Datenabruf war so komplex, langwierig und untypisch, dass kein Beamter und keine Beamtin diesen auf telefonischen Zuruf eines Unbekannten vorgenommen hätte.Die Wirkung der DrohungenAuch die Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke Martina Renner war von den Drohungen des NSU 2.0 betroffen und tritt im Prozess als Nebenklägerin auf. Im Gespräch konstatiert sie, dass gerade Bedrohungen, die persönliche Daten der bedrohten Person enthalten, für diese nicht abstrakt sind, sondern reale Auswirkungen haben. Diese Schreiben seien nicht mehr die „üblichen“ rassistischen und nazistischen Drohungen, sondern die TäterInnen machten mit der Verwendung persönlicher Informationen deutlich, dass sie die Drohung auch in die Tat umsetzen können. Hinzu komme, dass die Verwendung von Daten aus polizeilichen Systemen das Gefühl vermittelt, dass es von der Polizei keinen Schutz gebe. Sich von diesem Gefühl freizumachen, sei sehr schwierig, vor allem, wenn man wisse, dass es rechte Netzwerke in den Sicherheitsbehörden gibt. Renner verweist auch auf die Bedeutung von Foren wie PI-News. Diese funktionieren als Plattformen, auf der Menschen rassistisch und/oder als politische Gegner*innen markiert und direkt zu Zielscheiben gemacht werden. So war es auch beim NSU 2.0. Ein Bericht über Başay-Yıldız wurde auf PI-News bis zum 2. August 2018 über 150 Mal kommentiert — dann folgte das erste Drohschreiben.Bei Başay-Yıldız wird deutlich, welche Wucht solche Drohungen entfalten können. Die Verfasser*innen kannten ihre Privatadresse, wussten über ihre Familie Bescheid und kündigten an, ihre Tochter zu töten. Zudem gingen diese Informationen an eine Vielzahl von Personen, unter anderem an einen rechten Anwalt, und wurden im Internet veröffentlicht. Başay-Yıldız erzählt, wie sehr sie bei den Behörden kämpfen musste, um ernst genommen, über die polizeilichen Datenabrufe informiert zu werden und Unterstützung zur Sicherung ihrer Wohnung zu erhalten. Für sie ist die Gefahr sehr konkret. Sie sorgt dafür, dass ihre Tochter niemals unbeaufsichtigt ist, und ist sofort alarmiert, wenn Leute vor ihrem Haus stehen.Der ProzessAlexander Mensch scheint nicht zu realisieren, dass die Beweislage gegen ihn wegen der NSU 2.0-Drohschreiben dicht ist. Am zweiten Verhandlungstag verlas er eine zehnseitige „Erklärung zur Anklageschrift“, in der er die Vorwürfe bestritt. Allerdings hatte er seine Erklärung nicht mit den Ermittlungsergebnissen abgeglichen, weshalb diese unplausibel und sofort zu widerlegen war. Die Schwierigkeit im Verfahren wird sein, den Funken Wahrheit aus seinen Erklärungen zu isolieren und zu verstehen, mit wem und wie Alexander Mensch vernetzt war.Der Prozess ist bis Ende April 2022 angesetzt, doch er könnte sich erheblich in die Länge ziehen. Wenn schließlich das Urteil gegen Alexander Mensch gesprochen ist, wird der Komplex „NSU 2.0“ aber nicht aufgeklärt sein. Dazu müssten die Wege ermittelt sein, über die Informationen von der Polizei zu Neonazis flossen. Denn offensichtlich hat der NSU 2.0 seinen Ursprung bei Frankfurter Polizist*innen, von denen auch sehr wahrscheinlich der Name erdacht wurde. Schwerpunkt 7734 Mon, 02 May 2022 22:32:02 +0200 LOTTA In Sachen „NSU 2.0“ Sebastian Hell, Simon Tolvaj Am 16. Februar 2022 begann vor dem Landgericht in Frankfurt am Main der Prozess gegen den 54-jährigen Alexander Mensch. Ihm wird vorgeworfen, von 2018 bis 2021 über 100 Drohschreiben eines „NSU 2.0“ verschickt zu haben. Diese enthielten teilweise Informationen, die zuvor von Polizeicomputern abgerufen worden waren. Doch das soll nach dem Willen der Staatsanwaltschaft kein Thema im Prozess sein.Die bekannte Geschichte des NSU 2.0 beginnt am 2. August 2018 gegen 14:00 Uhr. Von einem Computer im 1. Frankfurter Polizeirevier werden über das Log-in der Polizistin Miriam D. Informationen über die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız abgerufen. Wenig später, um 15:41 Uhr, erreicht ein Fax die Kanzlei von Başay-Yıldız. Darin droht ein „NSU 2.0“ ihr und ihrer kleinen Tochter mit dem Tod. Das Schreiben ist voll rassistischer Fäkalsprache, die Verfasser*innen nennen die Meldeadresse von Başay-Yıldız und den Namen ihrer Tochter. Es sind Informationen, die nicht aus frei zugänglichen Quellen beschafft werden konnten. Am selben Tag wird kurz nach 23:00 Uhr auf der linken Plattform indymedia ein Text lanciert, in dem Başay-Yıldız erneut rassistisch beleidigt und wieder ihre Meldeadresse genannt wird. Der Text wird nach kurzer Zeit gelöscht.Die Ermittlungen führen zu Miriam D. Die zeitliche Nähe zwischen der Datenabfrage und dem Drohschreiben ist signifikant, es wurde zudem in drei verschiedenen Datenbanken über mehrere Minuten hinweg nach Informationen zu Başay-Yıldız und ihrer Familie gesucht, ohne dass es eine dienstliche Veranlassung dafür gab. Doch Miriam D. will sich an nichts erinnern, sie vermag die Abfrage weder zu bestätigen noch auszuschließen. Die Ermittler*innen stoßen nach einer Wohnungsdurchsuchung bei der Polizistin auf eine Chatgruppe namens „Itiotentreff“, in der sich neben Miriam D. drei weitere Beamte ihrer Dienstgruppe, zwei ehemalige Kollegen des 1. Reviers und die Partnerin eines der Polizisten rassistische und nazistische Bilder und Kommentare hin- und herschicken. Daraufhin finden weitere Durchsuchungen bei den beteiligten Beamten statt. In den Fokus gerät nun das „Itiotentreff“-Mitglied Johannes S. Schnell wird klar: Er ist ein Neonazi in Polizeiuniform. Er tat am Nachmittag des 2. August auf dem 1. Revier Dienst und hatte die Möglichkeit, die Daten abzurufen und das Drohfax zu versenden. Und er hatte versucht, sich hierfür ein falsches Alibi zu verschaffen. In einer Kommunikation von ihm findet sich außerdem eine wortgleiche und zudem ungewöhnliche Formulierung, wie sie auch im Drohschreiben an Başay-Yıldız auftaucht. In der Folge wird gegen ihn und Miriam D. wegen des Datenabrufs und der Drohung ermittelt.Die ErmittlungenMitte Dezember wird das Drohschreiben des NSU 2.0 öffentlich. Vom 19. Dezember 2018 bis zum 21. März 2021 werden unter diesem Namen 115 weitere Drohschreiben als E-Mail oder SMS verschickt, manchmal sind es mehrere an einem Tag, manchmal liegen einige Wochen Pause dazwischen. Immer wieder wird auch Seda Başay-Yıldız bedroht. Sie ist umgezogen, doch die Verfasser*innen nennen in einem Drohschreiben Anfang 2020 ihre aktuelle Adresse, obgleich diese mit einem besonderen Sperrvermerk versehen ist.Da sich die Drohungen technisch nicht zurückverfolgen lassen, kommen die Ermittlungen zunächst nicht voran. Den Durchbruch bringt eine linguistische Textanalyse. Eine Gutachterin des BKA stellt im Herbst 2020 fest, dass einzelne Drohschreiben mit hoher Wahrscheinlichkeit von derselben Person verfasst wurden wie Kommentare auf dem rechten Blog PI-News. Zwar hat der Verfasser dieser Kommentare seine IP-Adresse durch die Nutzung eines Tor-Browsers anonymisiert, doch wird mit einer einfachen Internetrecherche festgestellt, dass die Person offensichtlich identisch ist mit einem Spieler in einem Online-Schachportal. Beide schreiben unter den Namen „Sudel-Ede“ und „Obersimulant“, beide beziehen sich auf die Figur „Beaker“ aus der „Muppet-Show“. Die Daten, die der Spieler im Schachportal hinterlegt hat, führen zu Alexander Mensch. Die Überwachung seiner Internetaktivitäten zeigt, dass sich Schachspiele, PI-News-Kommentare und Drohschreiben niemals überlagern, in mehreren Fällen werden Drohschreiben exakt im Zeitraum der Schachpausen verschickt.Am 3. Mai 2021 stürmt eine Polizeisondereinheit die Wohnung von Alexander Mensch in Berlin. Er kommt nicht mehr dazu, seinen Computer auszuschalten. Darauf finden sich nach genauer Untersuchung Fragmente von Drohschreiben des NSU 2.0. Alexander Mensch lebt in einer kleinen Wohnung im Stadtteil Wedding, er hat keinen Job und ist sozial isoliert. Sein Leben spielt sich zwischen seinem Computer und einem durchgelegenen Schlafsofa ab. Seit 1992 hat er etliche polizeiliche Einträge und Verurteilungen, unter anderem wegen Betrugs, Urkundenfälschung, Amtsanmaßung und immer wieder Beleidigung und Körperverletzung. Er gilt als „querulantische Persönlichkeit“, die zu „affektlabilen Reaktionen“ neige. Mehrfach wurde er angezeigt, weil er in und vor Supermärkten Frauen sexistisch und rassistisch beleidigte und tätlich angriff. Er ist Neonazi, Soziopath und Frauenhasser, überheblich und selbstmitleidig. In seiner lebensweltlichen Tristesse schuf er sich einen virtuellen Raum, in dem er sich als „Herrenmensch“ fantasierte. Seine Aggressionen waren in großer Mehrheit gegen Frauen gerichtet. Die Drohschreiben schickte er in Kopie an Medien und Behörden, um ein möglichst großes Echo zu erzeugen.Die InformationsbeschaffungIm Zuge der Ermittlungen wurden im zeitlichen Zusammenhang mit den Drohungen des NSU 2.0 auch polizeiliche Datenabrufe in Wiesbaden, Hamburg und Berlin ermittelt. In keinem Fall konnten hierfür dienstliche Gründe festgestellt werden. Doch wie kamen die aus den Polizeicomputern abgerufenen Informationen zu Alexander Mensch? Die Staatsanwaltschaft stellt die These auf, dass er auf Revieren anrief, sich als Behördenmitarbeiter ausgab und entsprechende Auskünfte erhielt. Notizen, die man bei ihm fand, lassen darauf schließen, dass er derartige Anrufe tatsächlich tätigte; auch standen in einem Regal Bücher mit Titeln wie „Die Kunst der Täuschung“ und „Verbotene Rhetorik: Die Kunst der skrupellosen Rhetorik“. So ist durchaus vorstellbar, dass er durch fingierte Anrufe und rhetorische Tricks im Einzelfall an vertrauliche Informationen gelangte. Doch die Vielzahl der Fälle, in denen er derartige Daten erhielt, lässt die These der Staatsanwaltschaft wenig plausibel erscheinen. Dies bestätigte schon die Hauptverhandlung. Die stellvertretende Chefredakteurin der taz sagte als Zeugin aus, dass ein Mann — mutmaßlich Alexander Mensch — sich am Telefon als Polizist ausgegeben und die Mobilfunknummer der taz-Autor*in Hengameh Yaghoobifarah erfragt habe. Sie sei jedoch misstrauisch gewesen und habe die Nummer nicht herausgegeben — woraufhin der falsche Polizist aus seiner Rolle fiel und Drohungen ausstieß.Dennoch wird die Behauptung, Alexander Mensch sei durch fingierte Anrufe auf den Revieren an Informationen aus polizeilichen Datenbanken gekommen, vom hessischen Innenminister Peter Beuth für bare Münze genommen. Um den Verdacht auszuräumen, Polizeibedienstete hätten mit Neonazis in Verbindung gestanden, stellt er diese lieber als Tölpel dar, die leichtfertig Informationen herausgeben. Wahrscheinlicher als diese Erzählung ist es, dass in abgeschirmten Foren rechte Polizist*innen mit Neonazis vernetzt sind und diesen Informationen liefern. Diese Spekulation wird auch von Alexander Mensch genährt. Am 17. Februar, dem zweiten Prozesstag, erklärte er, Mitglied in einem derartigen Forum gewesen zu sein, sich dort jedoch passiv verhalten zu haben. Überprüfen lässt sich das nicht.Keinen vernünftigen Zweifel gibt es jedoch daran, dass der Datenabruf zu Başay-Yıldız am 2. August 2018 durch einen oder mehrere Polizeibeamt*innen erfolgte, um diese so erlangten Daten zu Drohzwecken zu gebrauchen. Der Datenabruf war so komplex, langwierig und untypisch, dass kein Beamter und keine Beamtin diesen auf telefonischen Zuruf eines Unbekannten vorgenommen hätte.Die Wirkung der DrohungenAuch die Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke Martina Renner war von den Drohungen des NSU 2.0 betroffen und tritt im Prozess als Nebenklägerin auf. Im Gespräch konstatiert sie, dass gerade Bedrohungen, die persönliche Daten der bedrohten Person enthalten, für diese nicht abstrakt sind, sondern reale Auswirkungen haben. Diese Schreiben seien nicht mehr die „üblichen“ rassistischen und nazistischen Drohungen, sondern die TäterInnen machten mit der Verwendung persönlicher Informationen deutlich, dass sie die Drohung auch in die Tat umsetzen können. Hinzu komme, dass die Verwendung von Daten aus polizeilichen Systemen das Gefühl vermittelt, dass es von der Polizei keinen Schutz gebe. Sich von diesem Gefühl freizumachen, sei sehr schwierig, vor allem, wenn man wisse, dass es rechte Netzwerke in den Sicherheitsbehörden gibt. Renner verweist auch auf die Bedeutung von Foren wie PI-News. Diese funktionieren als Plattformen, auf der Menschen rassistisch und/oder als politische Gegner*innen markiert und direkt zu Zielscheiben gemacht werden. So war es auch beim NSU 2.0. Ein Bericht über Başay-Yıldız wurde auf PI-News bis zum 2. August 2018 über 150 Mal kommentiert — dann folgte das erste Drohschreiben.Bei Başay-Yıldız wird deutlich, welche Wucht solche Drohungen entfalten können. Die Verfasser*innen kannten ihre Privatadresse, wussten über ihre Familie Bescheid und kündigten an, ihre Tochter zu töten. Zudem gingen diese Informationen an eine Vielzahl von Personen, unter anderem an einen rechten Anwalt, und wurden im Internet veröffentlicht. Başay-Yıldız erzählt, wie sehr sie bei den Behörden kämpfen musste, um ernst genommen, über die polizeilichen Datenabrufe informiert zu werden und Unterstützung zur Sicherung ihrer Wohnung zu erhalten. Für sie ist die Gefahr sehr konkret. Sie sorgt dafür, dass ihre Tochter niemals unbeaufsichtigt ist, und ist sofort alarmiert, wenn Leute vor ihrem Haus stehen.Der ProzessAlexander Mensch scheint nicht zu realisieren, dass die Beweislage gegen ihn wegen der NSU 2.0-Drohschreiben dicht ist. Am zweiten Verhandlungstag verlas er eine zehnseitige „Erklärung zur Anklageschrift“, in der er die Vorwürfe bestritt. Allerdings hatte er seine Erklärung nicht mit den Ermittlungsergebnissen abgeglichen, weshalb diese unplausibel und sofort zu widerlegen war. Die Schwierigkeit im Verfahren wird sein, den Funken Wahrheit aus seinen Erklärungen zu isolieren und zu verstehen, mit wem und wie Alexander Mensch vernetzt war.Der Prozess ist bis Ende April 2022 angesetzt, doch er könnte sich erheblich in die Länge ziehen. Wenn schließlich das Urteil gegen Alexander Mensch gesprochen ist, wird der Komplex „NSU 2.0“ aber nicht aufgeklärt sein. Dazu müssten die Wege ermittelt sein, über die Informationen von der Polizei zu Neonazis flossen. Denn offensichtlich hat der NSU 2.0 seinen Ursprung bei Frankfurter Polizist*innen, von denen auch sehr wahrscheinlich der Name erdacht wurde. 2022-05-02T22:32:02+02:00 Aufstand der Anständigen 2.0? | Der Koalitionsvertrag der Ampel https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/85/aufstand-der-anst-ndigen-20 Die geplanten Reformen der neuen Koalition dürften das Leben in Deutschland in mancherlei Hinsicht etwas angenehmer machen. Schön wird es dadurch noch lange nicht.Mit dem Ende der Großen Koalition und der Kanzlerinnenschaft Angela Merkels schließt eine Regierungsperiode ab, der man kaum hinterhertrauern kann. Exemplarisch für diese Ära steht etwa die Abschottung Europas vor Asylsuchenden, eine Konzept- und Tatenlosigkeit angesichts steigender rechter Gewalt oder das systematische Negieren struktureller Demokratiedefizite bei Polizei- und Verfassungsschutzbehörden — um nur ein paar Beispiele zu nennen. Die neugewählte Regierungskoalition von SPD, Grünen und FDP versucht sich nun als progressive „Reformregierung“ zu positionieren.Eine neue Innenpolitik?Die Vorstellungsrede der neuen Bundesinnenministerin, der hessischen SPD-Politikerin Nancy Faeser, ließ viele aufhorchen. Nicht nur weil sie als erste Frau dieses Amt ausführt, sondern weil sie im Gegensatz zu ihrem rechtspopulistischen Vorgänger Horst Seehofer, der sich gerne Autokraten wie Viktor Orbán anbiederte und sich vor allem durch das Schüren rassistischer Ressentiments in Szene setzte, den „Kampf gegen Rechtsextremismus“ als ihr Kernanliegen benannt hat. Auch im Koalitionsvertrag wird die extreme Rechte als „größte Bedrohung“ der Demokratie ausgemacht. In den letzten 20 Jahren wurde diese vor allem bei islamistischen Bewegungen verortet. Welche Maßnahmen aber konkret ergriffen werden sollen, bleibt offen. Diese Verlautbarungen erinnern an den vom damaligen Kanzler Gerhard Schröder (SPD) beschworenen „Aufstand der Anständigen“ gegen rechte Gewalt im Jahr 2000, auf den allerdings keine nachhaltige Politik folgte. Stattdessen ignorierten Sicherheitsbehörden rechte Terrornetzwerke wie den NSU und drangsalierten die Familien der Opfer als vermeintliche Kriminelle. Damals sprachen viele Medien von einer „Türken-Mafia“, die für die Morde des NSU verantwortlich wäre. Heute würde man den rassistischen Begriff „Clankriminalität“ bevorzugen.Die Polizei bleibt Teil des ProblemsEin nennenswertes Versprechen der Koalitionär_innen ist die Erfassung von „Hasskriminalität“ gegen Frauen und queere Menschen in Kriminalitätsstatistiken, was eine bessere Datengrundlage zur weiteren Problematisierung patriarchaler Gewaltverhältnisse böte. Versprochen wird auch die verlässliche Finanzierung von Frauenhäusern und eine Strategie gegen Gewalt an Frauen, die Betroffenenrechte in den Mittelpunkt stellt. Inwiefern aber Polizeibeamt_innen über die nötige Ausbildung verfügen werden, um Betroffene adäquat zu betreuen und gegen sie begangene Straftaten zu verfolgen, bleibt fraglich. Denn fünf Jahre nach der Verschärfung des Sexualstrafrechts fühlen sich Polizei und Justizbehörden weiterhin häufig nicht dazu bemüßigt, Anzeigen wegen Sexualstraftaten aufzunehmen, geschweige denn Ermittlungen.Eine größere Reform zu Abtreibungsrechten wird es mit der neuen Koalition nicht geben. Allerdings soll das Werbe- beziehungsweise Informationsverbot zu Schwangerschaftsabbrüchen aufgehoben und deren Durchführung Teil der medizinischen Ausbildung werden.Im Koalitionsvertrag wird zudem eine Kennzeichnungspflicht für (Bundes-)Polizeibeamt*innen und die stärkere Unterrichtung in demokratischen Werten während der Ausbildung versprochen. Eine ausreichende Antwort auf verstärkte Kritik an rechten Strukturen in allen Sicherheitsbehörden und (rassistischer) Polizeigewalt ist das mitnichten. Die Koalitionär_innen machen sich stattdessen weiterhin für Sicherheitspolitik unter dem Codewort „Clankriminalität“ stark und benennen es als Schwerpunkt ihrer Kriminalitätspolitik. Dieses Kalkül dürfte aufgehen, denn kaum eine andere rassistische Erzählung findet so breite Akzeptanz innerhalb der Bundesrepublik.Dass Polizeibehörden mit stark aufgebauschten und irreführenden Zahlen arbeiten, interessiert dabei nicht. Die damit einhergehende Kriminalisierung von Shishabars bereitete mit das Fundament für den rassistischen Massenmord in Hanau im Februar 2020. Das Versprechen einer „diversitätsorientierten Stellenbesetzungsoffensive“ wird bei dieser Schwerpunktsetzung nichts an bestehenden rassistischen Einstellungen und Strukturen bei der Polizei verändern. Zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU hat sich an deren Arbeitsweise nichts verändert. Die neue Innenministerin Faeser hat sich als Politikerin bisher stets unkritisch gegenüber strukturellen Problemen bei der Polizei gegeben und ist selbst Mitglied im Arbeitskreis Sozialdemokraten in der Polizei.Eine Prise (Staats-)BürgerrechteEin wichtiges Bekenntnis der neuen Regierung ist die Förderung der Bürgerrechte von queeren Menschen und trans Personen. So wird nicht nur ein „Aktionsplan für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“ etwa durch die Förderung von Bildungsprogrammen an Schulen versprochen, sondern auch ein Ende der staatlichen Gängelung von trans Personen. Das aktuelle „Transsexuellengesetz“ soll durch ein „Selbstbestimmungsgesetz“ ersetzt und die Kosten geschlechtsangleichender Behandlungen durch die gesetzlichen Krankenkassen getragen werden. Zudem soll es einen Entschädigungsfonds für trans und inter Personen, die Opfer von bisher gesetzlich erlaubten Körperverletzungen oder Zwangsscheidungen sind, geben. Das Blutspendeverbot für Homosexuelle und trans Personen soll endlich abgeschafft werden.Im Kontrast zum abstammungsbasierten Staatsbürgerverständnis der CDU trägt die neue Regierung der demographischen Realität in der Bundesrepublik endlich Rechnung und verspricht eine Reform des Einwanderungs- und Staatsbürgerrechts. Neben der Akzeptanz von Mehrfachstaatsangehörigkeiten wird auch ein schnellerer Zugang zu Niederlassungserlaubnissen und Einbürgerung nach drei bis fünf Jahren angestrebt. Auch die Vergabe von Aufenthaltsvisa soll ausgeweitet werden. Diese längst überfälligen Reformen könnten vielen helfen, die in diesem Land seit vielen Jahren ohne klare Aufenthaltsperspektive leben müssen.Flucht und AsylPositiv hervorzuheben ist die vorgesehene Aufhebung des Arbeitsverbots für Menschen mit laufenden Asylverfahren, denen hierdurch endlich durch legale Anstellungsverhältnisse eine Lebensperspektive eröffnet wird. Aufhorchen lässt aber auch die Ankündigung „irreguläre Migration wirksam reduzieren“ und „Schleuserkriminalität“ bekämpfen zu wollen, während man sich gleichzeitig nicht durch die Aufnahme von schutzsuchenden Menschen „erpressbar“ machen wolle. Trotz des unkonkreten Versprechens, die Aufnahme von Geflüchteten auf europäischer Ebene regeln zu wollen, scheint die neue Regierung die bisherige Abschottungspolitik der Großen Koalition gegen Schutzsuchende fortzusetzen. Das Bekenntnis zum Prinzip der Seenotrettung ist erfreulich, allerdings wird hier nur zu einem der ältesten Grundsätze der Seefahrt zurückgekehrt: andere nicht ertrinken zu lassen. Eine humanitäre Asylpolitik sähe anders aus. Gesellschaft 7692 Fri, 04 Feb 2022 21:16:47 +0100 LOTTA Aufstand der Anständigen 2.0? Carl Kinsky Die geplanten Reformen der neuen Koalition dürften das Leben in Deutschland in mancherlei Hinsicht etwas angenehmer machen. Schön wird es dadurch noch lange nicht.Mit dem Ende der Großen Koalition und der Kanzlerinnenschaft Angela Merkels schließt eine Regierungsperiode ab, der man kaum hinterhertrauern kann. Exemplarisch für diese Ära steht etwa die Abschottung Europas vor Asylsuchenden, eine Konzept- und Tatenlosigkeit angesichts steigender rechter Gewalt oder das systematische Negieren struktureller Demokratiedefizite bei Polizei- und Verfassungsschutzbehörden — um nur ein paar Beispiele zu nennen. Die neugewählte Regierungskoalition von SPD, Grünen und FDP versucht sich nun als progressive „Reformregierung“ zu positionieren.Eine neue Innenpolitik?Die Vorstellungsrede der neuen Bundesinnenministerin, der hessischen SPD-Politikerin Nancy Faeser, ließ viele aufhorchen. Nicht nur weil sie als erste Frau dieses Amt ausführt, sondern weil sie im Gegensatz zu ihrem rechtspopulistischen Vorgänger Horst Seehofer, der sich gerne Autokraten wie Viktor Orbán anbiederte und sich vor allem durch das Schüren rassistischer Ressentiments in Szene setzte, den „Kampf gegen Rechtsextremismus“ als ihr Kernanliegen benannt hat. Auch im Koalitionsvertrag wird die extreme Rechte als „größte Bedrohung“ der Demokratie ausgemacht. In den letzten 20 Jahren wurde diese vor allem bei islamistischen Bewegungen verortet. Welche Maßnahmen aber konkret ergriffen werden sollen, bleibt offen. Diese Verlautbarungen erinnern an den vom damaligen Kanzler Gerhard Schröder (SPD) beschworenen „Aufstand der Anständigen“ gegen rechte Gewalt im Jahr 2000, auf den allerdings keine nachhaltige Politik folgte. Stattdessen ignorierten Sicherheitsbehörden rechte Terrornetzwerke wie den NSU und drangsalierten die Familien der Opfer als vermeintliche Kriminelle. Damals sprachen viele Medien von einer „Türken-Mafia“, die für die Morde des NSU verantwortlich wäre. Heute würde man den rassistischen Begriff „Clankriminalität“ bevorzugen.Die Polizei bleibt Teil des ProblemsEin nennenswertes Versprechen der Koalitionär_innen ist die Erfassung von „Hasskriminalität“ gegen Frauen und queere Menschen in Kriminalitätsstatistiken, was eine bessere Datengrundlage zur weiteren Problematisierung patriarchaler Gewaltverhältnisse böte. Versprochen wird auch die verlässliche Finanzierung von Frauenhäusern und eine Strategie gegen Gewalt an Frauen, die Betroffenenrechte in den Mittelpunkt stellt. Inwiefern aber Polizeibeamt_innen über die nötige Ausbildung verfügen werden, um Betroffene adäquat zu betreuen und gegen sie begangene Straftaten zu verfolgen, bleibt fraglich. Denn fünf Jahre nach der Verschärfung des Sexualstrafrechts fühlen sich Polizei und Justizbehörden weiterhin häufig nicht dazu bemüßigt, Anzeigen wegen Sexualstraftaten aufzunehmen, geschweige denn Ermittlungen.Eine größere Reform zu Abtreibungsrechten wird es mit der neuen Koalition nicht geben. Allerdings soll das Werbe- beziehungsweise Informationsverbot zu Schwangerschaftsabbrüchen aufgehoben und deren Durchführung Teil der medizinischen Ausbildung werden.Im Koalitionsvertrag wird zudem eine Kennzeichnungspflicht für (Bundes-)Polizeibeamt*innen und die stärkere Unterrichtung in demokratischen Werten während der Ausbildung versprochen. Eine ausreichende Antwort auf verstärkte Kritik an rechten Strukturen in allen Sicherheitsbehörden und (rassistischer) Polizeigewalt ist das mitnichten. Die Koalitionär_innen machen sich stattdessen weiterhin für Sicherheitspolitik unter dem Codewort „Clankriminalität“ stark und benennen es als Schwerpunkt ihrer Kriminalitätspolitik. Dieses Kalkül dürfte aufgehen, denn kaum eine andere rassistische Erzählung findet so breite Akzeptanz innerhalb der Bundesrepublik.Dass Polizeibehörden mit stark aufgebauschten und irreführenden Zahlen arbeiten, interessiert dabei nicht. Die damit einhergehende Kriminalisierung von Shishabars bereitete mit das Fundament für den rassistischen Massenmord in Hanau im Februar 2020. Das Versprechen einer „diversitätsorientierten Stellenbesetzungsoffensive“ wird bei dieser Schwerpunktsetzung nichts an bestehenden rassistischen Einstellungen und Strukturen bei der Polizei verändern. Zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU hat sich an deren Arbeitsweise nichts verändert. Die neue Innenministerin Faeser hat sich als Politikerin bisher stets unkritisch gegenüber strukturellen Problemen bei der Polizei gegeben und ist selbst Mitglied im Arbeitskreis Sozialdemokraten in der Polizei.Eine Prise (Staats-)BürgerrechteEin wichtiges Bekenntnis der neuen Regierung ist die Förderung der Bürgerrechte von queeren Menschen und trans Personen. So wird nicht nur ein „Aktionsplan für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“ etwa durch die Förderung von Bildungsprogrammen an Schulen versprochen, sondern auch ein Ende der staatlichen Gängelung von trans Personen. Das aktuelle „Transsexuellengesetz“ soll durch ein „Selbstbestimmungsgesetz“ ersetzt und die Kosten geschlechtsangleichender Behandlungen durch die gesetzlichen Krankenkassen getragen werden. Zudem soll es einen Entschädigungsfonds für trans und inter Personen, die Opfer von bisher gesetzlich erlaubten Körperverletzungen oder Zwangsscheidungen sind, geben. Das Blutspendeverbot für Homosexuelle und trans Personen soll endlich abgeschafft werden.Im Kontrast zum abstammungsbasierten Staatsbürgerverständnis der CDU trägt die neue Regierung der demographischen Realität in der Bundesrepublik endlich Rechnung und verspricht eine Reform des Einwanderungs- und Staatsbürgerrechts. Neben der Akzeptanz von Mehrfachstaatsangehörigkeiten wird auch ein schnellerer Zugang zu Niederlassungserlaubnissen und Einbürgerung nach drei bis fünf Jahren angestrebt. Auch die Vergabe von Aufenthaltsvisa soll ausgeweitet werden. Diese längst überfälligen Reformen könnten vielen helfen, die in diesem Land seit vielen Jahren ohne klare Aufenthaltsperspektive leben müssen.Flucht und AsylPositiv hervorzuheben ist die vorgesehene Aufhebung des Arbeitsverbots für Menschen mit laufenden Asylverfahren, denen hierdurch endlich durch legale Anstellungsverhältnisse eine Lebensperspektive eröffnet wird. Aufhorchen lässt aber auch die Ankündigung „irreguläre Migration wirksam reduzieren“ und „Schleuserkriminalität“ bekämpfen zu wollen, während man sich gleichzeitig nicht durch die Aufnahme von schutzsuchenden Menschen „erpressbar“ machen wolle. Trotz des unkonkreten Versprechens, die Aufnahme von Geflüchteten auf europäischer Ebene regeln zu wollen, scheint die neue Regierung die bisherige Abschottungspolitik der Großen Koalition gegen Schutzsuchende fortzusetzen. Das Bekenntnis zum Prinzip der Seenotrettung ist erfreulich, allerdings wird hier nur zu einem der ältesten Grundsätze der Seefahrt zurückgekehrt: andere nicht ertrinken zu lassen. Eine humanitäre Asylpolitik sähe anders aus. 2022-02-04T21:16:47+01:00 Ostdeutschland rechtsaußen?! | Eine Einleitung in den Schwerpunkt https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/85/ostdeutschland-rechtsau-en Bei der Betrachtung des öffentlichen und politischen Diskurses über „Rechtsextremismus“ dauert es nicht lange, bei dem Klischee zu landen, dieser sei doch vornehmlich ein „ostdeutsches“ Problem. Gerade in den 1990er Jahren waren die Bilder von Gewaltexzessen wie in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda medial omnipräsent. Auch die Herausbildung einer gewaltbereiten neonazistischen Szene nach der Wiedervereinigung sorgte in vielen Regionen auf dem ehemaligen Gebiet der DDR für ein Klima der Angst, was in den letzten Jahren unter dem Namen „Baseballschlägerjahre“ von Betroffenen eindrücklich beschrieben wurde.Spätestens nach den rassistischen Ausschreitungen in Heidenau, Freital oder Chemnitz, mit der Entstehung von PEGIDA sowie den Wahlerfolgen der AfD mit dezidiert völkisch-nationalistischen Landesverbänden in Thüringen und Sachsen zieht sich eine erneute Debatte um die Spezifika der extremen Rechten in „Ostdeutschland“ durch die letzten Jahre.Auch innerhalb der extremen Rechten wird eine Diskussion geführt, ob westdeutsche „multikulturelle“ Großstädte „verloren“ seien und ob man sich im  Osten oder vielmehr in „Mitteldeutschland“ ansiedeln solle. Dabei wird eine Art Sehnsuchtsort vom Osten als das „deutschere Deutschland“ gezeichnet. Projekte wie die neonazistische Initiative Zusammenrücken sind ein Ausdruck dieser Entwicklung.Gibt es „den Osten“ überhaupt oder bedarf es nicht vielmehr eines differenzierteren Blickes auf Entwicklungen in ländlichen und urbanen Räumen zwischen Ostsee und Sächsischer Schweiz? In dem vorliegenden Schwerpunkt wollen wir nach den Bedingungen fragen, auf denen der „Erfolg“ der Rechten im Osten gründet. Dabei geht es nicht um die altbekannte „westdeutsche Entlastungsstrategie“ einer Verlagerung des Problems „Rechtsextremismus“. Vielmehr möchten wir antifaschistischen Perspektiven und Stimmen aus dem Osten dabei einen Raum geben.Im Opener des Schwerpunktes gibt Marcel Hartwig einen Überblick über die Entwicklung und Wirksamkeit der extremen Rechten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR.In Mittelsachsen hat sich in den vergangenen Jahren ein Netzwerk völkischer Neonazi-Familien angesiedelt. Die dahinter liegende Strategie und Strukturder „Initiative Zusammenrücken“ beleuchtet Johannes Grunert. Sebastian Friedrich und Volkmar Wölk skizzieren die Entwicklung, Erfolgsbedingungen und Grenzen der AfD im Osten.  Mit zwei Vertreter*innen des Netzwerk Polylux hat Johannes Hartwig über den Support und die Herausforderungen antifaschistischer Arbeit in Ostdeutschland gesprochen. Schwerpunkt 7693 Fri, 04 Feb 2022 21:16:47 +0100 LOTTA Ostdeutschland rechtsaußen?! Britta Kremers Bei der Betrachtung des öffentlichen und politischen Diskurses über „Rechtsextremismus“ dauert es nicht lange, bei dem Klischee zu landen, dieser sei doch vornehmlich ein „ostdeutsches“ Problem. Gerade in den 1990er Jahren waren die Bilder von Gewaltexzessen wie in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda medial omnipräsent. Auch die Herausbildung einer gewaltbereiten neonazistischen Szene nach der Wiedervereinigung sorgte in vielen Regionen auf dem ehemaligen Gebiet der DDR für ein Klima der Angst, was in den letzten Jahren unter dem Namen „Baseballschlägerjahre“ von Betroffenen eindrücklich beschrieben wurde.Spätestens nach den rassistischen Ausschreitungen in Heidenau, Freital oder Chemnitz, mit der Entstehung von PEGIDA sowie den Wahlerfolgen der AfD mit dezidiert völkisch-nationalistischen Landesverbänden in Thüringen und Sachsen zieht sich eine erneute Debatte um die Spezifika der extremen Rechten in „Ostdeutschland“ durch die letzten Jahre.Auch innerhalb der extremen Rechten wird eine Diskussion geführt, ob westdeutsche „multikulturelle“ Großstädte „verloren“ seien und ob man sich im  Osten oder vielmehr in „Mitteldeutschland“ ansiedeln solle. Dabei wird eine Art Sehnsuchtsort vom Osten als das „deutschere Deutschland“ gezeichnet. Projekte wie die neonazistische Initiative Zusammenrücken sind ein Ausdruck dieser Entwicklung.Gibt es „den Osten“ überhaupt oder bedarf es nicht vielmehr eines differenzierteren Blickes auf Entwicklungen in ländlichen und urbanen Räumen zwischen Ostsee und Sächsischer Schweiz? In dem vorliegenden Schwerpunkt wollen wir nach den Bedingungen fragen, auf denen der „Erfolg“ der Rechten im Osten gründet. Dabei geht es nicht um die altbekannte „westdeutsche Entlastungsstrategie“ einer Verlagerung des Problems „Rechtsextremismus“. Vielmehr möchten wir antifaschistischen Perspektiven und Stimmen aus dem Osten dabei einen Raum geben.Im Opener des Schwerpunktes gibt Marcel Hartwig einen Überblick über die Entwicklung und Wirksamkeit der extremen Rechten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR.In Mittelsachsen hat sich in den vergangenen Jahren ein Netzwerk völkischer Neonazi-Familien angesiedelt. Die dahinter liegende Strategie und Strukturder „Initiative Zusammenrücken“ beleuchtet Johannes Grunert. Sebastian Friedrich und Volkmar Wölk skizzieren die Entwicklung, Erfolgsbedingungen und Grenzen der AfD im Osten.  Mit zwei Vertreter*innen des Netzwerk Polylux hat Johannes Hartwig über den Support und die Herausforderungen antifaschistischer Arbeit in Ostdeutschland gesprochen. 2022-02-04T21:16:47+01:00 Brauner Osten? | Warum die extreme Rechte in Ostdeutschland eine höhere politische Wirksamkeit als im Westen entfaltet https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/85/brauner-osten Hohe Wahlerfolge der AfD in Sachsen und Thüringen, erfolgreiche rassistische Mobilisierungen gegen Geflüchtete, PEGIDA, die schweren Gewalttaten und Pogrome von Neonazis in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda, die Omnipräsenz einer rechten Jugendkultur in den 1990ern mit Schwerpunkt in der ehemaligen DDR und die aktuelle Etablierung neonazistischer Strukturen und Leuchtturmprojekte in diesem Bereich. All das sorgte und sorgt dafür, dass die extreme Rechte seit Jahren als ein „Ostproblem“ gesehen wird. Wo und warum konnte und kann die extreme Rechte in Ostdeutschland eine höhere politische Wirksamkeit als im Westen entfalten? Wie valide ist die These vom „Ostproblem“? Oder geht es hier eher um Entlastung für „den Westen“?Michael Kühnen war begeistert. Anfang Januar 1990, wenige Wochen nach dem Fall der Mauer, war er auf Erkundungstour durch die im Zerfall befindliche DDR. Im thüringischen Mühlhausen und in Dresden traf Kühnen mit Kameraden aus dem Osten zusammen und stellte die soeben in der DDR durchgesetzte Versammlungsfreiheit auf die Probe. Bereitwillig bahnten die Volkspolizisten dem Neonazi aus dem Westen und seinen KameradInnen den Weg durch die Dres­dner Innenstadt, während sie „Sieg heil“ und „Deutschland erwache“ riefen. In der Folgezeit traten Neonazis auf den Montagsdemonstrationen auf und warben dort um Anhängerschaft. Doch der Versuch, das auf dem Gebiet der DDR vorhandene Potential (partei)-politisch in den Wirren des Umbruchs im Osten zu organisieren, scheiterte zunächst.Extrem rechte Jugendkultur und militanter NeonazismusNicht Parteien prägten das Bild der extremen Rechten in Ostdeutschland in den Jahren nach der Wiedervereinigung, sondern rassistische Gewaltexzesse bis dahin nicht gekannten Ausmaßes. Bis Mitte der 1990er Jahre etablierte sich in Ostdeutschland eine rechte Jugendkultur, die über Gewalt und Dominanz auf der Straße eine zeitweilige Hegemonie ausübte. Es waren westdeutsche Strukturen, wie die Label Rock-O-Rama aus Köln oder Funny Sounds aus Düsseldorf, welche die Tonträger mit dem Soundtrack des Neonazismus lieferten. Schnell jedoch bildeten sich lokale Szenen in nahezu allen Orten der ehemaligen DDR. Bands gründeten sich, Konzerte wurden veranstaltet. Es entwickelte sich gerade im Osten eine omnipräsente Lebenswelt, in der zehntausende junge Menschen sozialisiert wurden — Nationalismus, Rassismus und ein positives Bild des Nationalsozialismus inklusive.Dass heute ein Großteil der Label des RechtsRock in Sachsen, Brandenburg und vor allem in Thüringen ansässig sind, ist Ausdruck dieser Entwicklung. Die meisten der Betreibenden entstammen der Alterskohorte jener, die in den 1990er Jahren in der extremen Rechten politisiert wurden. Dabei kam die Netzwerkstruktur, in die die Akteure sich einbringen konnten, der Organisationsskepsis auf dem Gebiet der ehemaligen DDR entgegen. Der Übergang zwischen neonazistischer Jugendkultur und militantem Neonazismus war fließend. Und auch die pogromartigen rassistischen Angriffe von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen bedurften keiner straffen Organisation durch neonazistische Kader. Sie fußten auf der Dynamik rassistischer Einstellungen und Stimmungslagen der Zeit. Erst in der Folge des Aufstiegs einer extrem rechten Jugendkultur, ihrer Verankerung und der damit einhergehenden Gewalttaten etablierte sich in den 1990er Jahren mit der NPD in Ostdeutschland erstmals eine extrem rechte Partei auch parlamentarisch.Ende der 1980er Jahre hatte sich in der DDR eine informelle neonazistische Szene gebildet, die erstmals in der Nachkriegszeit offensiv und gewalttätig auftrat. Der Tabubruch bestand darin, dass es in der ihrem Selbstverständnis nach antifaschistischen DDR offiziell keine Erscheinungsformen des Neonazismus geben durfte. Den Mangel an legalen organisierten Strukturen wusste die rechte Szene durch extreme Gewaltbereitschaft und eine Strategie der Raumnahme auf der Straße auszugleichen. Das bis zur Mitte der 90er Jahre reichende Fehlen eines staatlichen Gewaltmonopols gab rechten GewalttäterInnen einen Freiraum, von dessen Existenz sie bis heute profitieren. Diese Gewaltbereitschaft und die Fähigkeit zur Mobilisierung auf der Straße bilden eine Kontinuität der extremen Rechten im Osten. Die politisch wirksame Ausübung kollektiver rechter Gewalt reicht von Hoyerswerda 1991 bis zu den Ereignissen in Chemnitz 2018.Mentalitätsgeschichtlicher HintergrundDie extreme Rechte im Osten agiert seit der Wiedervereinigung erkennbar vor einem anderen zeit- und mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund als in Westdeutschland. Die Jahre der gesellschaftlichen Transformation Ostdeutschlands brachten für das Leben der Menschen im Osten umfassende kollektive und biografisch wirksame Umbrüche in allen Bereichen des Lebens mit sich, von der Berufsausübung bis zum Mietvertrag. Alle nur denkbaren Parameter des Lebens änderten sich grundsätzlich innerhalb weniger Monate. Bisherige Lebensentwürfe und die Werteordnung der Gesellschaft wandelten sich.In der ideologischen Reflexion ostdeutscher Gesellschaft als politischem Ort spielen zudem Faktoren wie der in Ostdeutschland geringere Anteil von Migrant*innen an der Bevölkerung, die weitgehende Abwesenheit einer Amerikanisierung der Kultur nach dem Krieg und die Fortexistenz eines spezifischen deutschen Nationalismus’ in der DDR eine zentrale Rolle. Die frühere DDR und das heutige Ostdeutschland sind in vielerlei Hinsicht stärker von deutschen Traditionen in der Gesellschaft geprägt als der Westen. Dies fand nicht nur in der offiziellen Kulturpolitik der DDR Ausdruck, sondern auch in der Fortschreibung deutscher/ preußischer Mentalitätsbestände in der Alltagskultur. Disziplin, (Unter)Ordnung und Autoritätshörigkeit standen in der DDR etwa in der Schule mindestens ebenso hoch im Kurs wie die Erziehung zum Sozialismus. Die Mehrheit der ostdeutschen Gesellschaft grenzte sich kulturell und politisch deutlich von der sowjetischen Besatzungsmacht, der offiziell propagierten Freundschaft zur Sowjetunion und ihrer Einflussnahme auf die Alltagskultur des Landes ab. Eine Pluralisierung gesellschaftlicher Konventionen im Sinne einer kulturellen Öffnung, wie im Westen ab Mitte der 1960er Jahre vollzogen, wurde in der DDR nach 1966 bzw. 1968 rabiat von oben abgebrochen.Autoritäre Unduldsamkeit gegenüber Formen kultureller Abweichung war bis in die 1980er Jahre prägend. Dies spiegelt sich seit langem in den Ergebnissen der Einstellungsforschung wider. Regelmäßig erzielen autoritäre, regressive und rassistische Einstellungsmuster in Ostdeutschland evident höhere Zustimmungswerte als im Westen. In der Praxis schlägt sich dies in einem Klima der Unduldsamkeit und Intoleranz gegenüber Migrant*innen und Menschen mit von den ostdeutschen Normalitätsvorstellungen abweichenden Lebensformen nieder. Als eine Erklärung für die im Osten höheren Zustimmungswerte zu rechten und extrem rechten Items dienten nicht die realen Lebensbedingungen in der DDR, sondern ideologisch aufgeladene Erklärungen, die den Staat der DDR auf allen Ebenen diskreditieren sollten. Christian Pfeiffer, Kriminologe aus Hannover, behauptete, die extrem rechten Orientierungen der ehemaligen DDR-Bürger*innen lägen darin begründet, dass diese in den Kinderkrippen als Kleinkinder nebeneinander auf dem Topf saßen. So seien autoritäre Denkstrukturen entstanden, ein individueller freier Geist wie im Westen habe sich so nicht entwickeln können. Obwohl solche unterkomplexen Erklärungen große Popularität genossen, sind sie sozialwissenschaftlich nicht haltbar.Politische HandlungsspielräumeOb Björn Höcke oder Götz Kubitschek — auffällig viele führende Protagonisten der in Ostdeutschland erfolgreich agierenden extremen Rechten kommen aus dem Westen. Im Osten fanden sie, was ihnen im Westen versagt blieb: politische Handlungsspielräume und Gehör in der Gesellschaft.Ein Grund für den Erfolg der extremen Rechten in Ostdeutschland liegt darin, dass die geringere Bindekraft des als westdeutsch wahrgenommenen politischen Systems gesellschaftspolitisch leere Räume schafft, die die extreme Rechte besetzt. Wo es bedingt durch Abwanderung und Strukturschwäche an soziokultureller Infrastruktur mangelt, Teile des öffentlichen Lebens zum Erliegen kommen, ebendort erlangt einen Bedeutungszuwachs, wer sinnstiftende Angebote unterbreitet und an Mentalitäten und Traditionen anknüpfen kann.Zudem bieten verhältnismäßig günstige Immobilienpreise extrem rechten ProtagonistInnen in ländlichen Regionen des Ostens umfassende Entfaltungsmöglichkeiten, fernab einer kritischen Öffentlichkeit oder antifaschistischer Intervention. Bürgermeister*innen kleiner ostdeutscher Gemeinden sind froh, wenn der leerstehende Gasthof des Ortes an Menschen geht, die diesen wieder aufbauen und sich zudem willig in die Dorfgemeinschaft im Dreieck zwischen Feuerwehr, Heimatverein und der Mitwirkung am Osterfeuer einfügen. Dass es sich dabei um Neonazis oder andere extrem rechte ProtagonistInnen handelt, spielt so lange keine Rolle wie sich diese adäquat zum dörflichen oder kleinstädtischen Sozialraum verhalten. Umgekehrt achten extrem rechte Strukturen in der Regel sehr genau darauf, in ihrem unmittelbaren Umfeld nicht negativ aufzufallen. So gelang es neonazistischen Organisationen bereits in den frühen 90ern, im Osten Immobilien zu nutzen und um diese herum Szenen zu etablieren. Beispielhaft seien hier nur der Nationale Jugendblock in Zittau oder das „Haus Montag“ in Pirna benannt.Westdeutsche ImportwareDie Präsenz aus dem Westen stammender Kader führte zu dem in der Ostdeutschland-Debatte wiederkehrenden Vorwurf, der ostdeutsche Rechtsextremismus sei im Kern westdeutsche Importware. Diese Argumentation wird gern zur Entlastung der Verantwortung der Ostdeutschen für extrem rechte Erfolge im Osten herangezogen. Das Argument, eigentlich sei die Entwicklung der extremen Rechten von Wessis gesteuert, reicht bis in die Zeit der DDR zurück, deren Propaganda verkündet hatte, die Ursache für das Erstarken einer neonazistischen Skinhead-Szene sei im Westen zu suchen. Es ist zutreffend, dass es zahlreiche extrem rechte Führungspersonen in Ostdeutschland gibt, die im Westen sozialisiert wurden. Doch den gesellschaftlichen Resonanzraum und eine Anhängerschaft für ihre rechten Inhalte finden sie unter Ostdeutschen. Zudem ignoriert diese Argumentation die zahlreichen Akteure der extremen Rechten, die in der DDR aufwuchsen, dann nach der „Wende“ auf dem Gebiet der ehemaligen DDR blieben und heute wichtige Bereiche der extremen Rechten, wie beispielsweise den Markt extrem rechter Musik, prägen.Die Bereitschaft der Ostdeutschen, sich selbstkritisch mit der Kontinuität der extremen Rechten zwischen Erzgebirge und Ostsee zu beschäftigen, ist nicht gerade ausgeprägt. Dies musste im Frühjahr 2021 der Ostbeauftragte der damaligen Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU), erfahren, als er im politischen Raum aussprach, was gesicherte sozialwissenschaftliche Erkenntnis ist: extrem rechte Einstellungen und Verhaltensweisen stoßen in Ostdeutschland nicht auf gesellschaftliche Ächtung, sondern unter dem Schutzschirm der Meinungsfreiheit auf Akzeptanz und Normalisierung. Dass die extreme Rechte und ihre politische Praxis in Ostdeutschland über drei Jahrzehnte verharmlost, kleingeredet und geduldet wurde, stattete sie mit jenem Selbstbewusstsein aus, mit welchem sie heute in Gestalt etwa der Freien Sachsen im Zuge der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen auftritt. Die sächsische Landespolitik hat es über Jahrzehnte versäumt, dem rechten Block in der Gesellschaft Grenzen zu setzen. Das dominante Auftreten der extremen Rechten gerade in Sachsen hat seine Quelle im Zusammenspiel einer systematischen Verharmlosung der extremen Rechten durch die seit 30 Jahren dort regierende CDU und die von ihren Gefolgsleuten besetzte Verwaltung und Polizei.Ost ist nicht gleich OstDer Osten ist kein monolithischer Block. Es gibt mit Leipzig, Jena, Potsdam und Rostock Städte, deren Sozialstruktur bedingt durch Universitätsstandorte der westdeutscher Großstädte nicht unähnlich ist. Andererseits gibt es in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt Regionen, in denen ein rechter gesellschaftlicher Block eine Hegemonie ausübt, deren Wirkungsmacht weit über nominelle parlamentarische Mehrheiten für die in Sachsen rechtskonservative CDU und die völkisch-nationalistische AfD hinaus in den vorpolitischen Raum der regionalen politischen Kultur reicht und etwa jugend- und soziokulturellen Zentren in Kleinstädten das Leben schwer macht. Dies hat im Alltag zur Folge, dass die gesellschaftliche Linke unter einem permanenten Rechtfertigungsdruck steht, der von einem medialen Linksextremismusverdacht bis hin zu offener Repression reicht.Öffentlich wahrnehmbar wird dieser rechte Block in den in Sachsen bereits 2013 einsetzenden rassistischen Mobilisierungen gegen Geflüchtete, den besonders starken Protesten gegen die Corona-Maßnahmen der Bundes- und Landesregierung und der weitgehenden Normalisierung der AfD im politischen Betrieb. Das Milieu derer, die den autoritär-regressiven Protest in Ostdeutschland tragen, ist weitgehend stabil und in sich geschlossen. Das seit 2013 zu beobachtende offensive Zugehen der CDU-Regierungen Ostdeutschlands auf diesen rechten Block in Gestalt einer Rhetorik des Dialogs mit „besorgten Bürgern“ stärkt diesen, bindet ihn aber nicht, wie von der CDU erhofft, an sie. Vielmehr verschafft dies der AfD und ihrem politischen Vorfeld Reichweite und Legitimität, indem eindeutig extrem rechte Positionen als „konservativ“ geführt werden.AusblickVon den zeitgeschichtlich bedingten Unterschieden abgesehen profitiert die extreme Rechte in Ostdeutschland von den Faktoren gesellschaftlicher Entwicklung wie der anhaltenden Abwanderung, einer schwach aufgestellten demokratischen Kultur und den vielfältigen politisch erzwungenen Abbrüchen emanzipatorischer Traditionen. Es besteht die reale Gefahr, dass Ostdeutschland zum Testfeld für extrem rechte Realpolitik wird oder schon geworden ist. Hingewiesen sei hier nur auf die neonazistischen Großkonzerte, welche im thüringischen Themar oder im sächsischen Ostritz mit teils mehreren tausend Zuschauer*innen stattgefunden haben. Die Gefahr besteht jedoch nicht in erster Linie in einer Re-Inszenierung des Nationalsozialismus. Die extreme Rechte findet in Ostdeutschland ein Terrain vor, auf dem sie auszuprobieren trachtet, was sie dem Ziel näher bringt, politische Verhältnisse einer autoritären Formierung wie in Ungarn oder Polen zu etablieren. Besonders hinzuweisen ist hier auf die Nähe einzelner Akteure der CDU und der AfD, welche zumindest eine punktuelle Zusammenarbeit propagieren. So erwogen CDU-Politiker in Sachsen-Anhalt mehrfach offen eine Kooperation mit der AfD. Ein rechts-autoritärer gesellschaftlicher Rollback, so ist in den programmatischen Aussagen der AfD und ihres „neurechten“ Umfeldes zu lesen, soll in Ostdeutschland seine Basis finden.Gegen eine monolithische Sicht auf den Osten sprechen die Erfahrungen im Umgang mit der extremen Rechten in den vergangenen zehn Jahren. Scheiterte mit dem Trauermarsch in Dresden doch der bedeutendste Aufmarsch der extremen Rechten ab 2010 am massiven Widerstand. Das neofaschistische „Fest der Völker“, welches zwischen 2005 und 2007 in Jena stattfand, wurde auf Grund starker antifaschistischer Proteste in den Jahren 2008 und 2009 verlegt, bis es gänzlich eingestellt wurde. Die antifaschistische Initiative Polylux macht Initiativen, Gruppen und Einzelpersonen im Osten sichtbar, die sich gegen den rechten Block stemmen. (vgl. S. 18 ff.) Diese zu unterstützen, hilft jenen, die in den ländlichen und kleinstädtischen Kontexten Ostdeutschlands antifaschistisch aktiv sind. Schwerpunkt 7694 Fri, 04 Feb 2022 21:16:47 +0100 LOTTA Brauner Osten? Marcel Hartwig Hohe Wahlerfolge der AfD in Sachsen und Thüringen, erfolgreiche rassistische Mobilisierungen gegen Geflüchtete, PEGIDA, die schweren Gewalttaten und Pogrome von Neonazis in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda, die Omnipräsenz einer rechten Jugendkultur in den 1990ern mit Schwerpunkt in der ehemaligen DDR und die aktuelle Etablierung neonazistischer Strukturen und Leuchtturmprojekte in diesem Bereich. All das sorgte und sorgt dafür, dass die extreme Rechte seit Jahren als ein „Ostproblem“ gesehen wird. Wo und warum konnte und kann die extreme Rechte in Ostdeutschland eine höhere politische Wirksamkeit als im Westen entfalten? Wie valide ist die These vom „Ostproblem“? Oder geht es hier eher um Entlastung für „den Westen“?Michael Kühnen war begeistert. Anfang Januar 1990, wenige Wochen nach dem Fall der Mauer, war er auf Erkundungstour durch die im Zerfall befindliche DDR. Im thüringischen Mühlhausen und in Dresden traf Kühnen mit Kameraden aus dem Osten zusammen und stellte die soeben in der DDR durchgesetzte Versammlungsfreiheit auf die Probe. Bereitwillig bahnten die Volkspolizisten dem Neonazi aus dem Westen und seinen KameradInnen den Weg durch die Dres­dner Innenstadt, während sie „Sieg heil“ und „Deutschland erwache“ riefen. In der Folgezeit traten Neonazis auf den Montagsdemonstrationen auf und warben dort um Anhängerschaft. Doch der Versuch, das auf dem Gebiet der DDR vorhandene Potential (partei)-politisch in den Wirren des Umbruchs im Osten zu organisieren, scheiterte zunächst.Extrem rechte Jugendkultur und militanter NeonazismusNicht Parteien prägten das Bild der extremen Rechten in Ostdeutschland in den Jahren nach der Wiedervereinigung, sondern rassistische Gewaltexzesse bis dahin nicht gekannten Ausmaßes. Bis Mitte der 1990er Jahre etablierte sich in Ostdeutschland eine rechte Jugendkultur, die über Gewalt und Dominanz auf der Straße eine zeitweilige Hegemonie ausübte. Es waren westdeutsche Strukturen, wie die Label Rock-O-Rama aus Köln oder Funny Sounds aus Düsseldorf, welche die Tonträger mit dem Soundtrack des Neonazismus lieferten. Schnell jedoch bildeten sich lokale Szenen in nahezu allen Orten der ehemaligen DDR. Bands gründeten sich, Konzerte wurden veranstaltet. Es entwickelte sich gerade im Osten eine omnipräsente Lebenswelt, in der zehntausende junge Menschen sozialisiert wurden — Nationalismus, Rassismus und ein positives Bild des Nationalsozialismus inklusive.Dass heute ein Großteil der Label des RechtsRock in Sachsen, Brandenburg und vor allem in Thüringen ansässig sind, ist Ausdruck dieser Entwicklung. Die meisten der Betreibenden entstammen der Alterskohorte jener, die in den 1990er Jahren in der extremen Rechten politisiert wurden. Dabei kam die Netzwerkstruktur, in die die Akteure sich einbringen konnten, der Organisationsskepsis auf dem Gebiet der ehemaligen DDR entgegen. Der Übergang zwischen neonazistischer Jugendkultur und militantem Neonazismus war fließend. Und auch die pogromartigen rassistischen Angriffe von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen bedurften keiner straffen Organisation durch neonazistische Kader. Sie fußten auf der Dynamik rassistischer Einstellungen und Stimmungslagen der Zeit. Erst in der Folge des Aufstiegs einer extrem rechten Jugendkultur, ihrer Verankerung und der damit einhergehenden Gewalttaten etablierte sich in den 1990er Jahren mit der NPD in Ostdeutschland erstmals eine extrem rechte Partei auch parlamentarisch.Ende der 1980er Jahre hatte sich in der DDR eine informelle neonazistische Szene gebildet, die erstmals in der Nachkriegszeit offensiv und gewalttätig auftrat. Der Tabubruch bestand darin, dass es in der ihrem Selbstverständnis nach antifaschistischen DDR offiziell keine Erscheinungsformen des Neonazismus geben durfte. Den Mangel an legalen organisierten Strukturen wusste die rechte Szene durch extreme Gewaltbereitschaft und eine Strategie der Raumnahme auf der Straße auszugleichen. Das bis zur Mitte der 90er Jahre reichende Fehlen eines staatlichen Gewaltmonopols gab rechten GewalttäterInnen einen Freiraum, von dessen Existenz sie bis heute profitieren. Diese Gewaltbereitschaft und die Fähigkeit zur Mobilisierung auf der Straße bilden eine Kontinuität der extremen Rechten im Osten. Die politisch wirksame Ausübung kollektiver rechter Gewalt reicht von Hoyerswerda 1991 bis zu den Ereignissen in Chemnitz 2018.Mentalitätsgeschichtlicher HintergrundDie extreme Rechte im Osten agiert seit der Wiedervereinigung erkennbar vor einem anderen zeit- und mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund als in Westdeutschland. Die Jahre der gesellschaftlichen Transformation Ostdeutschlands brachten für das Leben der Menschen im Osten umfassende kollektive und biografisch wirksame Umbrüche in allen Bereichen des Lebens mit sich, von der Berufsausübung bis zum Mietvertrag. Alle nur denkbaren Parameter des Lebens änderten sich grundsätzlich innerhalb weniger Monate. Bisherige Lebensentwürfe und die Werteordnung der Gesellschaft wandelten sich.In der ideologischen Reflexion ostdeutscher Gesellschaft als politischem Ort spielen zudem Faktoren wie der in Ostdeutschland geringere Anteil von Migrant*innen an der Bevölkerung, die weitgehende Abwesenheit einer Amerikanisierung der Kultur nach dem Krieg und die Fortexistenz eines spezifischen deutschen Nationalismus’ in der DDR eine zentrale Rolle. Die frühere DDR und das heutige Ostdeutschland sind in vielerlei Hinsicht stärker von deutschen Traditionen in der Gesellschaft geprägt als der Westen. Dies fand nicht nur in der offiziellen Kulturpolitik der DDR Ausdruck, sondern auch in der Fortschreibung deutscher/ preußischer Mentalitätsbestände in der Alltagskultur. Disziplin, (Unter)Ordnung und Autoritätshörigkeit standen in der DDR etwa in der Schule mindestens ebenso hoch im Kurs wie die Erziehung zum Sozialismus. Die Mehrheit der ostdeutschen Gesellschaft grenzte sich kulturell und politisch deutlich von der sowjetischen Besatzungsmacht, der offiziell propagierten Freundschaft zur Sowjetunion und ihrer Einflussnahme auf die Alltagskultur des Landes ab. Eine Pluralisierung gesellschaftlicher Konventionen im Sinne einer kulturellen Öffnung, wie im Westen ab Mitte der 1960er Jahre vollzogen, wurde in der DDR nach 1966 bzw. 1968 rabiat von oben abgebrochen.Autoritäre Unduldsamkeit gegenüber Formen kultureller Abweichung war bis in die 1980er Jahre prägend. Dies spiegelt sich seit langem in den Ergebnissen der Einstellungsforschung wider. Regelmäßig erzielen autoritäre, regressive und rassistische Einstellungsmuster in Ostdeutschland evident höhere Zustimmungswerte als im Westen. In der Praxis schlägt sich dies in einem Klima der Unduldsamkeit und Intoleranz gegenüber Migrant*innen und Menschen mit von den ostdeutschen Normalitätsvorstellungen abweichenden Lebensformen nieder. Als eine Erklärung für die im Osten höheren Zustimmungswerte zu rechten und extrem rechten Items dienten nicht die realen Lebensbedingungen in der DDR, sondern ideologisch aufgeladene Erklärungen, die den Staat der DDR auf allen Ebenen diskreditieren sollten. Christian Pfeiffer, Kriminologe aus Hannover, behauptete, die extrem rechten Orientierungen der ehemaligen DDR-Bürger*innen lägen darin begründet, dass diese in den Kinderkrippen als Kleinkinder nebeneinander auf dem Topf saßen. So seien autoritäre Denkstrukturen entstanden, ein individueller freier Geist wie im Westen habe sich so nicht entwickeln können. Obwohl solche unterkomplexen Erklärungen große Popularität genossen, sind sie sozialwissenschaftlich nicht haltbar.Politische HandlungsspielräumeOb Björn Höcke oder Götz Kubitschek — auffällig viele führende Protagonisten der in Ostdeutschland erfolgreich agierenden extremen Rechten kommen aus dem Westen. Im Osten fanden sie, was ihnen im Westen versagt blieb: politische Handlungsspielräume und Gehör in der Gesellschaft.Ein Grund für den Erfolg der extremen Rechten in Ostdeutschland liegt darin, dass die geringere Bindekraft des als westdeutsch wahrgenommenen politischen Systems gesellschaftspolitisch leere Räume schafft, die die extreme Rechte besetzt. Wo es bedingt durch Abwanderung und Strukturschwäche an soziokultureller Infrastruktur mangelt, Teile des öffentlichen Lebens zum Erliegen kommen, ebendort erlangt einen Bedeutungszuwachs, wer sinnstiftende Angebote unterbreitet und an Mentalitäten und Traditionen anknüpfen kann.Zudem bieten verhältnismäßig günstige Immobilienpreise extrem rechten ProtagonistInnen in ländlichen Regionen des Ostens umfassende Entfaltungsmöglichkeiten, fernab einer kritischen Öffentlichkeit oder antifaschistischer Intervention. Bürgermeister*innen kleiner ostdeutscher Gemeinden sind froh, wenn der leerstehende Gasthof des Ortes an Menschen geht, die diesen wieder aufbauen und sich zudem willig in die Dorfgemeinschaft im Dreieck zwischen Feuerwehr, Heimatverein und der Mitwirkung am Osterfeuer einfügen. Dass es sich dabei um Neonazis oder andere extrem rechte ProtagonistInnen handelt, spielt so lange keine Rolle wie sich diese adäquat zum dörflichen oder kleinstädtischen Sozialraum verhalten. Umgekehrt achten extrem rechte Strukturen in der Regel sehr genau darauf, in ihrem unmittelbaren Umfeld nicht negativ aufzufallen. So gelang es neonazistischen Organisationen bereits in den frühen 90ern, im Osten Immobilien zu nutzen und um diese herum Szenen zu etablieren. Beispielhaft seien hier nur der Nationale Jugendblock in Zittau oder das „Haus Montag“ in Pirna benannt.Westdeutsche ImportwareDie Präsenz aus dem Westen stammender Kader führte zu dem in der Ostdeutschland-Debatte wiederkehrenden Vorwurf, der ostdeutsche Rechtsextremismus sei im Kern westdeutsche Importware. Diese Argumentation wird gern zur Entlastung der Verantwortung der Ostdeutschen für extrem rechte Erfolge im Osten herangezogen. Das Argument, eigentlich sei die Entwicklung der extremen Rechten von Wessis gesteuert, reicht bis in die Zeit der DDR zurück, deren Propaganda verkündet hatte, die Ursache für das Erstarken einer neonazistischen Skinhead-Szene sei im Westen zu suchen. Es ist zutreffend, dass es zahlreiche extrem rechte Führungspersonen in Ostdeutschland gibt, die im Westen sozialisiert wurden. Doch den gesellschaftlichen Resonanzraum und eine Anhängerschaft für ihre rechten Inhalte finden sie unter Ostdeutschen. Zudem ignoriert diese Argumentation die zahlreichen Akteure der extremen Rechten, die in der DDR aufwuchsen, dann nach der „Wende“ auf dem Gebiet der ehemaligen DDR blieben und heute wichtige Bereiche der extremen Rechten, wie beispielsweise den Markt extrem rechter Musik, prägen.Die Bereitschaft der Ostdeutschen, sich selbstkritisch mit der Kontinuität der extremen Rechten zwischen Erzgebirge und Ostsee zu beschäftigen, ist nicht gerade ausgeprägt. Dies musste im Frühjahr 2021 der Ostbeauftragte der damaligen Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU), erfahren, als er im politischen Raum aussprach, was gesicherte sozialwissenschaftliche Erkenntnis ist: extrem rechte Einstellungen und Verhaltensweisen stoßen in Ostdeutschland nicht auf gesellschaftliche Ächtung, sondern unter dem Schutzschirm der Meinungsfreiheit auf Akzeptanz und Normalisierung. Dass die extreme Rechte und ihre politische Praxis in Ostdeutschland über drei Jahrzehnte verharmlost, kleingeredet und geduldet wurde, stattete sie mit jenem Selbstbewusstsein aus, mit welchem sie heute in Gestalt etwa der Freien Sachsen im Zuge der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen auftritt. Die sächsische Landespolitik hat es über Jahrzehnte versäumt, dem rechten Block in der Gesellschaft Grenzen zu setzen. Das dominante Auftreten der extremen Rechten gerade in Sachsen hat seine Quelle im Zusammenspiel einer systematischen Verharmlosung der extremen Rechten durch die seit 30 Jahren dort regierende CDU und die von ihren Gefolgsleuten besetzte Verwaltung und Polizei.Ost ist nicht gleich OstDer Osten ist kein monolithischer Block. Es gibt mit Leipzig, Jena, Potsdam und Rostock Städte, deren Sozialstruktur bedingt durch Universitätsstandorte der westdeutscher Großstädte nicht unähnlich ist. Andererseits gibt es in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt Regionen, in denen ein rechter gesellschaftlicher Block eine Hegemonie ausübt, deren Wirkungsmacht weit über nominelle parlamentarische Mehrheiten für die in Sachsen rechtskonservative CDU und die völkisch-nationalistische AfD hinaus in den vorpolitischen Raum der regionalen politischen Kultur reicht und etwa jugend- und soziokulturellen Zentren in Kleinstädten das Leben schwer macht. Dies hat im Alltag zur Folge, dass die gesellschaftliche Linke unter einem permanenten Rechtfertigungsdruck steht, der von einem medialen Linksextremismusverdacht bis hin zu offener Repression reicht.Öffentlich wahrnehmbar wird dieser rechte Block in den in Sachsen bereits 2013 einsetzenden rassistischen Mobilisierungen gegen Geflüchtete, den besonders starken Protesten gegen die Corona-Maßnahmen der Bundes- und Landesregierung und der weitgehenden Normalisierung der AfD im politischen Betrieb. Das Milieu derer, die den autoritär-regressiven Protest in Ostdeutschland tragen, ist weitgehend stabil und in sich geschlossen. Das seit 2013 zu beobachtende offensive Zugehen der CDU-Regierungen Ostdeutschlands auf diesen rechten Block in Gestalt einer Rhetorik des Dialogs mit „besorgten Bürgern“ stärkt diesen, bindet ihn aber nicht, wie von der CDU erhofft, an sie. Vielmehr verschafft dies der AfD und ihrem politischen Vorfeld Reichweite und Legitimität, indem eindeutig extrem rechte Positionen als „konservativ“ geführt werden.AusblickVon den zeitgeschichtlich bedingten Unterschieden abgesehen profitiert die extreme Rechte in Ostdeutschland von den Faktoren gesellschaftlicher Entwicklung wie der anhaltenden Abwanderung, einer schwach aufgestellten demokratischen Kultur und den vielfältigen politisch erzwungenen Abbrüchen emanzipatorischer Traditionen. Es besteht die reale Gefahr, dass Ostdeutschland zum Testfeld für extrem rechte Realpolitik wird oder schon geworden ist. Hingewiesen sei hier nur auf die neonazistischen Großkonzerte, welche im thüringischen Themar oder im sächsischen Ostritz mit teils mehreren tausend Zuschauer*innen stattgefunden haben. Die Gefahr besteht jedoch nicht in erster Linie in einer Re-Inszenierung des Nationalsozialismus. Die extreme Rechte findet in Ostdeutschland ein Terrain vor, auf dem sie auszuprobieren trachtet, was sie dem Ziel näher bringt, politische Verhältnisse einer autoritären Formierung wie in Ungarn oder Polen zu etablieren. Besonders hinzuweisen ist hier auf die Nähe einzelner Akteure der CDU und der AfD, welche zumindest eine punktuelle Zusammenarbeit propagieren. So erwogen CDU-Politiker in Sachsen-Anhalt mehrfach offen eine Kooperation mit der AfD. Ein rechts-autoritärer gesellschaftlicher Rollback, so ist in den programmatischen Aussagen der AfD und ihres „neurechten“ Umfeldes zu lesen, soll in Ostdeutschland seine Basis finden.Gegen eine monolithische Sicht auf den Osten sprechen die Erfahrungen im Umgang mit der extremen Rechten in den vergangenen zehn Jahren. Scheiterte mit dem Trauermarsch in Dresden doch der bedeutendste Aufmarsch der extremen Rechten ab 2010 am massiven Widerstand. Das neofaschistische „Fest der Völker“, welches zwischen 2005 und 2007 in Jena stattfand, wurde auf Grund starker antifaschistischer Proteste in den Jahren 2008 und 2009 verlegt, bis es gänzlich eingestellt wurde. Die antifaschistische Initiative Polylux macht Initiativen, Gruppen und Einzelpersonen im Osten sichtbar, die sich gegen den rechten Block stemmen. (vgl. S. 18 ff.) Diese zu unterstützen, hilft jenen, die in den ländlichen und kleinstädtischen Kontexten Ostdeutschlands antifaschistisch aktiv sind. 2022-02-04T21:16:47+01:00 „Die Volkssubstanz bewahren“ | Die „Initiative Zusammenrücken in Mitteldeutschland“ https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/85/die-volkssubstanz-bewahren In Mittelsachsen hat sich in den vergangenen Jahren ein Netzwerk völkischer Neonazi-Familien angesiedelt. Zusammen werben sie für den Zuzug westdeutscher Neonazis in Ostdeutschland. Ihr Projekt genießt in der Szene hohes Ansehen. Obwohl sie ihr Netzwerk größer aussehen lassen als es ist, geht ihre Strategie in Teilen auf und die Siedler*innen werden zunehmend zu einer Gefahr. Mit seinen hohen Mauern und den massiven Toren ähnelt der Hof der Familie Strauch einer Festung. Vater Dankwart Strauch leitet von dem ehemaligen Bauerngut im 150-Einwohner*innen-Dorf Naunhof nahe der sächsischen Stadt Leisnig aus ein Geflecht von Verlagen und Vertrieben für neonazistische Literatur. „Warum biologische Lebensgestaltung”, „Der Totale Krieg” und „Das Organisationsbuch der NSDAP” sind Beispiele für die zahllosen Buchtitel, die er vertreibt. Dankwart Strauch und seine Frau Bente Strauch zogen 2015 mit ihren fünf Kindern in den kleinen Ort an der A14 zwischen Dresden und Leipzig. Die Familie wohnte vorher in Schleswig-Holstein und zählt zu den sogenannten völkischen Siedler*innen.ZugezogenDie Strauchs waren mit die ersten, die kamen. Heute wirbt die neonazistische Siedler*innen-Initiative Zusammenrücken in Mitteldeutschland gezielt um Menschen wie die Strauchs: Junge Familien mit gefestigter nationalsozialistischer Einstellung, die das Leben in Westdeutschland nicht mehr hinnehmen wollten, da selbst ländliche Gegenden „überfremdet“ seien, wie es bei der Initiative heißt. Nach den Strauchs kamen weitere Familien. In der Region Leisnig mit ihren 8.000 Einwohner*innen sind es heute mindestens fünf Immobilien — meistens große Höfe –, die von Personen aus dem Umfeld der Initiative bezogen wurden.Die meisten Siedler*innen waren schon lange vor ihrem Zuzug politisch aktiv. Auffällig ist ihre Nähe zur 2009 verbotenen Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ), bei der Kinder und Jugendliche zu gefestigten Nationalsozialist*innen erzogen wurden. Dankwart und Bente Strauch waren bei der HDJ genauso aktiv wie etwa Christian Fischer aus dem niedersächsischen Vechta, der 2018 seinen Hof bezog. Auch Lutz Giesen aus Berlin, der mit seiner Familie in die Nachbarschaft der Strauchs gezogen ist und Neu-Zuzügler Mario Matthes aus Rheinland-Pfalz waren Teil der Organisation. Heute sind viele von ihnen bei der Partei Der III. Weg aktiv.Die „Initiative Zusammenrücken“Die treibende Kraft in der Siedlungsgemeinschaft ist Christian Fischer. Er spricht zusammen mit Christian Müller, ehemals Teil der Nationalen Sozialisten Rhein-Main, für die Initiative. Sie werben vor allem über ihren Telegram-Kanal für einen systematischen Zuzug nach „Mitteldeutschland“, womit alle ostdeutschen Bundesländer gemeint sind. Ein „Weiter so“ führe in den „biologisch-kulturellen Abgrund“, weshalb ein „taktischer Rückzug“ in den Osten angesagt sei. Ziel sei es, unter Weißen zu leben und die „Volkssubstanz“ zu erhalten. Die Motivation liegt damit zumindest bei der Führungsebene weniger in den persönlichen Beweggründen für einen Wegzug als in einer rechten und weißen Hegemonie im Osten.Nach eigenen Angaben richtet sich die Initiative gleichermaßen an Familien wie an „politische Aktivisten“. Als Beispiel dient ihnen der frühere Dortmunder Die Rechte-Kader Michael Brück, der 2020 nach Chemnitz gezogen war und bei der neu gegründeten extrem rechten Partei Freie Sachsen eine neue Heimat fand. Dass die Freien Sachsen mit ihren über 100.000 Follower*innen bei Telegram medial in die Offensive gingen und strategisch geschickter agieren als die etwas eingestaubte Vorgängerpartei Pro Chemnitz, dürfte zu einem Großteil Brück zu verdanken sein. Er hat erkannt, was Zusammenrücken gern propagiert: Viele Sächs*innen seien für rechtes Gedankengut empfänglicher als die Menschen im Westen. Für seinen Entschluss zum Umzug in den Osten dürfte die Initiative jedoch keine Rolle gespielt haben. Brück ist seit vielen Jahren mit Chemnitzer Neonazis eng vernetzt.Anspruch und WirklichkeitDass Brück von der Initiative dennoch als Paradebeispiel für einen Zuzügler präsentiert wird, zeigt, dass sie sich größer propagiert als sie tatsächlich ist. Müller und Fischer behaupten in einem Interview mit dem Multiaktivisten Frank Kraemer aus Eitorf (Rhein-Sieg-Kreis), sie bekämen etwa 1.000 Anfragen von Siedlungswilligen pro Jahr. Um die Siedelnden in die Regionen zu vermitteln, bediene man sich sogenannter Botschafter, die Zuzügler*innen in einer Art Pat*innenprogramm bei ihrer Ansiedlung unterstützten. 100 Siedlungswillige seien innerhalb eines Jahres mit Botschaftern vermittelt worden, „zahlreiche“ von ihnen hätten den Umzug bereits vollzogen, Interviewer Kraemer stehe selbst kurz davor. Mit eigens produzierten Imagevideos von grünen Wäldern und Brauchtumsfeiern in völkischer Gemeinschaft scheinen sie allerdings bei vielen die Erwartung geweckt zu haben, ihnen werde von der Initiative ein Komplettpaket inklusive Arbeitsplatz und Integration in neonazistische Kamerad*innenkreise organisiert. Fischer und Müller mussten schon mehrmals darauf hinweisen, dass das Siedeln auch einen großen Teil Eigeninitiative erfordere.Rund ein Drittel aller, die sich bei Zusammenrücken meldeten, seien Ostdeutsche, die sich als Botschafter anböten. Die „Achse Thüringen — Sachsen“ sei mit Botschaftern gut besetzt und es gebe sie mittlerweile in allen ostdeutschen Bundesländern. Tatsächliche Zuzüge, die auf die Initiative zurückgehen, sind allerdings bisher nur in Mittelsachsen bekannt. Durch das Suggerieren eines flächendeckenden Netzwerks findet Zusammenrücken in der Szene jedoch eine so große Beachtung, dass weiterhin mit Zuzügler*innen zu rechnen ist, vor allem in Sachsen.Diskussion in der SzeneIn der Neonaziszene bleibt die Initiative Zusammenrücken nicht ohne Widerspruch: In Interviews bei Frank Kraemer und einem Podcast von Der III. Weg kritisiert unter anderem Julian Bender, Leiter des „Gebietsverbands West“ der Partei, die Initiative. Eine Tendenz zu multikultureller Hegemonie sei in den westdeutschen Großstädten zwar erkennbar, ein Leben unter Weißen im ländlichen Raum aber noch möglich. Die Angst, die Siedlungsbewegung könne die westdeutschen Strukturen weiter schwächen, ist unüberhörbar. Eine andere Kritik kam von Freie Sachsen-Chef Martin Kohlmann, den Fischer und Müller auf ihrem Telegram-Kanal interviewten. Der eher regionalistisch eingestellte Kohlmann, der mit seiner Partei unter anderem die Abspaltung Sachsens von der BRD fordert, verlangte den hochmütig auftretenden Siedler*innen zunächst Demut ab — schließlich seien sie in Sachsen fremd und hätten sich erst zu integrieren.Trotz Vorbehalten genießt Zusammenrücken in der Szene einen großen Rückhalt, da es mit den Leisniger Siedler*innen bereits Vorreiter gibt. Im Kontrast dazu stehen andere, im Vergleich aussichtslos erscheinende extrem rechte Siedlungsbestrebungen wie der „Weiße Ethnostaat“ von Frank Kraemer oder die „Strategie der Sammlung“, die der österreichische Identitäre Martin Sellner jüngst im Compact-Magazin vorstellte. Während Kraemer zusammen mit Weißen anderer Nationalitäten einen eigenen weißen „Ethnostaat“ in Osteuropa gründen will, verliert sich Sellner, dessen Versuch durchaus an Zusammenrücken angelehnt zu sein scheint, in Träumereien von einer parallelstaatlichen Struktur, die ein eigenes Schul- und Sozialsystem beinhalten soll. Die Initiative Zusammenrücken hegt derlei Vorstellungen zum Teil auch, doch die Siedler*innen sind bereits da und haben mit ihren Unterwanderungsversuchen begonnen.Durch schleichende Unterwanderung zur „National Befreiten Zone“?Das Leisniger Siedler*innennetzwerk ist seit spätestens 2018 bemüht, an andere gesellschaftliche Kreise anzuschließen und so ihren Wirkungsbereich zu erweitern. Damit verfolgen sie das altbekannte Konzept der „National Befreiten Zone“, nach dem in einer Region die eigene Machtposition zu einer derartigen Hegemonie ausgebaut werden soll, dass staatlicher Einfluss kaum noch vorhanden ist. Anfänge der Einflussnahmeversuche sind bereits erkennbar.Christian Fischer, sein Leisniger Parteikamerad Michael Haack und der ehemalige JN-Kader Mathias König gründeten im April 2020 zunächst den Leisniger Ableger der sachsenweiten Kundgebungen gegen die Corona-Maßnahmen, um Einfluss auf das regionale verschwörungsideologische Milieu nehmen zu können. Während der Flut im Ahrtal betätigten sie sich an den Aufräumarbeiten und berichteten darüber auf Telegram. Auf dem gleichen Telegram-Kanal, den sie vor allem zur Bewerbung der Anti-Corona-Maßnahmen-Kundgebungen nutzen, kündigen die Siedler*innen zudem regelmäßig nicht-rechte Kulturveranstaltungen in Leisnig an, die sie nicht selten auch selbst besuchen. Bislang steht die Leisniger Bevölkerung der Annäherung von rechts verhalten gegenüber. In Elternvertretungen von Schulen und Kindergärten sind die Siedler*innen aber bereits vertreten und Bilder zeigen Siedler bei Bauarbeiten am Domizil eines lokalen Kampfsportvereins. Nicht zuletzt führen manche von ihnen im Namen des Der III. Weg klassische neonazistische Propagandaaktionen wie das Aufstellen schwarzer Kreuze oder Kriegsgräberpflege in der Stadt Leisnig durch.Im Schatten der AfDMit dem Versuch, mit Kundgebungen das lokale verschwörungsideologische Milieu zu erreichen, hatten die Siedler*innen nur geringen Erfolg: Kaum mehr als 100 Teilnehmende brachten sie zu ihrer größten Kundgebung im Frühsommer 2020 zusammen, wovon ein wesentlicher Teil aus den kinderreichen Siedler*innenfamilien und der lokalen Neonaziszene kam. Stattdessen nehmen die Siedler*innen an anderen Aufmärschen in der Region teil, wo ihre Präsenz von den lokalen verschwörungsideologischen Initiativen unwidersprochen hingenommen wird. Getreu ihrer Strategie vermitteln sie so den Eindruck einer breiten Verteilung ihres Netzwerks und einer lokalen Verankerung in der oftmals bereits rechtsoffenen Zivilgesellschaft mittelsächsischer Ortschaften.Ein Leisniger Antifaschist berichtet, dass organisierter Widerspruch gegen die Siedler*innen schwer zu organisieren sei. Ein lokales Bündnis habe einmal ein Banner in Sichtweite der Montagskundgebungen aufgehängt. Zu mehr Protest sei man kaum in der Lage: „Das liegt vor allem an der eigenen Position als Minderheit. Man kennt die Wahlergebnisse und die vorherrschende Meinung der Bevölkerung und erwartet somit wenig oder gar keinen Rückhalt aus der Zivilgesellschaft.“ Für linke Projekte liege die Gefahr derzeit ohnehin woanders: „Während sich die Siedler*innen auf ihren Dörfern verstecken, ist die AfD für linke Projekte derzeit eine viel größere Bedrohung. Seitdem sie mit 23 Sitzen im Kreistag zweitstärkste Kraft ist und in den Ausschüssen sitzt, hat sie eine tatsächliche Macht und versucht, lokalen Initiativen und alternativen Jugendclubs das Leben schwer zu machen.“ Für die Leisniger Siedler*innen macht die AfD wichtige Vorarbeit. In ihrem Schatten haben sie leichtes Spiel. Schwerpunkt 7695 Fri, 04 Feb 2022 21:16:47 +0100 LOTTA „Die Volkssubstanz bewahren“ Johannes Grunert In Mittelsachsen hat sich in den vergangenen Jahren ein Netzwerk völkischer Neonazi-Familien angesiedelt. Zusammen werben sie für den Zuzug westdeutscher Neonazis in Ostdeutschland. Ihr Projekt genießt in der Szene hohes Ansehen. Obwohl sie ihr Netzwerk größer aussehen lassen als es ist, geht ihre Strategie in Teilen auf und die Siedler*innen werden zunehmend zu einer Gefahr. Mit seinen hohen Mauern und den massiven Toren ähnelt der Hof der Familie Strauch einer Festung. Vater Dankwart Strauch leitet von dem ehemaligen Bauerngut im 150-Einwohner*innen-Dorf Naunhof nahe der sächsischen Stadt Leisnig aus ein Geflecht von Verlagen und Vertrieben für neonazistische Literatur. „Warum biologische Lebensgestaltung”, „Der Totale Krieg” und „Das Organisationsbuch der NSDAP” sind Beispiele für die zahllosen Buchtitel, die er vertreibt. Dankwart Strauch und seine Frau Bente Strauch zogen 2015 mit ihren fünf Kindern in den kleinen Ort an der A14 zwischen Dresden und Leipzig. Die Familie wohnte vorher in Schleswig-Holstein und zählt zu den sogenannten völkischen Siedler*innen.ZugezogenDie Strauchs waren mit die ersten, die kamen. Heute wirbt die neonazistische Siedler*innen-Initiative Zusammenrücken in Mitteldeutschland gezielt um Menschen wie die Strauchs: Junge Familien mit gefestigter nationalsozialistischer Einstellung, die das Leben in Westdeutschland nicht mehr hinnehmen wollten, da selbst ländliche Gegenden „überfremdet“ seien, wie es bei der Initiative heißt. Nach den Strauchs kamen weitere Familien. In der Region Leisnig mit ihren 8.000 Einwohner*innen sind es heute mindestens fünf Immobilien — meistens große Höfe –, die von Personen aus dem Umfeld der Initiative bezogen wurden.Die meisten Siedler*innen waren schon lange vor ihrem Zuzug politisch aktiv. Auffällig ist ihre Nähe zur 2009 verbotenen Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ), bei der Kinder und Jugendliche zu gefestigten Nationalsozialist*innen erzogen wurden. Dankwart und Bente Strauch waren bei der HDJ genauso aktiv wie etwa Christian Fischer aus dem niedersächsischen Vechta, der 2018 seinen Hof bezog. Auch Lutz Giesen aus Berlin, der mit seiner Familie in die Nachbarschaft der Strauchs gezogen ist und Neu-Zuzügler Mario Matthes aus Rheinland-Pfalz waren Teil der Organisation. Heute sind viele von ihnen bei der Partei Der III. Weg aktiv.Die „Initiative Zusammenrücken“Die treibende Kraft in der Siedlungsgemeinschaft ist Christian Fischer. Er spricht zusammen mit Christian Müller, ehemals Teil der Nationalen Sozialisten Rhein-Main, für die Initiative. Sie werben vor allem über ihren Telegram-Kanal für einen systematischen Zuzug nach „Mitteldeutschland“, womit alle ostdeutschen Bundesländer gemeint sind. Ein „Weiter so“ führe in den „biologisch-kulturellen Abgrund“, weshalb ein „taktischer Rückzug“ in den Osten angesagt sei. Ziel sei es, unter Weißen zu leben und die „Volkssubstanz“ zu erhalten. Die Motivation liegt damit zumindest bei der Führungsebene weniger in den persönlichen Beweggründen für einen Wegzug als in einer rechten und weißen Hegemonie im Osten.Nach eigenen Angaben richtet sich die Initiative gleichermaßen an Familien wie an „politische Aktivisten“. Als Beispiel dient ihnen der frühere Dortmunder Die Rechte-Kader Michael Brück, der 2020 nach Chemnitz gezogen war und bei der neu gegründeten extrem rechten Partei Freie Sachsen eine neue Heimat fand. Dass die Freien Sachsen mit ihren über 100.000 Follower*innen bei Telegram medial in die Offensive gingen und strategisch geschickter agieren als die etwas eingestaubte Vorgängerpartei Pro Chemnitz, dürfte zu einem Großteil Brück zu verdanken sein. Er hat erkannt, was Zusammenrücken gern propagiert: Viele Sächs*innen seien für rechtes Gedankengut empfänglicher als die Menschen im Westen. Für seinen Entschluss zum Umzug in den Osten dürfte die Initiative jedoch keine Rolle gespielt haben. Brück ist seit vielen Jahren mit Chemnitzer Neonazis eng vernetzt.Anspruch und WirklichkeitDass Brück von der Initiative dennoch als Paradebeispiel für einen Zuzügler präsentiert wird, zeigt, dass sie sich größer propagiert als sie tatsächlich ist. Müller und Fischer behaupten in einem Interview mit dem Multiaktivisten Frank Kraemer aus Eitorf (Rhein-Sieg-Kreis), sie bekämen etwa 1.000 Anfragen von Siedlungswilligen pro Jahr. Um die Siedelnden in die Regionen zu vermitteln, bediene man sich sogenannter Botschafter, die Zuzügler*innen in einer Art Pat*innenprogramm bei ihrer Ansiedlung unterstützten. 100 Siedlungswillige seien innerhalb eines Jahres mit Botschaftern vermittelt worden, „zahlreiche“ von ihnen hätten den Umzug bereits vollzogen, Interviewer Kraemer stehe selbst kurz davor. Mit eigens produzierten Imagevideos von grünen Wäldern und Brauchtumsfeiern in völkischer Gemeinschaft scheinen sie allerdings bei vielen die Erwartung geweckt zu haben, ihnen werde von der Initiative ein Komplettpaket inklusive Arbeitsplatz und Integration in neonazistische Kamerad*innenkreise organisiert. Fischer und Müller mussten schon mehrmals darauf hinweisen, dass das Siedeln auch einen großen Teil Eigeninitiative erfordere.Rund ein Drittel aller, die sich bei Zusammenrücken meldeten, seien Ostdeutsche, die sich als Botschafter anböten. Die „Achse Thüringen — Sachsen“ sei mit Botschaftern gut besetzt und es gebe sie mittlerweile in allen ostdeutschen Bundesländern. Tatsächliche Zuzüge, die auf die Initiative zurückgehen, sind allerdings bisher nur in Mittelsachsen bekannt. Durch das Suggerieren eines flächendeckenden Netzwerks findet Zusammenrücken in der Szene jedoch eine so große Beachtung, dass weiterhin mit Zuzügler*innen zu rechnen ist, vor allem in Sachsen.Diskussion in der SzeneIn der Neonaziszene bleibt die Initiative Zusammenrücken nicht ohne Widerspruch: In Interviews bei Frank Kraemer und einem Podcast von Der III. Weg kritisiert unter anderem Julian Bender, Leiter des „Gebietsverbands West“ der Partei, die Initiative. Eine Tendenz zu multikultureller Hegemonie sei in den westdeutschen Großstädten zwar erkennbar, ein Leben unter Weißen im ländlichen Raum aber noch möglich. Die Angst, die Siedlungsbewegung könne die westdeutschen Strukturen weiter schwächen, ist unüberhörbar. Eine andere Kritik kam von Freie Sachsen-Chef Martin Kohlmann, den Fischer und Müller auf ihrem Telegram-Kanal interviewten. Der eher regionalistisch eingestellte Kohlmann, der mit seiner Partei unter anderem die Abspaltung Sachsens von der BRD fordert, verlangte den hochmütig auftretenden Siedler*innen zunächst Demut ab — schließlich seien sie in Sachsen fremd und hätten sich erst zu integrieren.Trotz Vorbehalten genießt Zusammenrücken in der Szene einen großen Rückhalt, da es mit den Leisniger Siedler*innen bereits Vorreiter gibt. Im Kontrast dazu stehen andere, im Vergleich aussichtslos erscheinende extrem rechte Siedlungsbestrebungen wie der „Weiße Ethnostaat“ von Frank Kraemer oder die „Strategie der Sammlung“, die der österreichische Identitäre Martin Sellner jüngst im Compact-Magazin vorstellte. Während Kraemer zusammen mit Weißen anderer Nationalitäten einen eigenen weißen „Ethnostaat“ in Osteuropa gründen will, verliert sich Sellner, dessen Versuch durchaus an Zusammenrücken angelehnt zu sein scheint, in Träumereien von einer parallelstaatlichen Struktur, die ein eigenes Schul- und Sozialsystem beinhalten soll. Die Initiative Zusammenrücken hegt derlei Vorstellungen zum Teil auch, doch die Siedler*innen sind bereits da und haben mit ihren Unterwanderungsversuchen begonnen.Durch schleichende Unterwanderung zur „National Befreiten Zone“?Das Leisniger Siedler*innennetzwerk ist seit spätestens 2018 bemüht, an andere gesellschaftliche Kreise anzuschließen und so ihren Wirkungsbereich zu erweitern. Damit verfolgen sie das altbekannte Konzept der „National Befreiten Zone“, nach dem in einer Region die eigene Machtposition zu einer derartigen Hegemonie ausgebaut werden soll, dass staatlicher Einfluss kaum noch vorhanden ist. Anfänge der Einflussnahmeversuche sind bereits erkennbar.Christian Fischer, sein Leisniger Parteikamerad Michael Haack und der ehemalige JN-Kader Mathias König gründeten im April 2020 zunächst den Leisniger Ableger der sachsenweiten Kundgebungen gegen die Corona-Maßnahmen, um Einfluss auf das regionale verschwörungsideologische Milieu nehmen zu können. Während der Flut im Ahrtal betätigten sie sich an den Aufräumarbeiten und berichteten darüber auf Telegram. Auf dem gleichen Telegram-Kanal, den sie vor allem zur Bewerbung der Anti-Corona-Maßnahmen-Kundgebungen nutzen, kündigen die Siedler*innen zudem regelmäßig nicht-rechte Kulturveranstaltungen in Leisnig an, die sie nicht selten auch selbst besuchen. Bislang steht die Leisniger Bevölkerung der Annäherung von rechts verhalten gegenüber. In Elternvertretungen von Schulen und Kindergärten sind die Siedler*innen aber bereits vertreten und Bilder zeigen Siedler bei Bauarbeiten am Domizil eines lokalen Kampfsportvereins. Nicht zuletzt führen manche von ihnen im Namen des Der III. Weg klassische neonazistische Propagandaaktionen wie das Aufstellen schwarzer Kreuze oder Kriegsgräberpflege in der Stadt Leisnig durch.Im Schatten der AfDMit dem Versuch, mit Kundgebungen das lokale verschwörungsideologische Milieu zu erreichen, hatten die Siedler*innen nur geringen Erfolg: Kaum mehr als 100 Teilnehmende brachten sie zu ihrer größten Kundgebung im Frühsommer 2020 zusammen, wovon ein wesentlicher Teil aus den kinderreichen Siedler*innenfamilien und der lokalen Neonaziszene kam. Stattdessen nehmen die Siedler*innen an anderen Aufmärschen in der Region teil, wo ihre Präsenz von den lokalen verschwörungsideologischen Initiativen unwidersprochen hingenommen wird. Getreu ihrer Strategie vermitteln sie so den Eindruck einer breiten Verteilung ihres Netzwerks und einer lokalen Verankerung in der oftmals bereits rechtsoffenen Zivilgesellschaft mittelsächsischer Ortschaften.Ein Leisniger Antifaschist berichtet, dass organisierter Widerspruch gegen die Siedler*innen schwer zu organisieren sei. Ein lokales Bündnis habe einmal ein Banner in Sichtweite der Montagskundgebungen aufgehängt. Zu mehr Protest sei man kaum in der Lage: „Das liegt vor allem an der eigenen Position als Minderheit. Man kennt die Wahlergebnisse und die vorherrschende Meinung der Bevölkerung und erwartet somit wenig oder gar keinen Rückhalt aus der Zivilgesellschaft.“ Für linke Projekte liege die Gefahr derzeit ohnehin woanders: „Während sich die Siedler*innen auf ihren Dörfern verstecken, ist die AfD für linke Projekte derzeit eine viel größere Bedrohung. Seitdem sie mit 23 Sitzen im Kreistag zweitstärkste Kraft ist und in den Ausschüssen sitzt, hat sie eine tatsächliche Macht und versucht, lokalen Initiativen und alternativen Jugendclubs das Leben schwer zu machen.“ Für die Leisniger Siedler*innen macht die AfD wichtige Vorarbeit. In ihrem Schatten haben sie leichtes Spiel. 2022-02-04T21:16:47+01:00 Wunsch und Wirklichkeit einer Bewegungspartei | Entwicklung, Erfolgsbedingungen und Grenzen der AfD im Osten https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/85/wunsch-und-wirklichkeit-einer-bewegungspartei Die AfD ist kein ausschließliches Ost-Phänomen, aber wegen der viel tieferen Verankerung zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen ist die AfD dennoch ein Phänomen im Osten. Den Anspruch, Avantgarde-Partei der rechten Bewegung zu sein, konnte sie allerdings nicht einlösen. Sie droht zunehmend als „etablierte“ Wahlpartei wahrgenommen zu werden.Die AfD lässt sich nicht auf den Osten reduzieren: Die ostdeutschen Landesverbände spielen in der AfD quantitativ nur eine Nebenrolle, kommt doch nur knapp jedes vierte Parteimitglied aus den neuen Ländern. Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Blick auf den Anteil der Wahlbevölkerung: Eine Analyse der Bundestagswahl 2021 zeigt, dass nur ein Drittel der AfD-Wähler*innen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR lebt. Allerdings findet sie dort größeren Zuspruch. In Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen holte sie bei der vergangenen Bundestagswahl zwischen 18 und 24,6 Prozent der Zweitstimmen. Thüringen war dabei das einzige Bundesland, wo die AfD sogar etwas zulegen konnte. Ansonsten verlor sie in jedem Bundesland, wobei die Verluste im Westen stärker waren als im Osten. In keinem westdeutschen Bundesland kam die Partei mehr auf ein zweistelliges Ergebnis.Noch etwas fällt auf beim Ost-West-Vergleich: Während der explizit völkisch-nationalistische Flügel in den meisten westdeutschen Landesverbänden noch um die innerparteiliche Vorherrschaft ringt, dominiert er die Partei in den ostdeutschen Bundesländern seit Jahren klar, vor allem in Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen; während die Flügel-Anhänger*innen mit Fortschritten und Rückschlägen in den westlichen Landesverbänden (und Berlin) darum kämpfen, die verbliebenen Reste der ehemaligen „Professoren-Partei“ zurückzudrängen, haben diese „Stützen der Gesellschaft“, die Notablen, die Ehemaligen aus CDU und FDP im Osten nie eine Mehrheit gehabt.In seinen besten Zeiten war es dem Flügel gelungen, die AfD zumindest im Osten als das aufzustellen, was Björn Höcke Ende 2015 in einem Vortrag beim Institut für Staatspolitik (IfS) in Sachsen-Anhalt „fundamentaloppositionelle Bewegungspartei“ nannte. Die Aufmärsche und Pogrome gegen Refugees ab 2015 wurden zwar in der Regel nicht von der AfD initiiert, aber intensiv von ihr auf der Straße und auch parlamentarisch unterstützt. Das anfänglich distanzierte Verhältnis zu Pegida wandelte sich in eine geradezu symbiotische Beziehung. Die AfD wurde zur „Stimme der Bewegung“ in den Landtagen.Die Entwicklung der AfD im Osten, die dortigen Erfolgsbedingungen und die Schwierigkeit, sich dauerhaft als Bewegungspartei zu etablieren, sind erklärungsbedürftig. Dabei ist klar, dass der eine Osten nicht existiert. Dresden, Leipzig und Chemnitz unterscheiden sich strukturell vom sächsischen Hinterland, das katholische Eichsfeld vom Süden und Osten Thüringens. Der südliche Teil Sachsen-Anhalts mit seiner weitgehend umstrukturierten Industrieregion steht strammer hinter der AfD als der konservative von der Landwirtschaft geprägte Norden. Und in Brandenburg ist die AfD vor allem im Südosten stark.Ein Projekt der GegenaufklärungBei ihrer ersten Kandidatur zur Bundestagswahl 2013 hatte die AfD noch keinen Schwerpunkt in den ostdeutschen Bundesländern, lag dort nur minimal über dem Bundesschnitt. Das Hauptthema der AfD in der Anfangszeit, die Kritik an der Eurorettungspolitik der schwarz-gelben Koalition, ging vor allem von den westdeutschen Landesverbänden aus. Doch während sich von Schleswig-Holstein bis Baden-Württemberg national gesinnte neoliberale Volkswirt*innen und Lokalpolitiker*innen vor allem aus CDU und FDP bei der neuen Partei einbrachten, waren in Ostdeutschland bereits in der Anfangszeit Rechtsradikale dabei. Andreas Kalbitz und Björn Höcke, die späteren Führungsfiguren des Flügels, traten der AfD wenige Wochen nach der offiziellen Gründung bei.In den ostdeutschen Bundesländern war von Anfang an der Rassismus ein bedeutender Faktor für den Aufstieg der Partei. Bereits Ende 2013 marschierten im sächsischen Schneeberg mehrmals Hunderte gegen ein lokales Asylbewerberheim auf. Ein Vorläufer für die vielen zum Teil gewalttätigen Proteste gegen Geflüchtete in den folgenden Jahren, die nicht nur, aber vor allem in ostdeutschen Bundesländern stattfanden.Gemeinsamer ideologischer Kitt der Rechten hüben wie drüben ist jenseits von Rassismus und rechter EU-Kritik die Ablehnung von allem, was mit der Chiffre „68“ verbunden wird. Die Revolte der Jahre um 1968 ist das ideelle Gesamtfeindbild, ob die Folgen von Jörg Meuthen nun als „links-rot-grün versifftes 68-er Deutschland“ denunziert oder als Herrschaft des „Kulturmarxismus“ phantasiert werden. Die Revolte wird als „Kulturbruch“ (Karlheinz Weißmann) verstanden, die das Ende der Adenauer-Republik erzwungen hatte. „68“ wird von der AfD und in ihrem kulturell-ideologischen Umfeld als direkte Fortsetzung der Französischen Revolution begriffen. Und die entsprechenden Werte — Freiheit, Gleichheit und Solidarität — sind den Rechten wie der extremen Rechten, obgleich sie in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nie verwirklicht wurden, ein Dorn im Auge. Der Angriff der Rechten, für den der Aufstieg der AfD ein Symptom darstellt, ist ideologisch ein Projekt des Antikommunismus und der Gegenaufklärung.Kraftzentrum des Flügels im OstenIn den ostdeutschen Bundesländern können sich früh besonders rechtsstehende Akteure durchsetzen. 2014 übernahmen mit Björn Höcke in Thüringen, André Poggenburg in Sachsen-Anhalt und Alexander Gauland in Brandenburg drei Rechtsausleger jeweils den Vorsitz der Landespartei. Diese bundesweit gesehen zwar zahlenmäßig zu vernachlässigenden Landesverbände bildeten dann auch 2015 den Kern der parteiinternen Fraktion des sogenannten Flügels. Dessen Gründungspapier, die „Erfurter Resolution“, geht laut Medienberichten direkt auf Götz Kubitschek vom Institut für Staatspolitik (IfS) zurück. Auch wenn sich der Flügel aufgrund innerparteilichen Drucks im Frühjahr 2020 offiziell auflöste, ist rückblickend die Strategie einer Art rechten Entrismus mit anschließender innerparteilicher Fraktionsbildung voll aufgegangen. Das gilt insbesondere für Ostdeutschland, das früh als das Kraftzentrum des Flügels bestimmt wurde.Dort zeigt sich, nicht nur durch den Einfluss der „Neuen Rechten“ um das IfS, dass das völkisch-nationalistische Projekt weit über die AfD hinausgeht: Der ehemalige Linke Jürgen Elsässer hat mit seinem relativ erfolgreichen Magazin Compact frühzeitig einen Schwerpunkt auf die ostdeutschen Länder gelegt. Elsässer und Kubitschek wiederum haben gemeinsam das Kampagnennetzwerk Ein Prozent mit ins Leben gerufen und mit der Identitären Bewegung zusammengearbeitet, als diese noch relevant war. Genau diese Kreise sind es auch, die zunehmend in den Fraktionen und als persönliche Mitarbeitende von Abgeordneten einerseits selbst Gehalt und Brot finden und andererseits die dominante extrem rechte Ausrichtung der AfD weiter zu verfestigen helfen.Zum rechten Projekt zählen auch Soziale Bewegungen, die sich etwa inStraßenmobilisierungen ausdrücken und von denen Pegida in Dresden nur die bekannteste, längst aber nicht die einzige ist. Um das Jahr 2015 herum gab es rassistische Aufmärsche in zahllosen kleineren und mittleren Städten in Ostdeutschland, bei denen immer wieder AfD-Mitglieder mitmischten oder diese sogar initiierten. Christoph Berndt, der Gründer von Zukunft Heimat, einer Cottbusser Auskopplung von Pegida Dresden, ist mittlerweile Fraktionsvorsitzender der AfD-Landtagsfraktion in Brandenburg. Der Schulterschluss zwischen der sächsischen AfD und Pegida wurde am Anfang ausgebremst, weil sich in der vergleichsweise heterogenen AfD-Landtagsfraktion noch einige Abgeordnete fanden, oftmals frühere Vertrauensleute der 2017 ausgetretenen Frauke Petry, die auf Distanz zu dem ganz rechten Spektrum auf der Straße gingen. Die Machtverhältnisse in der Landtagsfraktion änderten sich spätestens mit der Landtagswahl 2019 drastisch.2018 führt die AfD die Bewegung anEs gelang den völkisch-nationalistischen Aktiven bis Herbst 2018, die AfD als wichtigen Teil der rechten Sozialen Bewegung im Osten zu etablieren. Höhepunkt war eine Demonstration in Chemnitz am 1. September 2018, wo die AfD mit Björn Höcke und Andreas Kalbitz und nunmehr auch dem sächsischen Landesvorsitzenden Jörg Urban in der ersten Reihe marschierte — Schulter an Schulter mit den Galionsfiguren von Pegida wie Lutz Bachmann und Siegfried Däbritz, den Identitären, mit Neonazis aus Kameradschaften und von Der III. Weg. Mit dieser Demonstration präsentierte sich die AfD als führende Kraft einer rechten Einheitsfront, die die Herausforderung auf der Straße mit der parlamentarischen Arbeit verknüpft. Der Schulterschluss mit jenem Teil der Bewegung, der offiziell als „rechtsextremistisch“ stigmatisiert ist, wurde damit öffentlich sichtbar vollzogen. Die letzten taktischen Hemmungen waren gefallen, der „point of no return“ überschritten.Dieser September 2018 markierte gleichzeitig auch den vorläufigen Höhepunkt für die AfD: Fast 20 Prozent gaben in Umfragen zu diesem Zeitpunkt an, AfD wählen zu wollen. Ähnlich hohe Umfragewerte erreichte die AfD seitdem nicht wieder. Zudem droht die AfD, ihres bisherigen Hauptthemas, der Asylzuwanderung, verlustig zu gehen. Noch ist nicht ausgemacht, was an seine Stelle treten könnte. Das Thema des Klimawandels scheint sich anzubieten, da sich dabei dessen Leugnung diskursiv gut verknüpfen lässt mit der Propaganda gegen den erklärten politischen Hauptfeind, die Grünen, sowie mit der Forderung der volksgemeinschaftlichen sozialen Abfederung der ökologischen Kosten. Dabei greifen Teile der AfD den Begriff des „solidarischen Patriotismus“, der das nationale Kapital und die Lohnabhängigen gleichermaßen von den „Globalisten“ schützen soll, auf, der im IfS ausgearbeitet und von Höcke popularisiert wurde. Die Westlandesverbände tun sich erheblich schwerer mit solchen strategischen Ansätzen, da der Neoliberalismus als Ideologie dort stärker verankert ist. Eine seltene Ausnahme ist Dimitrios Kisoudis’ Konzept des Ordnungsstaates: Der Autor diverser AfD-naher Publikationen und Mitarbeiter des AfD-Bundestagsabgeordneten Martin Hess stellt sich gegen ein explizit sozialpolitisches Profil und plädiert für einen autoritären Ordnungsstaat.Bezeichnenderweise verliert die AfD seit 2018 aber vor allem in den westdeutschen Ländern, während sie im Osten nahezu stabil auf sehr hohem Niveau bleibt. Das befördert Diskussionen um eine mögliche Abspaltung der erfolgreicheren, aber auch deutlich weiter rechts stehenden Landesverbände in den neuen Bundesländern. Noch-Parteichef Jörg Meuthen brachte Anfang 2020 die Idee einer „Lega Ost“ ins Spiel, ein Begriff, der ursprünglich vom rechten Publizisten Karlheinz Weißmann stammt, der 2015 in der Jungen Freiheit davor warnte, sich in der AfD zu sehr auf Leute wie Höcke und Kubitschek zu kaprizieren. Doch auch Höcke, Kubitschek und Berndt wissen, dass eine rein regionale AfD zu wenig Einfluss auf die gesamte Bundesrepublik hätte.Erfolgsbedingungen für die AfD im OstenDie Voraussetzungen für eine explizit völkisch-nationalistische Ansprache sind in den ostdeutschen Bundesländern günstig, da dort das Anti-Establishment-Ressentiment, das die AfD bedient, auf fruchtbaren Boden fällt. Das tut es auch, weil sich die Struktur der Klassengesellschaft im Zuge der Übernahme der DDR durch die Bundesrepublik binnen kurzer Zeit fundamental verändert hat: Quasi über Nacht musste das einstige Industrieproletariat mit einem forcierten Strukturwandel, der gezielten Deindustrialisierung des Ostens und damit einhergehender Massenarbeitslosigkeit zurechtkommen. Was sich in ehemaligen Industrieregionen wie im Ruhrgebiet über Jahrzehnte vollzogen und trotz staatlicher Abfederungen zu Verwerfungen im Sozialgefüge geführt hat, spielte sich Anfang der 1990er Jahre auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in Wochen ab. Statt versprochener blühender Landschaften gab es Industrieruinen; der Glaube an „die da oben“, nach der Erosion der DDR ohnehin nicht besonders ausgeprägt, war ein für allemal verloren.Die Bindungen der Bevölkerung an die Ideologien und Institutionen der alten Bundesrepublik mussten in Ostdeutschland nicht erst schwächer werden. Sie waren ohnehin nie besonders ausgeprägt. Anders als in Westdeutschland befinden sich weite Teile Ostdeutschlands seit dreißig Jahren in einer Art permanenter Hegemoniekrise, in der die führenden und herrschenden Klassen die Massen nicht erreichen und der gesellschaftliche Konsens nicht mehr hergestellt werden kann. So kann das rechte Projekt in ein Hegemonie-Vakuum stoßen. Das gilt besonders für ländliche Regionen im Osten, wo die Zivilgesellschaft sehr schwach ausgeprägt ist und es staatlichen Zugriff allenfalls noch über den Gerichtsvollzieher gibt. In dieser Konstellation können rechte Organisationen gedeihen und sich rechte Gegenerzählungen etablieren, unabhängig davon, ob diese etwas mit der Realität zu tun haben.„Der Verlust des Urvertrauens und das daraus herrührende Wutpotential ostdeutscher Generationen“ böte „einmalige Chancen des alternativen Oppositionspotentials“, frohlockte etwa Benedikt Kaiser 2019 in der IfS-Zeitschrift Sezession. „Es ist ein Potenzial, das bereits positive Protesterfahrungen hat: Viele derjenigen, die Ende 2021 in ostdeutschen Städten Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen organisieren und Polizeiketten durchbrechen, haben in den 1990er Jahren kämpfen gelernt. Diese Generation ist heute um die 50 Jahre alt, häufig lokal verankert, Stütze einer rechten gegenhegemonialen Zivilgesellschaft.AfD rennt zunehmend hinterherUnd doch zeigt sich in den aktuellen Corona-Protesten auch, dass die AfD ihren Nimbus als Avantgarde-Partei der rechten Bewegung zu verlieren scheint. Sie ist zwar noch parlamentarische Repräsentantin, führt die Proteste aber nicht mehr an, rennt vielmehr hinterher. Die Dynamik geht im südöstlichen Teil Ostdeutschlands eher von den Freien Sachsen aus.Der sinkende Stern der AfD ist erstens auf parteiinterne Streitigkeiten zurückzuführen: Anders als die Ablehnung von Migration und der Werte der Aufklärung bietet sich Corona nicht an, um parteiinterne Gräben zuzuschütten; zu weit auseinander gehen die Auffassungen über die richtige Positionierung während der Pandemie. Zum zweiten hat die AfD in den vergangenen Jahren vernachlässigt, Vorfeldstrukturen zu stärken und so das eigene Milieu zu verbreitern. Bei der AfD scheint sich drittens das „eherne Gesetz der Oligarchie“ des zunächst linken und später faschistischen Parteienkritiker Robert Michels zu bestätigen, nach dem sich in Parteien über kurz oder lang Bürokratien und Machteliten entwickeln und diese so ihre Dynamik verlieren. Die AfD ist in diesem Sinne auf dem Wege, eine etablierte Partei zu werden. Viertens zeigt sich im Moment , dass es in beweglichen Zeiten, dank Messenger-Diensten wie Telegram und Whatsapp, keine Partei braucht, die die verschiedenen Fäden zusammenhält, das Geschehen zentral lenkt und die notwendige Agitation organisiert.Die Vordenker des Flügels dürften sich vieler dieser Probleme bewusst sein, backen entsprechend mittlerweile kleinere Brötchen als noch vor ein paar Jahren. Auf längere Sicht zielen sie darauf, führende Kraft in der rechten Sammlungspartei AfD auf Bundesebene zu werden, die im besten Falle wieder zur Bewegungspartei wird. Das Nah-Ziel, ein Kraftzentrum im Osten aufzubauen, haben sie erreicht. Schwerpunkt 7696 Fri, 04 Feb 2022 21:16:47 +0100 LOTTA Wunsch und Wirklichkeit einer Bewegungspartei Sebastian Friedrich, Volkmar Wölk Die AfD ist kein ausschließliches Ost-Phänomen, aber wegen der viel tieferen Verankerung zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen ist die AfD dennoch ein Phänomen im Osten. Den Anspruch, Avantgarde-Partei der rechten Bewegung zu sein, konnte sie allerdings nicht einlösen. Sie droht zunehmend als „etablierte“ Wahlpartei wahrgenommen zu werden.Die AfD lässt sich nicht auf den Osten reduzieren: Die ostdeutschen Landesverbände spielen in der AfD quantitativ nur eine Nebenrolle, kommt doch nur knapp jedes vierte Parteimitglied aus den neuen Ländern. Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Blick auf den Anteil der Wahlbevölkerung: Eine Analyse der Bundestagswahl 2021 zeigt, dass nur ein Drittel der AfD-Wähler*innen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR lebt. Allerdings findet sie dort größeren Zuspruch. In Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen holte sie bei der vergangenen Bundestagswahl zwischen 18 und 24,6 Prozent der Zweitstimmen. Thüringen war dabei das einzige Bundesland, wo die AfD sogar etwas zulegen konnte. Ansonsten verlor sie in jedem Bundesland, wobei die Verluste im Westen stärker waren als im Osten. In keinem westdeutschen Bundesland kam die Partei mehr auf ein zweistelliges Ergebnis.Noch etwas fällt auf beim Ost-West-Vergleich: Während der explizit völkisch-nationalistische Flügel in den meisten westdeutschen Landesverbänden noch um die innerparteiliche Vorherrschaft ringt, dominiert er die Partei in den ostdeutschen Bundesländern seit Jahren klar, vor allem in Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen; während die Flügel-Anhänger*innen mit Fortschritten und Rückschlägen in den westlichen Landesverbänden (und Berlin) darum kämpfen, die verbliebenen Reste der ehemaligen „Professoren-Partei“ zurückzudrängen, haben diese „Stützen der Gesellschaft“, die Notablen, die Ehemaligen aus CDU und FDP im Osten nie eine Mehrheit gehabt.In seinen besten Zeiten war es dem Flügel gelungen, die AfD zumindest im Osten als das aufzustellen, was Björn Höcke Ende 2015 in einem Vortrag beim Institut für Staatspolitik (IfS) in Sachsen-Anhalt „fundamentaloppositionelle Bewegungspartei“ nannte. Die Aufmärsche und Pogrome gegen Refugees ab 2015 wurden zwar in der Regel nicht von der AfD initiiert, aber intensiv von ihr auf der Straße und auch parlamentarisch unterstützt. Das anfänglich distanzierte Verhältnis zu Pegida wandelte sich in eine geradezu symbiotische Beziehung. Die AfD wurde zur „Stimme der Bewegung“ in den Landtagen.Die Entwicklung der AfD im Osten, die dortigen Erfolgsbedingungen und die Schwierigkeit, sich dauerhaft als Bewegungspartei zu etablieren, sind erklärungsbedürftig. Dabei ist klar, dass der eine Osten nicht existiert. Dresden, Leipzig und Chemnitz unterscheiden sich strukturell vom sächsischen Hinterland, das katholische Eichsfeld vom Süden und Osten Thüringens. Der südliche Teil Sachsen-Anhalts mit seiner weitgehend umstrukturierten Industrieregion steht strammer hinter der AfD als der konservative von der Landwirtschaft geprägte Norden. Und in Brandenburg ist die AfD vor allem im Südosten stark.Ein Projekt der GegenaufklärungBei ihrer ersten Kandidatur zur Bundestagswahl 2013 hatte die AfD noch keinen Schwerpunkt in den ostdeutschen Bundesländern, lag dort nur minimal über dem Bundesschnitt. Das Hauptthema der AfD in der Anfangszeit, die Kritik an der Eurorettungspolitik der schwarz-gelben Koalition, ging vor allem von den westdeutschen Landesverbänden aus. Doch während sich von Schleswig-Holstein bis Baden-Württemberg national gesinnte neoliberale Volkswirt*innen und Lokalpolitiker*innen vor allem aus CDU und FDP bei der neuen Partei einbrachten, waren in Ostdeutschland bereits in der Anfangszeit Rechtsradikale dabei. Andreas Kalbitz und Björn Höcke, die späteren Führungsfiguren des Flügels, traten der AfD wenige Wochen nach der offiziellen Gründung bei.In den ostdeutschen Bundesländern war von Anfang an der Rassismus ein bedeutender Faktor für den Aufstieg der Partei. Bereits Ende 2013 marschierten im sächsischen Schneeberg mehrmals Hunderte gegen ein lokales Asylbewerberheim auf. Ein Vorläufer für die vielen zum Teil gewalttätigen Proteste gegen Geflüchtete in den folgenden Jahren, die nicht nur, aber vor allem in ostdeutschen Bundesländern stattfanden.Gemeinsamer ideologischer Kitt der Rechten hüben wie drüben ist jenseits von Rassismus und rechter EU-Kritik die Ablehnung von allem, was mit der Chiffre „68“ verbunden wird. Die Revolte der Jahre um 1968 ist das ideelle Gesamtfeindbild, ob die Folgen von Jörg Meuthen nun als „links-rot-grün versifftes 68-er Deutschland“ denunziert oder als Herrschaft des „Kulturmarxismus“ phantasiert werden. Die Revolte wird als „Kulturbruch“ (Karlheinz Weißmann) verstanden, die das Ende der Adenauer-Republik erzwungen hatte. „68“ wird von der AfD und in ihrem kulturell-ideologischen Umfeld als direkte Fortsetzung der Französischen Revolution begriffen. Und die entsprechenden Werte — Freiheit, Gleichheit und Solidarität — sind den Rechten wie der extremen Rechten, obgleich sie in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nie verwirklicht wurden, ein Dorn im Auge. Der Angriff der Rechten, für den der Aufstieg der AfD ein Symptom darstellt, ist ideologisch ein Projekt des Antikommunismus und der Gegenaufklärung.Kraftzentrum des Flügels im OstenIn den ostdeutschen Bundesländern können sich früh besonders rechtsstehende Akteure durchsetzen. 2014 übernahmen mit Björn Höcke in Thüringen, André Poggenburg in Sachsen-Anhalt und Alexander Gauland in Brandenburg drei Rechtsausleger jeweils den Vorsitz der Landespartei. Diese bundesweit gesehen zwar zahlenmäßig zu vernachlässigenden Landesverbände bildeten dann auch 2015 den Kern der parteiinternen Fraktion des sogenannten Flügels. Dessen Gründungspapier, die „Erfurter Resolution“, geht laut Medienberichten direkt auf Götz Kubitschek vom Institut für Staatspolitik (IfS) zurück. Auch wenn sich der Flügel aufgrund innerparteilichen Drucks im Frühjahr 2020 offiziell auflöste, ist rückblickend die Strategie einer Art rechten Entrismus mit anschließender innerparteilicher Fraktionsbildung voll aufgegangen. Das gilt insbesondere für Ostdeutschland, das früh als das Kraftzentrum des Flügels bestimmt wurde.Dort zeigt sich, nicht nur durch den Einfluss der „Neuen Rechten“ um das IfS, dass das völkisch-nationalistische Projekt weit über die AfD hinausgeht: Der ehemalige Linke Jürgen Elsässer hat mit seinem relativ erfolgreichen Magazin Compact frühzeitig einen Schwerpunkt auf die ostdeutschen Länder gelegt. Elsässer und Kubitschek wiederum haben gemeinsam das Kampagnennetzwerk Ein Prozent mit ins Leben gerufen und mit der Identitären Bewegung zusammengearbeitet, als diese noch relevant war. Genau diese Kreise sind es auch, die zunehmend in den Fraktionen und als persönliche Mitarbeitende von Abgeordneten einerseits selbst Gehalt und Brot finden und andererseits die dominante extrem rechte Ausrichtung der AfD weiter zu verfestigen helfen.Zum rechten Projekt zählen auch Soziale Bewegungen, die sich etwa inStraßenmobilisierungen ausdrücken und von denen Pegida in Dresden nur die bekannteste, längst aber nicht die einzige ist. Um das Jahr 2015 herum gab es rassistische Aufmärsche in zahllosen kleineren und mittleren Städten in Ostdeutschland, bei denen immer wieder AfD-Mitglieder mitmischten oder diese sogar initiierten. Christoph Berndt, der Gründer von Zukunft Heimat, einer Cottbusser Auskopplung von Pegida Dresden, ist mittlerweile Fraktionsvorsitzender der AfD-Landtagsfraktion in Brandenburg. Der Schulterschluss zwischen der sächsischen AfD und Pegida wurde am Anfang ausgebremst, weil sich in der vergleichsweise heterogenen AfD-Landtagsfraktion noch einige Abgeordnete fanden, oftmals frühere Vertrauensleute der 2017 ausgetretenen Frauke Petry, die auf Distanz zu dem ganz rechten Spektrum auf der Straße gingen. Die Machtverhältnisse in der Landtagsfraktion änderten sich spätestens mit der Landtagswahl 2019 drastisch.2018 führt die AfD die Bewegung anEs gelang den völkisch-nationalistischen Aktiven bis Herbst 2018, die AfD als wichtigen Teil der rechten Sozialen Bewegung im Osten zu etablieren. Höhepunkt war eine Demonstration in Chemnitz am 1. September 2018, wo die AfD mit Björn Höcke und Andreas Kalbitz und nunmehr auch dem sächsischen Landesvorsitzenden Jörg Urban in der ersten Reihe marschierte — Schulter an Schulter mit den Galionsfiguren von Pegida wie Lutz Bachmann und Siegfried Däbritz, den Identitären, mit Neonazis aus Kameradschaften und von Der III. Weg. Mit dieser Demonstration präsentierte sich die AfD als führende Kraft einer rechten Einheitsfront, die die Herausforderung auf der Straße mit der parlamentarischen Arbeit verknüpft. Der Schulterschluss mit jenem Teil der Bewegung, der offiziell als „rechtsextremistisch“ stigmatisiert ist, wurde damit öffentlich sichtbar vollzogen. Die letzten taktischen Hemmungen waren gefallen, der „point of no return“ überschritten.Dieser September 2018 markierte gleichzeitig auch den vorläufigen Höhepunkt für die AfD: Fast 20 Prozent gaben in Umfragen zu diesem Zeitpunkt an, AfD wählen zu wollen. Ähnlich hohe Umfragewerte erreichte die AfD seitdem nicht wieder. Zudem droht die AfD, ihres bisherigen Hauptthemas, der Asylzuwanderung, verlustig zu gehen. Noch ist nicht ausgemacht, was an seine Stelle treten könnte. Das Thema des Klimawandels scheint sich anzubieten, da sich dabei dessen Leugnung diskursiv gut verknüpfen lässt mit der Propaganda gegen den erklärten politischen Hauptfeind, die Grünen, sowie mit der Forderung der volksgemeinschaftlichen sozialen Abfederung der ökologischen Kosten. Dabei greifen Teile der AfD den Begriff des „solidarischen Patriotismus“, der das nationale Kapital und die Lohnabhängigen gleichermaßen von den „Globalisten“ schützen soll, auf, der im IfS ausgearbeitet und von Höcke popularisiert wurde. Die Westlandesverbände tun sich erheblich schwerer mit solchen strategischen Ansätzen, da der Neoliberalismus als Ideologie dort stärker verankert ist. Eine seltene Ausnahme ist Dimitrios Kisoudis’ Konzept des Ordnungsstaates: Der Autor diverser AfD-naher Publikationen und Mitarbeiter des AfD-Bundestagsabgeordneten Martin Hess stellt sich gegen ein explizit sozialpolitisches Profil und plädiert für einen autoritären Ordnungsstaat.Bezeichnenderweise verliert die AfD seit 2018 aber vor allem in den westdeutschen Ländern, während sie im Osten nahezu stabil auf sehr hohem Niveau bleibt. Das befördert Diskussionen um eine mögliche Abspaltung der erfolgreicheren, aber auch deutlich weiter rechts stehenden Landesverbände in den neuen Bundesländern. Noch-Parteichef Jörg Meuthen brachte Anfang 2020 die Idee einer „Lega Ost“ ins Spiel, ein Begriff, der ursprünglich vom rechten Publizisten Karlheinz Weißmann stammt, der 2015 in der Jungen Freiheit davor warnte, sich in der AfD zu sehr auf Leute wie Höcke und Kubitschek zu kaprizieren. Doch auch Höcke, Kubitschek und Berndt wissen, dass eine rein regionale AfD zu wenig Einfluss auf die gesamte Bundesrepublik hätte.Erfolgsbedingungen für die AfD im OstenDie Voraussetzungen für eine explizit völkisch-nationalistische Ansprache sind in den ostdeutschen Bundesländern günstig, da dort das Anti-Establishment-Ressentiment, das die AfD bedient, auf fruchtbaren Boden fällt. Das tut es auch, weil sich die Struktur der Klassengesellschaft im Zuge der Übernahme der DDR durch die Bundesrepublik binnen kurzer Zeit fundamental verändert hat: Quasi über Nacht musste das einstige Industrieproletariat mit einem forcierten Strukturwandel, der gezielten Deindustrialisierung des Ostens und damit einhergehender Massenarbeitslosigkeit zurechtkommen. Was sich in ehemaligen Industrieregionen wie im Ruhrgebiet über Jahrzehnte vollzogen und trotz staatlicher Abfederungen zu Verwerfungen im Sozialgefüge geführt hat, spielte sich Anfang der 1990er Jahre auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in Wochen ab. Statt versprochener blühender Landschaften gab es Industrieruinen; der Glaube an „die da oben“, nach der Erosion der DDR ohnehin nicht besonders ausgeprägt, war ein für allemal verloren.Die Bindungen der Bevölkerung an die Ideologien und Institutionen der alten Bundesrepublik mussten in Ostdeutschland nicht erst schwächer werden. Sie waren ohnehin nie besonders ausgeprägt. Anders als in Westdeutschland befinden sich weite Teile Ostdeutschlands seit dreißig Jahren in einer Art permanenter Hegemoniekrise, in der die führenden und herrschenden Klassen die Massen nicht erreichen und der gesellschaftliche Konsens nicht mehr hergestellt werden kann. So kann das rechte Projekt in ein Hegemonie-Vakuum stoßen. Das gilt besonders für ländliche Regionen im Osten, wo die Zivilgesellschaft sehr schwach ausgeprägt ist und es staatlichen Zugriff allenfalls noch über den Gerichtsvollzieher gibt. In dieser Konstellation können rechte Organisationen gedeihen und sich rechte Gegenerzählungen etablieren, unabhängig davon, ob diese etwas mit der Realität zu tun haben.„Der Verlust des Urvertrauens und das daraus herrührende Wutpotential ostdeutscher Generationen“ böte „einmalige Chancen des alternativen Oppositionspotentials“, frohlockte etwa Benedikt Kaiser 2019 in der IfS-Zeitschrift Sezession. „Es ist ein Potenzial, das bereits positive Protesterfahrungen hat: Viele derjenigen, die Ende 2021 in ostdeutschen Städten Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen organisieren und Polizeiketten durchbrechen, haben in den 1990er Jahren kämpfen gelernt. Diese Generation ist heute um die 50 Jahre alt, häufig lokal verankert, Stütze einer rechten gegenhegemonialen Zivilgesellschaft.AfD rennt zunehmend hinterherUnd doch zeigt sich in den aktuellen Corona-Protesten auch, dass die AfD ihren Nimbus als Avantgarde-Partei der rechten Bewegung zu verlieren scheint. Sie ist zwar noch parlamentarische Repräsentantin, führt die Proteste aber nicht mehr an, rennt vielmehr hinterher. Die Dynamik geht im südöstlichen Teil Ostdeutschlands eher von den Freien Sachsen aus.Der sinkende Stern der AfD ist erstens auf parteiinterne Streitigkeiten zurückzuführen: Anders als die Ablehnung von Migration und der Werte der Aufklärung bietet sich Corona nicht an, um parteiinterne Gräben zuzuschütten; zu weit auseinander gehen die Auffassungen über die richtige Positionierung während der Pandemie. Zum zweiten hat die AfD in den vergangenen Jahren vernachlässigt, Vorfeldstrukturen zu stärken und so das eigene Milieu zu verbreitern. Bei der AfD scheint sich drittens das „eherne Gesetz der Oligarchie“ des zunächst linken und später faschistischen Parteienkritiker Robert Michels zu bestätigen, nach dem sich in Parteien über kurz oder lang Bürokratien und Machteliten entwickeln und diese so ihre Dynamik verlieren. Die AfD ist in diesem Sinne auf dem Wege, eine etablierte Partei zu werden. Viertens zeigt sich im Moment , dass es in beweglichen Zeiten, dank Messenger-Diensten wie Telegram und Whatsapp, keine Partei braucht, die die verschiedenen Fäden zusammenhält, das Geschehen zentral lenkt und die notwendige Agitation organisiert.Die Vordenker des Flügels dürften sich vieler dieser Probleme bewusst sein, backen entsprechend mittlerweile kleinere Brötchen als noch vor ein paar Jahren. Auf längere Sicht zielen sie darauf, führende Kraft in der rechten Sammlungspartei AfD auf Bundesebene zu werden, die im besten Falle wieder zur Bewegungspartei wird. Das Nah-Ziel, ein Kraftzentrum im Osten aufzubauen, haben sie erreicht. 2022-02-04T21:16:47+01:00 „Wir dürfen die Genoss*innen im ostdeutschen Land nicht alleine lassen“ | Im Gespräch mit dem Netzwerk „Polylux“ https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/85/wir-d-rfen-die-genossinnen-im-ostdeutschen-land-nicht-alleine-lassen Es gibt ihn, den anständigen Antifaschismus in Ostdeutschland. Um linke, antifaschistische und emanzipatorische Initiativen und Projekte in den ländlichen Regionen zu unterstützen, hat sich im Sommer 2018 das Netzwerk „Polylux“ gründet. Mit Mxx und Jaša sprachen wir über den Support und die Herausforderungen antifaschistischer Arbeit in Ostdeutschland.Ihr seid beide für den Verein „Polylux“ aktiv. Wie sieht die Arbeit des Vereins aus?Jaša: Mit Polylux wollen wir linke, antifaschistische und emanzipatorische Aktive und Projekte in den ostdeutschen Kommunen sichtbarer machen, ihnen den Rücken stärken und für eine solidarische Finanzierung sorgen. Dazu sammeln wir durch kontinuierliche Mitgliedsbeiträge oder einmalige Spenden Geld, welches wir dann wieder an Projekte und Gruppen verteilen können. Wir wollen die Projekte und vor allem die dazugehörigen Menschen auch langfristig unterstützen. Das heißt für uns, dass wir die Projekte besuchen, untereinander vernetzen und ihre Anliegen verbreiten. Wir haben unter anderem eine Postkartenserie aufgelegt, einen Podcast, in dem wir Projekte vorstellen, gestartet und planen ein größeres Netzwerktreffen.Mxx: Der Zugang zur Unterstützung ist relativ niedrigschwellig, deshalb gibt es bei uns kein standardisiertes Antragsverfahren, wie es die meisten Förderprogramme haben. Initiativen können über das Kontaktformular auf unserer Website anfragen. Ein wichtiger Teil der Netzwerkarbeit ist dann der Austausch mit den Projekten und sich im besten Fall auch zu treffen, um vor Ort einen Eindruck zu bekommen. Auf unserem monatlichen Plenum entscheiden wir dann, welche Anliegen wir fördern (können).J: Unsere finanzielle Unterstützung reicht von Einmalzahlungen kleiner Beträge für eine konkrete Vortragsreihe oder Flyer über eine monatliche Unterstützung bei der Miete bis hin zu größeren Beträgen für die Umsetzung von Brandschutzauflagen, ohne die ein Treff nicht weiter öffnen kann. Dabei liegt unser Fokus ganz klar auf kleineren Projekten im ländlichen Raum, die einen klaren antifaschistischen Grundkonsens haben.Was war eure Motivation, den Verein  zu gründen?J: Wir wollen, dass die Menschen, die im Osten und dort vor allem im ländlichen Raum aktiv sind, weiterhin aktiv sein können und nicht ständig in existenzielle Nöte geraten. Dadurch dass die AfD im Osten seit Jahren immer stärker und auch immer etablierter wird, ändern sich auch parlamentarische Prozesse. Denn neben der Hetze auf der Straße bestimmt sie auch die Diskurse in Stadt-, Kreistags- und Ortsratssitzungen und entscheidet mit bei der Vergabe von Geldern. In den letzten Jahren wurden immer mehr Vereinen und Projekten Gelder gestrichen oder es wurde über die Aberkennung ihrer Gemeinnützigkeit diskutiert. Immer wieder wollen Geldgeber*innen, dass sich Projekte von sogenannten extremistischen Inhalten distanzieren und Neutralitätsklauseln unterschreiben. Wir wollen Gruppen und Projekten einfach die Möglichkeit geben, nicht alles mitmachen zu müssen und zu wissen, dass es Geld genau für das gibt, was sie tun. Auch für die Antifa-Aufkleber in der Kneipe und die klaren Positionen am Runden Tisch.Bei den meisten Projekten, die von euch unterstützt werden, handelt es sich um Vereine und Initiativen jenseits der Metropolen wie Halle, Dresden, Potsdam und Leipzig. Welche Bedeutung hat der ländliche Raum für euer Projekt?J: Einen großen. Unser Fokus liegt ja hauptsächlich im ländlichen Raum. Das liegt auch daran, dass viele von uns selbst im ländlichen Raum in Ostdeutschland aufgewachsen sind, immer noch (oder wieder) dort leben und arbeiten. Wir wissen also selbst sehr gut, wie es ist, an Orten politisiert zu werden, wo es nur sehr wenig alternative Räume und Infrastruktur gibt. Wir wissen selbst, wie existenziell Orte abseits der rechten Hegemonie sind. Viele jüngere Menschen verlassen die ländlichen Regionen. Gehen für die Ausbildung in größere Städte, verbringen aber ihre Kindheit und Jugend dort — und es gehen auch nicht alle weg und manche kommen auch gezielt wieder zurück. Ich selbst bin sehr froh, in meiner Jugend wenigstens den einen Jugendtreff gehabt zu haben, wo — zumindest stand das an der Tür — Rassismus und Sexismus nicht willkommen waren.M: Nicht zu vergessen, dass es auch Menschen gibt, die nicht das Privileg genießen, sich ohne weiteres in die nächste Großstadt begeben zu können. Für viele Menschen im Asylapparat oder auch in anderen eher prekären Lebenslagen ist ein Wegzug unmöglich oder sehr schwierig. Und diese Menschen bekommen oft erstmals in Projekten wie wir sie unterstützen Zuspruch und Solidarität.Ostdeutschland wird aus westdeutscher Perspektive oft pauschal als Kernland der AfD, No-Go-Area und Nazi-Hochburg gesehen, wo es eine extrem rechte Hegemonie gibt. Stimmt dieses Bild? Und was bedeutet das für Linke und antifaschistische Politik?J: Es ist nicht so leicht zu sagen „Ja, dieses Bild stimmt“ oder „Nein, das Bild stimmt nicht“. Wir wollen weder eine Image-Kampagne für Ostdeutschland machen, noch wollen wir die Menschen die täglich dort aktiv sind unter den Tisch fallen lassen. Für die Menschen, die hier leben, sind die letzten Wahlergebnisse keine Überraschung, sondern eine stetige Entwicklung. Für die kleinen Projekte erhöht sich damit aber auch der Druck immer mehr. Die Angriffe auf sie kommen von allen Seiten. Es gibt immer wieder Bürgermeister*innen, die versuchen ihr „Nazi-Problem“ zu beschönigen. Wenn diese Zustände dann von linken und antifaschistischen Projekten benannt werden, bekommen diese als „Nestbeschmutzer*innen“ eins auf den Deckel. Die AfD versucht beispielsweise, über Kleine Anfragen Druck auf Projekte auszuüben. Dadurch entsteht in Teilen der Gesellschaft immer mehr Unsicherheit. Projekte fragen sich, was sie sagen können und was nicht. Sie denken präventiv darüber nach, wie die AfD — oder auch die CDU, etc. — auf bestimmte Sachen reagieren würde. Das macht den Alltag für die Aktiven zu einem andauernden Existenzkampf.M: Die Situation für emanzipatorische und linke Projekte ist auch ohne die AfD schon prekär gewesen. Es war vor allem die CDU, welche etwa wie in Sachsen mit der Extremismusklausel immer wieder versuchte, antifaschistischen und kritischen Projekten die Mittel zu entziehen. Was ihr mitunter auch gelungen ist. In den Regionen, wo 60 Prozent oder mehr rechts oder ganz rechts wählen, haben Menschen in ihrem Alltag seit Jahren mit Rassismus, Sexismus, Homophobie und  Antisemitismus zu kämpfen. Es ist auch nicht unbedingt so, dass es in den größeren Städten und den dichter besiedelten Gegenden anders wäre, nur sind dort die Projekte und Orte, an denen sich dagegen positioniert wird, besser aufgestellt — finanziell, aber vor allem auch personell. Das sind Orte, wo sich der Alltag nicht immer direkt um Nazis und Gewalt drehen muss. Solche Orte braucht es aber auch in den kleinen Städten oder auf dem Dorf. Nach den rassistischen Ausschreitungen im Sommer 2015 in Heidenau oder den extrem rechten Mobilisierungen 2018 nach Chemnitz reagierten Antifa-Strukturen bundesweit und mobilisierten zu großen antifaschistischen Demonstrationen vor Ort. Welche Wirkung haben solche Interventionen für die Antifaschist*innen vor Ort?M: Aus der Perspektive eines in der Großstadt lebenden Menschen, der vor allem im kleinstädtischen Raum Menschen unterstützt, die von Rassismus betroffen sind und im Asylapparat struggeln, muss ich sagen, dass auch ich anfangs der Meinung war, es brauche einfach dreimal im Jahr — oder immer wenn es wieder zu besonders viel Gewalt durch Faschos und Anwohner*innen kam — eine große antifaschistische Demo vor Ort, wo möglichst viele im Blackblock-Style kommen und mal klarmachen, so läuft das nicht… Versteht mich nicht falsch, ich finde diese Aktionsform hat ihre absolute Berechtigung, vor allem wenn die Staatsmacht einfach wegsieht oder sich noch daran beteiligt. Gleichzeitig ist es im Alltag nicht oder kaum hilfreich, sich erst im schlimmsten Moment im eigentlich nicht mehr aushaltbaren Zustand darauf verlassen zu können, dass es Unterstützung von außen gibt.J: Ich selbst bin im Erzgebirge in einer migrantischen Familie groß geworden, heute lebe ich in einer Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern und arbeite in einem Nest namens Anklam. Ich kenne einige Leute, die auch im ländlicheren Raum in Ostdeutschland leben und arbeiten. Viele von ihnen sagen, dass sie sehr geflasht sind, wenn so viele Leute kommen und supporten. Das ist dann ein sehr berauschendes Gefühl, alle stehen unter Strom. Wenn dann alle wieder weg sind, entsteht oft Leere — so ging es mir zumindest früher. Denn für eine kurze Zeit war das Gefühl des nicht- alleine-Seins da. Ganz viele coole Leute um dich ’rum — also Gleichgesinnte, Genoss*innen, andere Queers. Und dann bist du wieder mit dir und den anderen Fünfen, die du jeden Tag siehst und die auch ausgebrannt sind, übrig.Nichtsdestotrotz ist dieser Support wichtig. Zumindest fand ich das früher immer sehr gut, wenn zu Demos, Veranstaltungen oder Konzerten Leute von „außerhalb“ angereist sind. Ich glaube aber, das ist je nach Situation und Region unterschiedlich und kann nicht pauschal auf den ganzen ländlichen Osten so übertragen werden.Ihr wollt ja nicht „nur“ als alternativer Förderverein zur Finanzierung von Projekten in Erscheinung treten, sondern ein solidarisches Netzwerk schaffen. Wie sollte der Support nachhaltiger antifaschistischer Strukturen in Ostdeutschland aus dem „Westen“ aussehen?M: Das was wir mit Polylux gerade machen, ist ja eigentlich eine gesamtgesellschaftliche, staatliche Aufgabe. Beispielsweise Jugendlichen Räume zur Verfügung zu stellen und dem Rechtsruck im ländlichen Raum etwas entgegen zu setzen. Aber diese Aufgabe wird schlicht und ergreifend nicht erfüllt. Wir können nun einfach zuschauen, wie nichts passiert, oder aber dem ganzen etwas Praktisches entgegensetzten und Verantwortung übernehmen. Einen Teil davon kann ein Verein wie Polylux leisten, den anderen Teil müssen auch Menschen aktiv mitgestalten — indem sie mal dahinfahren, wo sonst die Menschen wegziehen, und vielleicht nicht immer erst wenn es wieder zu Gewalt und Pogromen kam, sondern weil dort eine gute Veranstaltungsreihe ist oder auch mal zum Punk-Konzert.J: Vernetzung, inhaltliche Unterstützung, vor Ort sein bei Aktionen und aktiv werden, mal auf ein Konzert fahren und so weiter ist selbstverständlich wichtig und eine sinnvolle Art des Supportes. Aber es ist auch logisch, dass jetzt nicht einfach mal ganze viele Linke aus den westdeutschen Städten in den ländlichen Raum im Osten ziehen. Die Menschen haben ja auch ihre Gründe, nicht dort zu leben — beispielsweise weil sie dort mehr Diskriminierung ausgesetzt wären. Wer aber aus der Ferne kontinuierlich etwas dazu tun will, kann das eben auch durch Geld. Denn die finanzielle Absicherung ist nunmal ein Grundstein für vieles. Egal ob westdeutsche Antifaschist*innen, weggezogene Ossis oder solidarische Großstädter*innen mit schlechtem Gewissen: Wir dürfen die Genoss*innen im ostdeutschen Land nicht alleine lassen. SpendenNetzwerk Polylux e.V.IBAN: DE19 8306 5408 0004 1674 06BIC: GENO DEF1 SLRDeutsche Skatbankwww.polylux.networkNetzwerk Polylux e.V. ist  ›politisch‹ tätig und deswegen nicht  gemeinnützig. Aus diesem Grund stellt Netzwerk Polylux e. V. keine  Spendenquittungen aus.Mxx lebt in Leipzig, ist dort aufgewachsen und politisiert worden. Während des Studiums in einer ostdeutschen Kleinstadt verfängt sich der Fokus in der Provinz. Solidarische Unterstützung gegen staatlich organisierte Ausgrenzung und gesellschaftlich getragenen Rassismus ist auch im Hinterland notwendig — die Strukturen dafür brauchen Support: finanziell wie personell.Jaša ist mit migrantischem Background in einer Kleinstadt im Erzgebirge groß geworden, hat viele Jahre in Zwickau gelebt. Mit 18 direkt in die nächste Großstadt: nach Chemnitz. War dann viele Jahre in Dresden aktiv und lebt seit Anfang 2021 in Greifswald und arbeitet in Anklam in Mecklenburg-Vorpommern. Schwerpunkt 7697 Fri, 04 Feb 2022 21:16:47 +0100 LOTTA „Wir dürfen die Genoss*innen im ostdeutschen Land nicht alleine lassen“ Johannes Hartwig Es gibt ihn, den anständigen Antifaschismus in Ostdeutschland. Um linke, antifaschistische und emanzipatorische Initiativen und Projekte in den ländlichen Regionen zu unterstützen, hat sich im Sommer 2018 das Netzwerk „Polylux“ gründet. Mit Mxx und Jaša sprachen wir über den Support und die Herausforderungen antifaschistischer Arbeit in Ostdeutschland.Ihr seid beide für den Verein „Polylux“ aktiv. Wie sieht die Arbeit des Vereins aus?Jaša: Mit Polylux wollen wir linke, antifaschistische und emanzipatorische Aktive und Projekte in den ostdeutschen Kommunen sichtbarer machen, ihnen den Rücken stärken und für eine solidarische Finanzierung sorgen. Dazu sammeln wir durch kontinuierliche Mitgliedsbeiträge oder einmalige Spenden Geld, welches wir dann wieder an Projekte und Gruppen verteilen können. Wir wollen die Projekte und vor allem die dazugehörigen Menschen auch langfristig unterstützen. Das heißt für uns, dass wir die Projekte besuchen, untereinander vernetzen und ihre Anliegen verbreiten. Wir haben unter anderem eine Postkartenserie aufgelegt, einen Podcast, in dem wir Projekte vorstellen, gestartet und planen ein größeres Netzwerktreffen.Mxx: Der Zugang zur Unterstützung ist relativ niedrigschwellig, deshalb gibt es bei uns kein standardisiertes Antragsverfahren, wie es die meisten Förderprogramme haben. Initiativen können über das Kontaktformular auf unserer Website anfragen. Ein wichtiger Teil der Netzwerkarbeit ist dann der Austausch mit den Projekten und sich im besten Fall auch zu treffen, um vor Ort einen Eindruck zu bekommen. Auf unserem monatlichen Plenum entscheiden wir dann, welche Anliegen wir fördern (können).J: Unsere finanzielle Unterstützung reicht von Einmalzahlungen kleiner Beträge für eine konkrete Vortragsreihe oder Flyer über eine monatliche Unterstützung bei der Miete bis hin zu größeren Beträgen für die Umsetzung von Brandschutzauflagen, ohne die ein Treff nicht weiter öffnen kann. Dabei liegt unser Fokus ganz klar auf kleineren Projekten im ländlichen Raum, die einen klaren antifaschistischen Grundkonsens haben.Was war eure Motivation, den Verein  zu gründen?J: Wir wollen, dass die Menschen, die im Osten und dort vor allem im ländlichen Raum aktiv sind, weiterhin aktiv sein können und nicht ständig in existenzielle Nöte geraten. Dadurch dass die AfD im Osten seit Jahren immer stärker und auch immer etablierter wird, ändern sich auch parlamentarische Prozesse. Denn neben der Hetze auf der Straße bestimmt sie auch die Diskurse in Stadt-, Kreistags- und Ortsratssitzungen und entscheidet mit bei der Vergabe von Geldern. In den letzten Jahren wurden immer mehr Vereinen und Projekten Gelder gestrichen oder es wurde über die Aberkennung ihrer Gemeinnützigkeit diskutiert. Immer wieder wollen Geldgeber*innen, dass sich Projekte von sogenannten extremistischen Inhalten distanzieren und Neutralitätsklauseln unterschreiben. Wir wollen Gruppen und Projekten einfach die Möglichkeit geben, nicht alles mitmachen zu müssen und zu wissen, dass es Geld genau für das gibt, was sie tun. Auch für die Antifa-Aufkleber in der Kneipe und die klaren Positionen am Runden Tisch.Bei den meisten Projekten, die von euch unterstützt werden, handelt es sich um Vereine und Initiativen jenseits der Metropolen wie Halle, Dresden, Potsdam und Leipzig. Welche Bedeutung hat der ländliche Raum für euer Projekt?J: Einen großen. Unser Fokus liegt ja hauptsächlich im ländlichen Raum. Das liegt auch daran, dass viele von uns selbst im ländlichen Raum in Ostdeutschland aufgewachsen sind, immer noch (oder wieder) dort leben und arbeiten. Wir wissen also selbst sehr gut, wie es ist, an Orten politisiert zu werden, wo es nur sehr wenig alternative Räume und Infrastruktur gibt. Wir wissen selbst, wie existenziell Orte abseits der rechten Hegemonie sind. Viele jüngere Menschen verlassen die ländlichen Regionen. Gehen für die Ausbildung in größere Städte, verbringen aber ihre Kindheit und Jugend dort — und es gehen auch nicht alle weg und manche kommen auch gezielt wieder zurück. Ich selbst bin sehr froh, in meiner Jugend wenigstens den einen Jugendtreff gehabt zu haben, wo — zumindest stand das an der Tür — Rassismus und Sexismus nicht willkommen waren.M: Nicht zu vergessen, dass es auch Menschen gibt, die nicht das Privileg genießen, sich ohne weiteres in die nächste Großstadt begeben zu können. Für viele Menschen im Asylapparat oder auch in anderen eher prekären Lebenslagen ist ein Wegzug unmöglich oder sehr schwierig. Und diese Menschen bekommen oft erstmals in Projekten wie wir sie unterstützen Zuspruch und Solidarität.Ostdeutschland wird aus westdeutscher Perspektive oft pauschal als Kernland der AfD, No-Go-Area und Nazi-Hochburg gesehen, wo es eine extrem rechte Hegemonie gibt. Stimmt dieses Bild? Und was bedeutet das für Linke und antifaschistische Politik?J: Es ist nicht so leicht zu sagen „Ja, dieses Bild stimmt“ oder „Nein, das Bild stimmt nicht“. Wir wollen weder eine Image-Kampagne für Ostdeutschland machen, noch wollen wir die Menschen die täglich dort aktiv sind unter den Tisch fallen lassen. Für die Menschen, die hier leben, sind die letzten Wahlergebnisse keine Überraschung, sondern eine stetige Entwicklung. Für die kleinen Projekte erhöht sich damit aber auch der Druck immer mehr. Die Angriffe auf sie kommen von allen Seiten. Es gibt immer wieder Bürgermeister*innen, die versuchen ihr „Nazi-Problem“ zu beschönigen. Wenn diese Zustände dann von linken und antifaschistischen Projekten benannt werden, bekommen diese als „Nestbeschmutzer*innen“ eins auf den Deckel. Die AfD versucht beispielsweise, über Kleine Anfragen Druck auf Projekte auszuüben. Dadurch entsteht in Teilen der Gesellschaft immer mehr Unsicherheit. Projekte fragen sich, was sie sagen können und was nicht. Sie denken präventiv darüber nach, wie die AfD — oder auch die CDU, etc. — auf bestimmte Sachen reagieren würde. Das macht den Alltag für die Aktiven zu einem andauernden Existenzkampf.M: Die Situation für emanzipatorische und linke Projekte ist auch ohne die AfD schon prekär gewesen. Es war vor allem die CDU, welche etwa wie in Sachsen mit der Extremismusklausel immer wieder versuchte, antifaschistischen und kritischen Projekten die Mittel zu entziehen. Was ihr mitunter auch gelungen ist. In den Regionen, wo 60 Prozent oder mehr rechts oder ganz rechts wählen, haben Menschen in ihrem Alltag seit Jahren mit Rassismus, Sexismus, Homophobie und  Antisemitismus zu kämpfen. Es ist auch nicht unbedingt so, dass es in den größeren Städten und den dichter besiedelten Gegenden anders wäre, nur sind dort die Projekte und Orte, an denen sich dagegen positioniert wird, besser aufgestellt — finanziell, aber vor allem auch personell. Das sind Orte, wo sich der Alltag nicht immer direkt um Nazis und Gewalt drehen muss. Solche Orte braucht es aber auch in den kleinen Städten oder auf dem Dorf. Nach den rassistischen Ausschreitungen im Sommer 2015 in Heidenau oder den extrem rechten Mobilisierungen 2018 nach Chemnitz reagierten Antifa-Strukturen bundesweit und mobilisierten zu großen antifaschistischen Demonstrationen vor Ort. Welche Wirkung haben solche Interventionen für die Antifaschist*innen vor Ort?M: Aus der Perspektive eines in der Großstadt lebenden Menschen, der vor allem im kleinstädtischen Raum Menschen unterstützt, die von Rassismus betroffen sind und im Asylapparat struggeln, muss ich sagen, dass auch ich anfangs der Meinung war, es brauche einfach dreimal im Jahr — oder immer wenn es wieder zu besonders viel Gewalt durch Faschos und Anwohner*innen kam — eine große antifaschistische Demo vor Ort, wo möglichst viele im Blackblock-Style kommen und mal klarmachen, so läuft das nicht… Versteht mich nicht falsch, ich finde diese Aktionsform hat ihre absolute Berechtigung, vor allem wenn die Staatsmacht einfach wegsieht oder sich noch daran beteiligt. Gleichzeitig ist es im Alltag nicht oder kaum hilfreich, sich erst im schlimmsten Moment im eigentlich nicht mehr aushaltbaren Zustand darauf verlassen zu können, dass es Unterstützung von außen gibt.J: Ich selbst bin im Erzgebirge in einer migrantischen Familie groß geworden, heute lebe ich in einer Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern und arbeite in einem Nest namens Anklam. Ich kenne einige Leute, die auch im ländlicheren Raum in Ostdeutschland leben und arbeiten. Viele von ihnen sagen, dass sie sehr geflasht sind, wenn so viele Leute kommen und supporten. Das ist dann ein sehr berauschendes Gefühl, alle stehen unter Strom. Wenn dann alle wieder weg sind, entsteht oft Leere — so ging es mir zumindest früher. Denn für eine kurze Zeit war das Gefühl des nicht- alleine-Seins da. Ganz viele coole Leute um dich ’rum — also Gleichgesinnte, Genoss*innen, andere Queers. Und dann bist du wieder mit dir und den anderen Fünfen, die du jeden Tag siehst und die auch ausgebrannt sind, übrig.Nichtsdestotrotz ist dieser Support wichtig. Zumindest fand ich das früher immer sehr gut, wenn zu Demos, Veranstaltungen oder Konzerten Leute von „außerhalb“ angereist sind. Ich glaube aber, das ist je nach Situation und Region unterschiedlich und kann nicht pauschal auf den ganzen ländlichen Osten so übertragen werden.Ihr wollt ja nicht „nur“ als alternativer Förderverein zur Finanzierung von Projekten in Erscheinung treten, sondern ein solidarisches Netzwerk schaffen. Wie sollte der Support nachhaltiger antifaschistischer Strukturen in Ostdeutschland aus dem „Westen“ aussehen?M: Das was wir mit Polylux gerade machen, ist ja eigentlich eine gesamtgesellschaftliche, staatliche Aufgabe. Beispielsweise Jugendlichen Räume zur Verfügung zu stellen und dem Rechtsruck im ländlichen Raum etwas entgegen zu setzen. Aber diese Aufgabe wird schlicht und ergreifend nicht erfüllt. Wir können nun einfach zuschauen, wie nichts passiert, oder aber dem ganzen etwas Praktisches entgegensetzten und Verantwortung übernehmen. Einen Teil davon kann ein Verein wie Polylux leisten, den anderen Teil müssen auch Menschen aktiv mitgestalten — indem sie mal dahinfahren, wo sonst die Menschen wegziehen, und vielleicht nicht immer erst wenn es wieder zu Gewalt und Pogromen kam, sondern weil dort eine gute Veranstaltungsreihe ist oder auch mal zum Punk-Konzert.J: Vernetzung, inhaltliche Unterstützung, vor Ort sein bei Aktionen und aktiv werden, mal auf ein Konzert fahren und so weiter ist selbstverständlich wichtig und eine sinnvolle Art des Supportes. Aber es ist auch logisch, dass jetzt nicht einfach mal ganze viele Linke aus den westdeutschen Städten in den ländlichen Raum im Osten ziehen. Die Menschen haben ja auch ihre Gründe, nicht dort zu leben — beispielsweise weil sie dort mehr Diskriminierung ausgesetzt wären. Wer aber aus der Ferne kontinuierlich etwas dazu tun will, kann das eben auch durch Geld. Denn die finanzielle Absicherung ist nunmal ein Grundstein für vieles. Egal ob westdeutsche Antifaschist*innen, weggezogene Ossis oder solidarische Großstädter*innen mit schlechtem Gewissen: Wir dürfen die Genoss*innen im ostdeutschen Land nicht alleine lassen. SpendenNetzwerk Polylux e.V.IBAN: DE19 8306 5408 0004 1674 06BIC: GENO DEF1 SLRDeutsche Skatbankwww.polylux.networkNetzwerk Polylux e.V. ist  ›politisch‹ tätig und deswegen nicht  gemeinnützig. Aus diesem Grund stellt Netzwerk Polylux e. V. keine  Spendenquittungen aus.Mxx lebt in Leipzig, ist dort aufgewachsen und politisiert worden. Während des Studiums in einer ostdeutschen Kleinstadt verfängt sich der Fokus in der Provinz. Solidarische Unterstützung gegen staatlich organisierte Ausgrenzung und gesellschaftlich getragenen Rassismus ist auch im Hinterland notwendig — die Strukturen dafür brauchen Support: finanziell wie personell.Jaša ist mit migrantischem Background in einer Kleinstadt im Erzgebirge groß geworden, hat viele Jahre in Zwickau gelebt. Mit 18 direkt in die nächste Großstadt: nach Chemnitz. War dann viele Jahre in Dresden aktiv und lebt seit Anfang 2021 in Greifswald und arbeitet in Anklam in Mecklenburg-Vorpommern. 2022-02-04T21:16:47+01:00 „Keine Rechtsrock-BRAVO“ | Das Projekt „Rock Hate“ https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/85/keine-rechtsrock-bravo Unter dem Namen „Rock Hate“ haben sich seit Sommer 2019 verschiedene neonazistische Medienformate herausgebildet. Ob „Telegram“-Kanal und -Chat, Podcast oder Print-Magazin, hier findet sich alles rund um „Musik, Politik und Widerstand“. Hinter dem Projekt verbirgt sich mit Alexander Karnath ein alter Bekannter der nordrhein-westfälischen Neonazi- und RechtsRock-Szene.Im August 2019 ging auf dem Messenger-Dienst Telegram der Kanal Rock Hate online, der heute rund 3.000 Abonnent*innen aufweist. Der Schwerpunkt des Kanals liegt seit Beginn auf dem Bereich Musik und liefert neben Besprechungen und Veranstaltungsankündigungen diverse Neuigkeiten aus der Welt des RechtsRock. Gründe für die Erstellung des Kanals waren nach eigenem Bekunden die „massiven Einschränkungen“ und die „Zensurgewalt“ von anderen Social-Media-Plattformen wie beispielsweise Facebook. Von Beginn an verstanden die Admins des Kanals das Projekt nicht nur als Musik- und Subkultur-Format, sondern explizit auch als überparteiliche Plattform des „Nationalen Widerstands“: „Egal ob Ein Prozent, FSN, AfD, Dritter Weg, Die Rechte, NPD, Pegida, Tommy Frenck, Volkslehrer, oder wer auch immer, — wir reichen allen Patrioten die Hand und wir lassen uns auch nicht vorschreiben mit wem wir zusammenarbeiten und mit wem nicht“, so die Verlautbarung. Recht schnell entwickelte sich neben dem Kanal auch der Chat Rock Hate-Forum auf Telegram, das als Diskussions- und Austauschort dient. Waren es vor rund 15 Jahren Neonazi-Foren wie freier-widerstand.net oder thiazi.net, die auch für den Bereich der neonazistischen Musikwelt eine wichtige Bedeutung hatten, kommen heute diverse Musiker, Labelbetreiber und selbsternannte „Szenegrößen“ mit „Otto-Normal“-RechtsRock-Hörer*innen im Rock Hate-Forum zusammen.Alter BekannterBetreiber der Rock Hate-Formate ist der 45-jährige Alexander Karnath, der früher in Wülfrath lebte, heute aber offenbar in Velbert (beides Kreis Mettmann bei Düsseldorf) lebt und eine lange Geschichte in der extremen Rechten in der Region vorzuweisen hat. Seit etwa Mitte der 1990er Jahre ist er in der lokalen und regionalen Neonazi-Szene aktiv und durchlief hierbei diverse Gruppierungen. Schon um das Jahr 2000 war er einer von 36 Beschuldigten in einem Verfahren gegen den Velberter Siepensturm, gegen die wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt wurde. Um das Jahr 2003 war Karnath „Stützpunktleiter Mettmann“ des Kampfbundes Deutscher Sozialisten (KDS) und bewegte sich dann kurze Zeit später in den Reihen des Freundeskreises Nationaler Politik (FNP) und der Gruppierung Autonome Nationalisten Wuppertal/Mettmann, die Teil der Vernetzungsstruktur des damals in NRW aktiven Aktionsbüros Westdeutschland (AB-West) war. Bei vom AB-West zu jener Zeit des Öfteren durchgeführten Aufmärschen übernahm er zwar Ordnertätigkeiten, schaffte es innerhalb der NRW-Strukturen der „Freien Kameradschaften“ aber nie, eine Führungsrolle einzunehmen.RechtsRockSeit Mitte der 2000er Jahre tritt Karnath als Musiker diverser RechtsRock-Bands in Erscheinung. Ende 2005 gründete er zusammen mit den beiden Brüdern Marco und Tobias C. die Band Dux et Patria. Nach wenigen Veröffentlichungen war Anfang der 2010er Jahre aber von der Band nichts mehr zu vernehmen. In den letzten Jahren trat Karnath unter anderem mit dem Projekt Farben des Krieges in Erscheinung, an dem auch der Dortmunder Matthias Drewer und der frühere Sänger der Band Notwehr, Stefan Strasda aus Velbert, beteiligt waren. Strasda und Karnath kennen einander seit den 1990er Jahren und gehörten beide der Neonazi-Truppe Nationales Forum Niederberg an, die Ende der Neunziger von dem anschließend nach Bayern verzogenen Neonazi Norman Bordin geleitet wurde. Die gemeinsame Arbeit an dem Band-Projekt Farben des Krieges führte letztendlich dazu, dass Strasda und Karnath die Velberter Band Notwehr wiederbelebten. Nach über 20 Jahren veröffentlichte Notwehr 2020 wieder ein Album, und es fanden auch vereinzelt Live-Auftritte statt. „Die wieder gegründete Kult-Kapelle NOTWEHR wollte ihren ersten Auftritt seit 20 Jahren hinlegen! […] Die Zuschauer flippten völlig aus und brüllten sich die Seele aus dem Leib“, heißt es beispielsweise in einem Bericht über ein Konzert am 27. April 2019 in Kirchheim (Thüringen), auf dem neben Notwehr auch Scott and Steve von Fortress, Killuminati sowie Kraftschlag auftraten. Erschienen ist der Konzertbericht in der ersten Ausgabe des Rock Hate-Magazins.Abgrenzung von „Rock Nord“„Wir sind keine Rechtsrock-BRAVO und Hobbynationalisten, so wie damals z.B. das Rock Nord. Dafür ist uns die aktuelle Lage in Deutschland und Westeuropa einfach zu ernst. Aus dem Grund führen wir, neben Interviews mit Kameraden aus dem musikalischen Widerstand, auch Gespräche mit Parteileuten/Funktionären, Straßenaktivisten und unbekannten Politischen Soldaten“: So stellte sich das im Jahr 2021 erstmalig erschienene Rock Hate-Magazin seinen Leser*innen vor. Dass sich das Rock Hate-Magazin von dem bis 2005 erschienenen RechtsRock-Hochglanzmagazin Rock Nord abgrenzt, überrascht nicht, galt dieses vielen in der Szene doch als kommerziell und szenefremd. Bis Ende 2021 wurden drei Ausgaben das Rock Hate-Magazins veröffentlicht. Das Impressum liefert die Küsten-Textil UG im thüringischen Artern. Dahinter verbirgt sich der Neonazi Nils Budig, der mit seiner Firma für eine Reihe von Labeln und Vertrieben verantwortlich zeichnet, die maßgeblich mit dem internationalen Netzwerk der Hammerskin Nation verbunden sind. Eines dieser Labels — Front Records — dient nicht nur Notwehr, sondern auch Karnaths aktueller Band Kriegstreiber sowie einem im Dezember 2021 erschienenen „Rock Hate Sampler“ als Veröffentlichungsstruktur. Für das Layout des Rock Hate-Magazins ist Martin Wegerich (Vlanze Graphics) zuständig. Karnath selber steckt offenbar hinter einem Großteil der namentlich nicht gekennzeichneten Inhalte und Band-Interviews. Darüber hinaus finden sich die üblichen Verdächtigen wie Christian Worch, Dieter Riefling oder Patrick Schröder, die Artikel und Beiträge liefern. In der Erstausgabe des Heftes war neben einem Interview mit Notwehr auch ein Portrait von Karnaths Band Kriegstreiber zu finden — völlig objektiv und uneigennützig natürlich.Lückenschließer?Zwar existieren auch heute noch einige wenige klassische Fanzines der neonazistischen Skinhead-Szene wie das Love of Oi oder das De Kahle Plaat, aber ein „authentisches“ Szenemagazin für den Bereich RechtsRock existierte lange Zeit nicht. Diese Lücke scheint aber nicht nur Karnath mit seinem Heft schließen zu wollen. Ende 2021 sind mit dem Frontmagazin und dem Oldschool Records-Labelheft „Keep Rocking The System“ zwei weitere neue Hochglanzdruckerzeugnisse der RechtsRock-Szene erschienen. Es bleibt abzuwarten, ob Karnath es schafft, ein Magazin für die neonazistische Szene zwischen „Bewegung“ und Musik zu etablieren. Falls nicht, bleibt ihm immer noch der Telegram-Kanal. Geld lässt sich mit diesem aber sicherlich nicht verdienen… Extreme Rechte 7700 Fri, 04 Feb 2022 21:16:47 +0100 LOTTA „Keine Rechtsrock-BRAVO“ Tobias Hoff Unter dem Namen „Rock Hate“ haben sich seit Sommer 2019 verschiedene neonazistische Medienformate herausgebildet. Ob „Telegram“-Kanal und -Chat, Podcast oder Print-Magazin, hier findet sich alles rund um „Musik, Politik und Widerstand“. Hinter dem Projekt verbirgt sich mit Alexander Karnath ein alter Bekannter der nordrhein-westfälischen Neonazi- und RechtsRock-Szene.Im August 2019 ging auf dem Messenger-Dienst Telegram der Kanal Rock Hate online, der heute rund 3.000 Abonnent*innen aufweist. Der Schwerpunkt des Kanals liegt seit Beginn auf dem Bereich Musik und liefert neben Besprechungen und Veranstaltungsankündigungen diverse Neuigkeiten aus der Welt des RechtsRock. Gründe für die Erstellung des Kanals waren nach eigenem Bekunden die „massiven Einschränkungen“ und die „Zensurgewalt“ von anderen Social-Media-Plattformen wie beispielsweise Facebook. Von Beginn an verstanden die Admins des Kanals das Projekt nicht nur als Musik- und Subkultur-Format, sondern explizit auch als überparteiliche Plattform des „Nationalen Widerstands“: „Egal ob Ein Prozent, FSN, AfD, Dritter Weg, Die Rechte, NPD, Pegida, Tommy Frenck, Volkslehrer, oder wer auch immer, — wir reichen allen Patrioten die Hand und wir lassen uns auch nicht vorschreiben mit wem wir zusammenarbeiten und mit wem nicht“, so die Verlautbarung. Recht schnell entwickelte sich neben dem Kanal auch der Chat Rock Hate-Forum auf Telegram, das als Diskussions- und Austauschort dient. Waren es vor rund 15 Jahren Neonazi-Foren wie freier-widerstand.net oder thiazi.net, die auch für den Bereich der neonazistischen Musikwelt eine wichtige Bedeutung hatten, kommen heute diverse Musiker, Labelbetreiber und selbsternannte „Szenegrößen“ mit „Otto-Normal“-RechtsRock-Hörer*innen im Rock Hate-Forum zusammen.Alter BekannterBetreiber der Rock Hate-Formate ist der 45-jährige Alexander Karnath, der früher in Wülfrath lebte, heute aber offenbar in Velbert (beides Kreis Mettmann bei Düsseldorf) lebt und eine lange Geschichte in der extremen Rechten in der Region vorzuweisen hat. Seit etwa Mitte der 1990er Jahre ist er in der lokalen und regionalen Neonazi-Szene aktiv und durchlief hierbei diverse Gruppierungen. Schon um das Jahr 2000 war er einer von 36 Beschuldigten in einem Verfahren gegen den Velberter Siepensturm, gegen die wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt wurde. Um das Jahr 2003 war Karnath „Stützpunktleiter Mettmann“ des Kampfbundes Deutscher Sozialisten (KDS) und bewegte sich dann kurze Zeit später in den Reihen des Freundeskreises Nationaler Politik (FNP) und der Gruppierung Autonome Nationalisten Wuppertal/Mettmann, die Teil der Vernetzungsstruktur des damals in NRW aktiven Aktionsbüros Westdeutschland (AB-West) war. Bei vom AB-West zu jener Zeit des Öfteren durchgeführten Aufmärschen übernahm er zwar Ordnertätigkeiten, schaffte es innerhalb der NRW-Strukturen der „Freien Kameradschaften“ aber nie, eine Führungsrolle einzunehmen.RechtsRockSeit Mitte der 2000er Jahre tritt Karnath als Musiker diverser RechtsRock-Bands in Erscheinung. Ende 2005 gründete er zusammen mit den beiden Brüdern Marco und Tobias C. die Band Dux et Patria. Nach wenigen Veröffentlichungen war Anfang der 2010er Jahre aber von der Band nichts mehr zu vernehmen. In den letzten Jahren trat Karnath unter anderem mit dem Projekt Farben des Krieges in Erscheinung, an dem auch der Dortmunder Matthias Drewer und der frühere Sänger der Band Notwehr, Stefan Strasda aus Velbert, beteiligt waren. Strasda und Karnath kennen einander seit den 1990er Jahren und gehörten beide der Neonazi-Truppe Nationales Forum Niederberg an, die Ende der Neunziger von dem anschließend nach Bayern verzogenen Neonazi Norman Bordin geleitet wurde. Die gemeinsame Arbeit an dem Band-Projekt Farben des Krieges führte letztendlich dazu, dass Strasda und Karnath die Velberter Band Notwehr wiederbelebten. Nach über 20 Jahren veröffentlichte Notwehr 2020 wieder ein Album, und es fanden auch vereinzelt Live-Auftritte statt. „Die wieder gegründete Kult-Kapelle NOTWEHR wollte ihren ersten Auftritt seit 20 Jahren hinlegen! […] Die Zuschauer flippten völlig aus und brüllten sich die Seele aus dem Leib“, heißt es beispielsweise in einem Bericht über ein Konzert am 27. April 2019 in Kirchheim (Thüringen), auf dem neben Notwehr auch Scott and Steve von Fortress, Killuminati sowie Kraftschlag auftraten. Erschienen ist der Konzertbericht in der ersten Ausgabe des Rock Hate-Magazins.Abgrenzung von „Rock Nord“„Wir sind keine Rechtsrock-BRAVO und Hobbynationalisten, so wie damals z.B. das Rock Nord. Dafür ist uns die aktuelle Lage in Deutschland und Westeuropa einfach zu ernst. Aus dem Grund führen wir, neben Interviews mit Kameraden aus dem musikalischen Widerstand, auch Gespräche mit Parteileuten/Funktionären, Straßenaktivisten und unbekannten Politischen Soldaten“: So stellte sich das im Jahr 2021 erstmalig erschienene Rock Hate-Magazin seinen Leser*innen vor. Dass sich das Rock Hate-Magazin von dem bis 2005 erschienenen RechtsRock-Hochglanzmagazin Rock Nord abgrenzt, überrascht nicht, galt dieses vielen in der Szene doch als kommerziell und szenefremd. Bis Ende 2021 wurden drei Ausgaben das Rock Hate-Magazins veröffentlicht. Das Impressum liefert die Küsten-Textil UG im thüringischen Artern. Dahinter verbirgt sich der Neonazi Nils Budig, der mit seiner Firma für eine Reihe von Labeln und Vertrieben verantwortlich zeichnet, die maßgeblich mit dem internationalen Netzwerk der Hammerskin Nation verbunden sind. Eines dieser Labels — Front Records — dient nicht nur Notwehr, sondern auch Karnaths aktueller Band Kriegstreiber sowie einem im Dezember 2021 erschienenen „Rock Hate Sampler“ als Veröffentlichungsstruktur. Für das Layout des Rock Hate-Magazins ist Martin Wegerich (Vlanze Graphics) zuständig. Karnath selber steckt offenbar hinter einem Großteil der namentlich nicht gekennzeichneten Inhalte und Band-Interviews. Darüber hinaus finden sich die üblichen Verdächtigen wie Christian Worch, Dieter Riefling oder Patrick Schröder, die Artikel und Beiträge liefern. In der Erstausgabe des Heftes war neben einem Interview mit Notwehr auch ein Portrait von Karnaths Band Kriegstreiber zu finden — völlig objektiv und uneigennützig natürlich.Lückenschließer?Zwar existieren auch heute noch einige wenige klassische Fanzines der neonazistischen Skinhead-Szene wie das Love of Oi oder das De Kahle Plaat, aber ein „authentisches“ Szenemagazin für den Bereich RechtsRock existierte lange Zeit nicht. Diese Lücke scheint aber nicht nur Karnath mit seinem Heft schließen zu wollen. Ende 2021 sind mit dem Frontmagazin und dem Oldschool Records-Labelheft „Keep Rocking The System“ zwei weitere neue Hochglanzdruckerzeugnisse der RechtsRock-Szene erschienen. Es bleibt abzuwarten, ob Karnath es schafft, ein Magazin für die neonazistische Szene zwischen „Bewegung“ und Musik zu etablieren. Falls nicht, bleibt ihm immer noch der Telegram-Kanal. Geld lässt sich mit diesem aber sicherlich nicht verdienen… 2022-02-04T21:16:47+01:00 Alternder Welterklärer | Der umtriebige Neonazi Günther Kümel https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/85/alternder-welterkl-rer Bei „Recht und Wahrheit“-Lesertreffen, der Partei „Der III. Weg“ und rechten Studentenverbindungen tritt er auf: Günther Kümel, der 1965 den österreichischen Antifaschisten Ernst Kirchweger erschlug, lebt seit mehreren Jahrzehnten unbehelligt im Rhein-Main-Gebiet. Noch in den 2000er Jahren war er an der Frankfurter Universität tätig, seit einigen Jahren veröffentlicht er immer häufiger in diversen Neonazi-Zeitungen.Anfang der 1960er Jahre in Wien: Österreichische Deutschnationale propagieren die Solidarität mit dem vermeintlichen „Freiheitskampf“ in Südtirol. Eine Gruppe Werwolf begeht im Jahr 1961 gar mehrere Sprengstoff- und Schussattentate. Unter ihnen sind Alt- und Neonazis, die noch danach jahrzehntelang in Österreich aktiv waren: etwa der Holocaustleugner Gerd Honsik oder der Neonazi Norbert Burger, beide inzwischen verstorben. An einer Reihe von Anschlägen, unter anderem ein Brandbombenanschlag auf die italienische Botschaft in Wien im Mai 1961, beteiligt sich auch ein junger Jurastudent. Sein Name: Günther Kümel. Ein Jahr später wird er wegen „Übertretung des Waffengesetzes“ zu zehn Monaten Arrest verurteilt, allerdings schon nach fünf Monaten entlassen.Kümel, Jahrgang 1941, repräsentiert dabei eine neue, jüngere Generation der extremen Rechten. Er ist in dieser Zeit Mitglied der FPÖ-Studierendenorganisation Ring Freiheitlicher Studenten (RFS) und der Wiener Burschenschaft Olympia. Im Jahr 1965 eskaliert die Auseinandersetzung um den antisemitischen, mit der NSDAP weiterhin sympathisierenden Wiener Universitätsprofessor Taras Borodajkewycz in Straßenschlachten. Kümel erschlägt dabei den 67-jährigen Ernst Kirchweger, der in der NS-Zeit als KPÖ-Mitglied im antifaschistischen Widerstand aktiv gewesen war. Da das Gericht darin aber keinen Totschlag, sondern nur eine „putative Notwehrübertretung“ sieht, muss Kümel lediglich fünf Monate in „strengem Arrest“ absitzen. Im Februar 1966 kommt er frei. Sein Studium, bei dem er zwischenzeitlich das Fach zu Chemie gewechselt hatte, setzt er in Innsbruck fort und arbeitet anschließend als Virologe in Deutschland.Vielschreiber und VielrednerHeute wohnt Kümel, der sich inzwischen Gunther und nicht mehr Günther nennt, in Waldems im Hintertaunus. Er selbst gibt an, in Würzburg als Virologe gearbeitet zu haben. In den späten 1970er Jahren ist er an der Universitätsklinik des Saarlandes in Homburg beschäftigt. In den 1980er Jahren wechselt er an das Frankfurter Uni-Klinikum, seine Mitarbeiter-Mailadresse der Universität befindet sich noch 2004 im elektronischen Adressbuch von Horst Mahler. Zudem tritt er seit den späten 1980er Jahren regelmäßig als Verfasser von Leserbriefen in Erscheinung. Zu Beginn der 2000er Jahre ist er häufiger Autor in der Leserbriefspalte der Jungen Freiheit, unterzeichnet Offene Briefe und Appelle aus dem Spektrum der extremen Rechten und kommentiert später auch eifrig auf diversen Internet-Blogs.In den letzten Jahren scheint sich Kümels publizistische Tätigkeit zu intensiveren. Die Gründe hierfür bleiben unklar: möglich, dass Kümel, der inzwischen im Ruhestand ist, nun über die nötige Zeit verfügt. Zu prüfen wäre indes, ob er auch in seiner Zeit als Angestellter des Landes Hessen bereits unter Pseudonym aktiv war. Seit 2019 erschienen mehrere Texte von Kümel in Recht & Wahrheit sowie in Volk in Bewegung und er trat in unterschiedlichen Spektren der extremen Rechten auf. Im September 2020 referierte er beim hessischen Ableger der Partei Der III. Weg, auch auf Recht & Wahrheit-Lesertreffen und bei mindestens einer Studentenverbindung war Kümel in den letzten Jahren zu Gast. Dabei referiert er über die verschiedensten Themen: Mal spricht er nach Art eines „Zeitzeugenvortrags“ über seine Zeit im österreichischen Neonazismus, mal über die Kriegsschuld des Ersten oder auch des Zweiten Weltkriegs, über die politische Linke, über Migrationsthemen oder die Rolle des Christentums in der abendländischen Philosophie.Kümels Selbstinszenierung als Universalgelehrter mag auch darin begründet sein, dass der Pensionär keine negativen beruflichen Folgen mehr zu fürchten hat. Nun kann er, offenbar unterbeschäftigt, seinen geschichtsrevisionistischen Thesen freien Lauf lassen — und das vermutlich ermöglicht durch staatliche Pensionsleistungen. Sein wichtigtuerischer Schreibstil, dem ein Hang zu Pseudo-Ironie innewohnt, offenbart, dass Kümel sich selbst für einen großen Literaten hält und sichtlich in die eigene, vermeintlich spitze Feder verliebt ist. Dabei schreibt er nicht nur eigene Meinungsbeiträge zu allen möglichen Themen, sondern fühlt sich wie selbstverständlich dazu berufen, andere Beiträge durch Leserbriefe und ähnliches zu kommentieren. In freudiger Erwartung etwaiger Korrespondenz gibt er dort oft seine Mail-Adresse oder postalische Anschrift an. Offenbar benutzt Kümel auch Pseudonyme. So meldet sich in der Internet-Kommentarspalte des Compact-Magazins häufig ein „Peter Fassbender“ zu Wort, der als Kontakt Kümels private E-Mail-Adresse nennt.Der Virologe und die PandemieIn seinen Artikeln schimpft Kümel über die vermeintlich großen Probleme der Gegenwart, worunter für ihn unter anderem „Genderismus“, „Klimahysterie“, der Rechercheverbund Correctiv und das „Revoluzzer-Netzwerk“ Extinction Rebellion fallen. Hinter all dem vermutet Kümel in antisemitischer Manier den US-amerikanischen Investor George Soros. Auffällig ist, dass sich Kümel, obwohl er selbst promovierter Virologe ist, kaum zur COVID-19-Pandemie äußert. In den Chor der verschwörungsideologischen Rechten, die die Pandemie oder die Wirksamkeit von Impfungen leugnen, stimmt er nicht mit ein, schimpft im Frühjahr 2020 sogar darüber, dass die BRD so schlecht gegen die Pandemie gewappnet sei und bietet selbstgemischtes Desinfektionsmittel in Internet-Kommentaren an. Danach äußert er sich nicht mehr zur Pandemie-Politik, grenzt sich aber auch nicht zu jenen Spektren der Rechten ab, die den Schulterschluss mit „Querdenken“-Demos propagieren. Es gibt bislang keine Informationen darüber, dass Kümel auf entsprechenden Veranstaltungen aufgetreten wäre und seine virologische Expertise zur Verfügung gestellt hätte.Inszeniertes GelehrtendaseinIn anderen gesellschaftlichen Milieus würde jemand, der zu allem etwas zu sagen hat und sich selbst als Gelehrter wähnt, wohl als neunmalkluger Schwätzer gelten. Kümel dagegen treibt seine Selbstinszenierung offensiv voran und trifft in seinem Publikum auf große Autoritätsgläubigkeit. Seine Geschichte als militanter Neonazi, der einen Antifaschisten erschlug, verleiht ihm Ansehen und Authentizität. Seine radikalisierende Wirkung auf ein junges rechtes Publikum ist deswegen nicht zu unterschätzen. Seine politische Haltung hält Günther Kümel auch in seiner Nachbarschaft nicht zurück, vor seinem Haus parkt ein PKW mit Aufklebern der Identitären Bewegung, auf denen groß der Schriftzug „Remigration“ prangt. Konsequenzen musste er in den vergangenen Jahrzehnten wohl nicht erleben. Extreme Rechte 7701 Fri, 04 Feb 2022 21:16:47 +0100 LOTTA Alternder Welterklärer Jacob Weyrauch Bei „Recht und Wahrheit“-Lesertreffen, der Partei „Der III. Weg“ und rechten Studentenverbindungen tritt er auf: Günther Kümel, der 1965 den österreichischen Antifaschisten Ernst Kirchweger erschlug, lebt seit mehreren Jahrzehnten unbehelligt im Rhein-Main-Gebiet. Noch in den 2000er Jahren war er an der Frankfurter Universität tätig, seit einigen Jahren veröffentlicht er immer häufiger in diversen Neonazi-Zeitungen.Anfang der 1960er Jahre in Wien: Österreichische Deutschnationale propagieren die Solidarität mit dem vermeintlichen „Freiheitskampf“ in Südtirol. Eine Gruppe Werwolf begeht im Jahr 1961 gar mehrere Sprengstoff- und Schussattentate. Unter ihnen sind Alt- und Neonazis, die noch danach jahrzehntelang in Österreich aktiv waren: etwa der Holocaustleugner Gerd Honsik oder der Neonazi Norbert Burger, beide inzwischen verstorben. An einer Reihe von Anschlägen, unter anderem ein Brandbombenanschlag auf die italienische Botschaft in Wien im Mai 1961, beteiligt sich auch ein junger Jurastudent. Sein Name: Günther Kümel. Ein Jahr später wird er wegen „Übertretung des Waffengesetzes“ zu zehn Monaten Arrest verurteilt, allerdings schon nach fünf Monaten entlassen.Kümel, Jahrgang 1941, repräsentiert dabei eine neue, jüngere Generation der extremen Rechten. Er ist in dieser Zeit Mitglied der FPÖ-Studierendenorganisation Ring Freiheitlicher Studenten (RFS) und der Wiener Burschenschaft Olympia. Im Jahr 1965 eskaliert die Auseinandersetzung um den antisemitischen, mit der NSDAP weiterhin sympathisierenden Wiener Universitätsprofessor Taras Borodajkewycz in Straßenschlachten. Kümel erschlägt dabei den 67-jährigen Ernst Kirchweger, der in der NS-Zeit als KPÖ-Mitglied im antifaschistischen Widerstand aktiv gewesen war. Da das Gericht darin aber keinen Totschlag, sondern nur eine „putative Notwehrübertretung“ sieht, muss Kümel lediglich fünf Monate in „strengem Arrest“ absitzen. Im Februar 1966 kommt er frei. Sein Studium, bei dem er zwischenzeitlich das Fach zu Chemie gewechselt hatte, setzt er in Innsbruck fort und arbeitet anschließend als Virologe in Deutschland.Vielschreiber und VielrednerHeute wohnt Kümel, der sich inzwischen Gunther und nicht mehr Günther nennt, in Waldems im Hintertaunus. Er selbst gibt an, in Würzburg als Virologe gearbeitet zu haben. In den späten 1970er Jahren ist er an der Universitätsklinik des Saarlandes in Homburg beschäftigt. In den 1980er Jahren wechselt er an das Frankfurter Uni-Klinikum, seine Mitarbeiter-Mailadresse der Universität befindet sich noch 2004 im elektronischen Adressbuch von Horst Mahler. Zudem tritt er seit den späten 1980er Jahren regelmäßig als Verfasser von Leserbriefen in Erscheinung. Zu Beginn der 2000er Jahre ist er häufiger Autor in der Leserbriefspalte der Jungen Freiheit, unterzeichnet Offene Briefe und Appelle aus dem Spektrum der extremen Rechten und kommentiert später auch eifrig auf diversen Internet-Blogs.In den letzten Jahren scheint sich Kümels publizistische Tätigkeit zu intensiveren. Die Gründe hierfür bleiben unklar: möglich, dass Kümel, der inzwischen im Ruhestand ist, nun über die nötige Zeit verfügt. Zu prüfen wäre indes, ob er auch in seiner Zeit als Angestellter des Landes Hessen bereits unter Pseudonym aktiv war. Seit 2019 erschienen mehrere Texte von Kümel in Recht & Wahrheit sowie in Volk in Bewegung und er trat in unterschiedlichen Spektren der extremen Rechten auf. Im September 2020 referierte er beim hessischen Ableger der Partei Der III. Weg, auch auf Recht & Wahrheit-Lesertreffen und bei mindestens einer Studentenverbindung war Kümel in den letzten Jahren zu Gast. Dabei referiert er über die verschiedensten Themen: Mal spricht er nach Art eines „Zeitzeugenvortrags“ über seine Zeit im österreichischen Neonazismus, mal über die Kriegsschuld des Ersten oder auch des Zweiten Weltkriegs, über die politische Linke, über Migrationsthemen oder die Rolle des Christentums in der abendländischen Philosophie.Kümels Selbstinszenierung als Universalgelehrter mag auch darin begründet sein, dass der Pensionär keine negativen beruflichen Folgen mehr zu fürchten hat. Nun kann er, offenbar unterbeschäftigt, seinen geschichtsrevisionistischen Thesen freien Lauf lassen — und das vermutlich ermöglicht durch staatliche Pensionsleistungen. Sein wichtigtuerischer Schreibstil, dem ein Hang zu Pseudo-Ironie innewohnt, offenbart, dass Kümel sich selbst für einen großen Literaten hält und sichtlich in die eigene, vermeintlich spitze Feder verliebt ist. Dabei schreibt er nicht nur eigene Meinungsbeiträge zu allen möglichen Themen, sondern fühlt sich wie selbstverständlich dazu berufen, andere Beiträge durch Leserbriefe und ähnliches zu kommentieren. In freudiger Erwartung etwaiger Korrespondenz gibt er dort oft seine Mail-Adresse oder postalische Anschrift an. Offenbar benutzt Kümel auch Pseudonyme. So meldet sich in der Internet-Kommentarspalte des Compact-Magazins häufig ein „Peter Fassbender“ zu Wort, der als Kontakt Kümels private E-Mail-Adresse nennt.Der Virologe und die PandemieIn seinen Artikeln schimpft Kümel über die vermeintlich großen Probleme der Gegenwart, worunter für ihn unter anderem „Genderismus“, „Klimahysterie“, der Rechercheverbund Correctiv und das „Revoluzzer-Netzwerk“ Extinction Rebellion fallen. Hinter all dem vermutet Kümel in antisemitischer Manier den US-amerikanischen Investor George Soros. Auffällig ist, dass sich Kümel, obwohl er selbst promovierter Virologe ist, kaum zur COVID-19-Pandemie äußert. In den Chor der verschwörungsideologischen Rechten, die die Pandemie oder die Wirksamkeit von Impfungen leugnen, stimmt er nicht mit ein, schimpft im Frühjahr 2020 sogar darüber, dass die BRD so schlecht gegen die Pandemie gewappnet sei und bietet selbstgemischtes Desinfektionsmittel in Internet-Kommentaren an. Danach äußert er sich nicht mehr zur Pandemie-Politik, grenzt sich aber auch nicht zu jenen Spektren der Rechten ab, die den Schulterschluss mit „Querdenken“-Demos propagieren. Es gibt bislang keine Informationen darüber, dass Kümel auf entsprechenden Veranstaltungen aufgetreten wäre und seine virologische Expertise zur Verfügung gestellt hätte.Inszeniertes GelehrtendaseinIn anderen gesellschaftlichen Milieus würde jemand, der zu allem etwas zu sagen hat und sich selbst als Gelehrter wähnt, wohl als neunmalkluger Schwätzer gelten. Kümel dagegen treibt seine Selbstinszenierung offensiv voran und trifft in seinem Publikum auf große Autoritätsgläubigkeit. Seine Geschichte als militanter Neonazi, der einen Antifaschisten erschlug, verleiht ihm Ansehen und Authentizität. Seine radikalisierende Wirkung auf ein junges rechtes Publikum ist deswegen nicht zu unterschätzen. Seine politische Haltung hält Günther Kümel auch in seiner Nachbarschaft nicht zurück, vor seinem Haus parkt ein PKW mit Aufklebern der Identitären Bewegung, auf denen groß der Schriftzug „Remigration“ prangt. Konsequenzen musste er in den vergangenen Jahrzehnten wohl nicht erleben. 2022-02-04T21:16:47+01:00 RechtsRock, Drogenhandel, Geldwäsche | Das kriminelle Netzwerk der Thüringer „Turonen“ https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/85/rechtsrock-drogenhandel-geldw-sche Am 26. Februar 2021 ging die Polizei mit Razzien in Thüringen, Hessen und Nordrhein-Westfalen gegen einen Kreis von Neonazis vor, die einen schwungvollen Handel mit Drogen betrieben haben sollen. Gegen knapp 20 Personen wird ermittelt, acht von ihnen sitzen in Untersuchungshaft, darunter der Aachener Neonazi Timm Malcoci und der „Szeneanwalt“ Dirk Waldschmidt aus Hessen.Die Polizei wirft den Beschuldigten vor, in 48 Fällen größere Mengen illegalisierte Drogen beschafft und verkauft zu haben. Bei den Razzien im Februar wurden unter anderem ein Kilogramm Kokain und Crystal Meth sowie 120.000 Euro Bargeld sichergestellt. Der Kopf der Gruppe soll der 46-jährige Thomas Wagner aus Ballstädt bei Gotha gewesen sein. Um ihn besteht seit vielen Jahren eine neonazistische Struktur, die im sogenannten Rotlicht-Milieu im Osten und Süden von Thüringen aktiv ist. Deren Kern tritt seit 2015 im Stil einer Rockergruppe unter dem Namen Turonen auf. Gegen Mitglieder der Turonen gibt es seit 20 Jahren immer wieder Ermittlungsverfahren und Verurteilungen wegen Körperverletzungen, der Produktion volksverhetzender Musik, Verstößen gegen das Waffengesetz und vieles mehr.Die Turonen sind der Thüringer Ableger des internationalen Combat 18-Netzwerks und spielen eine gewichtige Rolle im RechtsRock-Business. Sie beteiligen sich an der Organisation von Neonazi-Konzerten bis hin in die Schweiz, um sie herum besteht ein Netzwerk von RechtsRock-Bands mit Namen wie Erschießungskommando oder N.A.Z.I., die in ihren Texten die Ermordung politischer Gegner*innen propagieren. Die Politik vor Ort saß das Problem jahrelang aus, Polizei und Justiz blieben oft untätig oder erwiesen sich als zahnlos. So festigte sich eine neonazistische Struktur, die sich zunehmend für unangreifbar hielt. Turonen kauften Immobilien, richteten dort Räume für Konzerte und Kampfsport-Trainings ein, sie betreiben ein Bordell und leisten sich einen Fuhrpark mit Stretch-Limousine.Bundesweit Bekanntheit erlangte die Gruppe um Wagner durch den Überfall am 9. Februar 2014 auf eine Kirmesgesellschaft, die in einem Kulturhaus in Ballstädt feierte. Ein Dutzend Neonazis stürmte in den Raum, zertrümmerte die Einrichtung und verletzte mehrere Personen schwer. Nach einem Prozessmarathon, der im Juli 2021 endete, wurden neun Neonazis zu Bewährungs- und Geldstrafen verurteilt. Kein einziger der zum Teil einschlägig vorbestraften Angreifer muss wegen dieses brutalen Überfalls in Haft.Ein Drogenlieferant aus AachenDas Kokain wurde laut den Ermittlungen im Raum Aachen besorgt und von Kurieren nach Thüringen gebracht. Dem 38-jährigen Aachener Timm Malcoci wirft die Polizei vor, Lieferungen organisiert zu haben, zum Beispiel am 19. Februar 2020, als ein Kurier mit einem Kilo Kokaingemisch im Auto auf der Rückfahrt nach Thüringen in eine Polizeikontrolle geriet, bei der man die Drogen fand. Malcoci war einer der Anführer der neonazistischen Kameradschaft Aachener Land (KAL) gewesen. Nach dem Verbot der KAL im Jahr 2012 versuchte er sich unter anderem als neonazistischer Rap-Musiker unter den Namen Nordic Walker und Timm Diesel. Im Duo mit Julian Fritsch (aka Makss Damage) trat er am 15. Oktober 2016 nahe St. Gallen in der Schweiz auf. Die beiden Rapper und vier RechtsRock-Bands spielten an diesem Abend vor über 5.000 Neonazis. Organisiert hatte das Konzert das Combat 18-Netzwerk, Turonen hatten sich um den Kartenvorverkauf gekümmert und stellten an diesem Abend den Sicherheitsdienst. Ein Teil der Eintrittsgelder (insgesamt etwa 150.000 Euro) diente der Unterstützung der Angeklagten im Ballstädt-Prozess.Schon in der Vergangenheit ist Malcoci im Zusammenhang mit organisiertem Drogenhandel in den Fokus der Ermittlungsbehörden geraten (vgl. LOTTA #70, S. 30). Seit 2014 hatte die Polizei gegen ihn und weitere Aachener Neonazis ermittelt, die über das Darknet Drogen, hauptsächlich Amphetamine und andere synthetische Drogen, verkauften. Am 31. Mai 2017 wurde die Bande verhaftet. Im Prozess offenbarten sich schwere Ermittlungsfehler der Polizei und der Staatsanwaltschaft. So kam Malcoci im März 2019 mit einer milden Strafe von zwei Jahren und vier Monaten Haft davon. Er legte gegen das Urteil Revision ein und blieb auf freiem Fuß . Spätestens im Februar 2020 begannen dann nach polizeilichen Erkenntnissen die Drogen-Kurierfahrten von Aachen nach Thüringen. Offensichtlich ist, dass weitere Personen aus dem Aachener Umfeld von Malcoci als Drogenkuriere eingesetzt wurden. Wer diese waren, darauf gibt möglicherweise der bevorstehende Prozess Auskunft.Ein Geldwäscher aus HessenIn Untersuchungshaft sitzt auch Dirk Waldschmidt aus Schöffengrund im hessischen Lahn-Dill-Kreis. Der 56-jährige Rechtsanwalt soll ab Ende 2019 in der Gruppe wichtige Funktionen ausgefüllt haben. So sei es laut den Ermittler*innen Aufgabe des Anwalts gewesen, inhaftierte Gruppenmitglieder juristisch zu vertreten um den Informationsaustausch mit diesen aufrecht zu halten. Zudem soll Waldschmidt einen erheblichen Teil der Drogengelder gewaschen haben. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin Sonja L. führte er eine „Unternehmens- und Projektberatungsgesellschaft“, bei der im Oktober 2019 Andre K. aus Bad Langensalza als „Facility Manager“ angestellt wurde. Andre K. ist ein Vertrauter von Thomas Wagner. Er war schon am Ballstädt-Überfall beteiligt und soll für den Drogenring Kurierfahrten unternommen haben. Ab 2020 erhielt auch Sina T. ein monatliches Gehalt. Sie ist die Lebensgefährtin von Wagner und sitzt ebenfalls in U-Haft. Im August 2020 wurde schließlich Timm Malcoci in Waldschmidts Unternehmen angestellt. Die Polizei konnte nicht feststellen, dass einer der Angestellten irgendeine Arbeit für die Firma leistete.Im Januar 2020 erwarb Waldschmidt ein Grundstück am Stadtrand von Gotha. Dabei soll er als Strohmann von Thomas Wagner fungiert haben, der auf dem Gelände ein weiteres Bordell errichten wollte. Der Anwalt aus Hessen trat dabei als Bevollmächtigter einer Immobilien- und Vermögensverwaltung GmbH auf, die erst im September 2019 gegründet worden war und für die Sonja L. als Geschäftsführerin eingetragen war.Auch bei einem Fall von Erpressung soll Waldschmidt im Auftrag von Wagner gehandelt haben. So wird Wagner vorgeworfen, im Herbst 2020 von einem ehemaligen Partner in Drogengeschäften 70.000 Euro gefordert zu haben. Dieser jedoch konnte nichts geben, da er schwer drogenabhängig war und deswegen seine Mutter sein Geld verwaltete. Nun wandte sich Waldschmidt an die Mutter und forderte in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt von ihr 35.000 Euro für eine anwaltliche Vertretung und für Darlehen, die er ihrem Sohn habe zukommen lassen. Auch täuschte ihr Waldschmidt vor, dass sie sich bei Nichtzahlung der Beihilfe zum Betrug schuldig mache. Alles war frei erfunden, doch die eingeschüchterte Frau zahlte das Geld.Der Szeneanwalt als SpäteinsteigerDirk Waldschmidt tauchte Mitte der 2000er Jahre als knapp 40-Jähriger erstmals in der Neonazi-Szene auf. Er sei „ein komischer Typ“ gewesen, erinnert sich ein ausgestiegener Ex-Neonazi: „Der kam aus der Bodybuilding-Szene und hatte zuvor eher mit Rockern zu tun gehabt.“ 2005 trat Waldschmidt in die NPD ein und von 2006 bis 2008 war er stellvertretender Landesvorsitzender der Partei in Hessen. Sein fachlicher Ruf als Rechtsanwalt war nie gut, doch er gab sich der Szene kumpelhaft und vertrat Neonazis in juristischen Angelegenheiten für vergleichsweise kleines Geld. Seine Kontakte zu den Turonen bestanden spätestens seit 2015, als er im ersten Ballstädt-Prozess einen der Angeklagten verteidigte.Zuletzt geriet Waldschmidt 2020 als Anwalt von Stephan Ernst, dem Mörder von Walter Lübcke, in die Schlagzeilen. Ernst hatte unter anderem angegeben, er sei von Waldschmidt zu einem falschen Geständnis bewegt worden. So habe der ihm zugesagt, dass seine Familie finanzielle Unterstützung aus der Szene erhalten würde, sollte er die alleinige Schuld für den Mord auf sich nehmen. Waldschmidt bestreitet diese Darstellung.Alimente für den NSU-HelferNeben den Firmen, die er mit Sonja L. führte, betrieb Dirk Waldschmidt seine Rechtsanwaltskanzlei in Schöffengrund. Über das Geschäftskonto der Kanzlei wurde seit Juni 2020 ein monatliches Gehalt an Ralf Wohlleben gezahlt. Der war im 2018 als Unterstützer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Er hatte unter anderem die Ceska-Pistole beschafft, mit dem der NSU seine rassistische Mordserie begangen hatte. Da er bereits sechs Jahre und acht Monate in Haft gesessen hatte, war der Haftbefehl gegen ihn nach dem Urteil aufgehoben worden. Seit vielen Jahren ist ein freundschaftliches Verhältnis von Wohlleben zu den Turonen zu erkennen. Zwischen 2014 und 2017 hatten (spätere) Turonen mehrere Konzerte organisiert, deren Erlöse unter anderem der Unterstützung von Wohlleben im NSU-Prozess dienten. Der Thüringer Neonazi Steffen Richter, heute ein exponiertes Mitglied der Turonen, soll im August 2012 dem in der JVA Tonna (Thüringen) inhaftierten Wohlleben ein Kassiber zukommen lassen haben, was dazu führte, dass dieser aus Sicherheitsgründen in die Haftanstalt nach München verlegt wurde. Die „Gehaltszahlungen“ der Kanzlei Waldschmidt an Wohlleben werden von den Ermittler*innen zum Komplex der Geldwäsche des Drogenrings gezählt.Es gibt keine Hinweise darauf, dass Wohlleben an Straftaten der Bande beteiligt war, möglicherweise wurde er von den Turonen aus reiner Freundschaft und politischer Verbundenheit unterstützt. Dennoch könnte er nun in die Bredouille geraten. Er hat beantragt, dass die restliche Haftstrafe aus dem Urteil im NSU-Prozess, immerhin noch mehr als drei Jahre, zur Bewährung ausgesetzt wird. Doch bei der Entscheidung darüber sind laut Strafgesetzbuch unter anderem seine „Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für sie zu erwarten sind“. Sollte sich bestätigen, dass er durch Gelder alimentiert wurde, die eine durch und durch kriminelle Neonazi-Bande durch Drogenhandel und Erpressung beschafft hatte, dann würde dies ein sehr schlechtes Licht auf die „Lebensverhältnisse“ des NSU-Helfers werfen.(Zu) Sicher gefühltDie „Legalisierung“ von Geldern über Scheinarbeitsverhältnisse und Immobilienkäufe ist ein in der sogenannten „organisierten Kriminalität“ geläufiges System der Geldwäsche. Doch ist verwunderlich, wie fantasielos die Beteiligten hier vorgingen. Zwar nutzten sie zum Teil verschlüsselte Kommunikationswege, doch fanden die Übergaben der Gelder und der Drogen in den eigenen „Clubräumen“ oder Privatwohnungen statt, die von der Polizei observiert wurden. Dass sich ein kleines Unternehmen in Hessen, das kaum eine Geschäftstätigkeit vorweisen kann, vier Angestellte in anderen Bundesländern leistet, ist enorm auffällig. Es zeigt, wie dreist die Neonazis vorgingen, wie sicher sie sich fühlten. Sollten sich die Vorwürfe im bevorstehenden Prozess erhärten, dann müssen die Angeklagten mit mehrjährigen Haftstrafen rechnen. Und Szeneanwalt Waldschmidt wird sich einen neuen Beruf suchen müssen. Extreme Rechte 7702 Fri, 04 Feb 2022 21:16:47 +0100 LOTTA RechtsRock, Drogenhandel, Geldwäsche Simon Tolvaj Am 26. Februar 2021 ging die Polizei mit Razzien in Thüringen, Hessen und Nordrhein-Westfalen gegen einen Kreis von Neonazis vor, die einen schwungvollen Handel mit Drogen betrieben haben sollen. Gegen knapp 20 Personen wird ermittelt, acht von ihnen sitzen in Untersuchungshaft, darunter der Aachener Neonazi Timm Malcoci und der „Szeneanwalt“ Dirk Waldschmidt aus Hessen.Die Polizei wirft den Beschuldigten vor, in 48 Fällen größere Mengen illegalisierte Drogen beschafft und verkauft zu haben. Bei den Razzien im Februar wurden unter anderem ein Kilogramm Kokain und Crystal Meth sowie 120.000 Euro Bargeld sichergestellt. Der Kopf der Gruppe soll der 46-jährige Thomas Wagner aus Ballstädt bei Gotha gewesen sein. Um ihn besteht seit vielen Jahren eine neonazistische Struktur, die im sogenannten Rotlicht-Milieu im Osten und Süden von Thüringen aktiv ist. Deren Kern tritt seit 2015 im Stil einer Rockergruppe unter dem Namen Turonen auf. Gegen Mitglieder der Turonen gibt es seit 20 Jahren immer wieder Ermittlungsverfahren und Verurteilungen wegen Körperverletzungen, der Produktion volksverhetzender Musik, Verstößen gegen das Waffengesetz und vieles mehr.Die Turonen sind der Thüringer Ableger des internationalen Combat 18-Netzwerks und spielen eine gewichtige Rolle im RechtsRock-Business. Sie beteiligen sich an der Organisation von Neonazi-Konzerten bis hin in die Schweiz, um sie herum besteht ein Netzwerk von RechtsRock-Bands mit Namen wie Erschießungskommando oder N.A.Z.I., die in ihren Texten die Ermordung politischer Gegner*innen propagieren. Die Politik vor Ort saß das Problem jahrelang aus, Polizei und Justiz blieben oft untätig oder erwiesen sich als zahnlos. So festigte sich eine neonazistische Struktur, die sich zunehmend für unangreifbar hielt. Turonen kauften Immobilien, richteten dort Räume für Konzerte und Kampfsport-Trainings ein, sie betreiben ein Bordell und leisten sich einen Fuhrpark mit Stretch-Limousine.Bundesweit Bekanntheit erlangte die Gruppe um Wagner durch den Überfall am 9. Februar 2014 auf eine Kirmesgesellschaft, die in einem Kulturhaus in Ballstädt feierte. Ein Dutzend Neonazis stürmte in den Raum, zertrümmerte die Einrichtung und verletzte mehrere Personen schwer. Nach einem Prozessmarathon, der im Juli 2021 endete, wurden neun Neonazis zu Bewährungs- und Geldstrafen verurteilt. Kein einziger der zum Teil einschlägig vorbestraften Angreifer muss wegen dieses brutalen Überfalls in Haft.Ein Drogenlieferant aus AachenDas Kokain wurde laut den Ermittlungen im Raum Aachen besorgt und von Kurieren nach Thüringen gebracht. Dem 38-jährigen Aachener Timm Malcoci wirft die Polizei vor, Lieferungen organisiert zu haben, zum Beispiel am 19. Februar 2020, als ein Kurier mit einem Kilo Kokaingemisch im Auto auf der Rückfahrt nach Thüringen in eine Polizeikontrolle geriet, bei der man die Drogen fand. Malcoci war einer der Anführer der neonazistischen Kameradschaft Aachener Land (KAL) gewesen. Nach dem Verbot der KAL im Jahr 2012 versuchte er sich unter anderem als neonazistischer Rap-Musiker unter den Namen Nordic Walker und Timm Diesel. Im Duo mit Julian Fritsch (aka Makss Damage) trat er am 15. Oktober 2016 nahe St. Gallen in der Schweiz auf. Die beiden Rapper und vier RechtsRock-Bands spielten an diesem Abend vor über 5.000 Neonazis. Organisiert hatte das Konzert das Combat 18-Netzwerk, Turonen hatten sich um den Kartenvorverkauf gekümmert und stellten an diesem Abend den Sicherheitsdienst. Ein Teil der Eintrittsgelder (insgesamt etwa 150.000 Euro) diente der Unterstützung der Angeklagten im Ballstädt-Prozess.Schon in der Vergangenheit ist Malcoci im Zusammenhang mit organisiertem Drogenhandel in den Fokus der Ermittlungsbehörden geraten (vgl. LOTTA #70, S. 30). Seit 2014 hatte die Polizei gegen ihn und weitere Aachener Neonazis ermittelt, die über das Darknet Drogen, hauptsächlich Amphetamine und andere synthetische Drogen, verkauften. Am 31. Mai 2017 wurde die Bande verhaftet. Im Prozess offenbarten sich schwere Ermittlungsfehler der Polizei und der Staatsanwaltschaft. So kam Malcoci im März 2019 mit einer milden Strafe von zwei Jahren und vier Monaten Haft davon. Er legte gegen das Urteil Revision ein und blieb auf freiem Fuß . Spätestens im Februar 2020 begannen dann nach polizeilichen Erkenntnissen die Drogen-Kurierfahrten von Aachen nach Thüringen. Offensichtlich ist, dass weitere Personen aus dem Aachener Umfeld von Malcoci als Drogenkuriere eingesetzt wurden. Wer diese waren, darauf gibt möglicherweise der bevorstehende Prozess Auskunft.Ein Geldwäscher aus HessenIn Untersuchungshaft sitzt auch Dirk Waldschmidt aus Schöffengrund im hessischen Lahn-Dill-Kreis. Der 56-jährige Rechtsanwalt soll ab Ende 2019 in der Gruppe wichtige Funktionen ausgefüllt haben. So sei es laut den Ermittler*innen Aufgabe des Anwalts gewesen, inhaftierte Gruppenmitglieder juristisch zu vertreten um den Informationsaustausch mit diesen aufrecht zu halten. Zudem soll Waldschmidt einen erheblichen Teil der Drogengelder gewaschen haben. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin Sonja L. führte er eine „Unternehmens- und Projektberatungsgesellschaft“, bei der im Oktober 2019 Andre K. aus Bad Langensalza als „Facility Manager“ angestellt wurde. Andre K. ist ein Vertrauter von Thomas Wagner. Er war schon am Ballstädt-Überfall beteiligt und soll für den Drogenring Kurierfahrten unternommen haben. Ab 2020 erhielt auch Sina T. ein monatliches Gehalt. Sie ist die Lebensgefährtin von Wagner und sitzt ebenfalls in U-Haft. Im August 2020 wurde schließlich Timm Malcoci in Waldschmidts Unternehmen angestellt. Die Polizei konnte nicht feststellen, dass einer der Angestellten irgendeine Arbeit für die Firma leistete.Im Januar 2020 erwarb Waldschmidt ein Grundstück am Stadtrand von Gotha. Dabei soll er als Strohmann von Thomas Wagner fungiert haben, der auf dem Gelände ein weiteres Bordell errichten wollte. Der Anwalt aus Hessen trat dabei als Bevollmächtigter einer Immobilien- und Vermögensverwaltung GmbH auf, die erst im September 2019 gegründet worden war und für die Sonja L. als Geschäftsführerin eingetragen war.Auch bei einem Fall von Erpressung soll Waldschmidt im Auftrag von Wagner gehandelt haben. So wird Wagner vorgeworfen, im Herbst 2020 von einem ehemaligen Partner in Drogengeschäften 70.000 Euro gefordert zu haben. Dieser jedoch konnte nichts geben, da er schwer drogenabhängig war und deswegen seine Mutter sein Geld verwaltete. Nun wandte sich Waldschmidt an die Mutter und forderte in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt von ihr 35.000 Euro für eine anwaltliche Vertretung und für Darlehen, die er ihrem Sohn habe zukommen lassen. Auch täuschte ihr Waldschmidt vor, dass sie sich bei Nichtzahlung der Beihilfe zum Betrug schuldig mache. Alles war frei erfunden, doch die eingeschüchterte Frau zahlte das Geld.Der Szeneanwalt als SpäteinsteigerDirk Waldschmidt tauchte Mitte der 2000er Jahre als knapp 40-Jähriger erstmals in der Neonazi-Szene auf. Er sei „ein komischer Typ“ gewesen, erinnert sich ein ausgestiegener Ex-Neonazi: „Der kam aus der Bodybuilding-Szene und hatte zuvor eher mit Rockern zu tun gehabt.“ 2005 trat Waldschmidt in die NPD ein und von 2006 bis 2008 war er stellvertretender Landesvorsitzender der Partei in Hessen. Sein fachlicher Ruf als Rechtsanwalt war nie gut, doch er gab sich der Szene kumpelhaft und vertrat Neonazis in juristischen Angelegenheiten für vergleichsweise kleines Geld. Seine Kontakte zu den Turonen bestanden spätestens seit 2015, als er im ersten Ballstädt-Prozess einen der Angeklagten verteidigte.Zuletzt geriet Waldschmidt 2020 als Anwalt von Stephan Ernst, dem Mörder von Walter Lübcke, in die Schlagzeilen. Ernst hatte unter anderem angegeben, er sei von Waldschmidt zu einem falschen Geständnis bewegt worden. So habe der ihm zugesagt, dass seine Familie finanzielle Unterstützung aus der Szene erhalten würde, sollte er die alleinige Schuld für den Mord auf sich nehmen. Waldschmidt bestreitet diese Darstellung.Alimente für den NSU-HelferNeben den Firmen, die er mit Sonja L. führte, betrieb Dirk Waldschmidt seine Rechtsanwaltskanzlei in Schöffengrund. Über das Geschäftskonto der Kanzlei wurde seit Juni 2020 ein monatliches Gehalt an Ralf Wohlleben gezahlt. Der war im 2018 als Unterstützer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Er hatte unter anderem die Ceska-Pistole beschafft, mit dem der NSU seine rassistische Mordserie begangen hatte. Da er bereits sechs Jahre und acht Monate in Haft gesessen hatte, war der Haftbefehl gegen ihn nach dem Urteil aufgehoben worden. Seit vielen Jahren ist ein freundschaftliches Verhältnis von Wohlleben zu den Turonen zu erkennen. Zwischen 2014 und 2017 hatten (spätere) Turonen mehrere Konzerte organisiert, deren Erlöse unter anderem der Unterstützung von Wohlleben im NSU-Prozess dienten. Der Thüringer Neonazi Steffen Richter, heute ein exponiertes Mitglied der Turonen, soll im August 2012 dem in der JVA Tonna (Thüringen) inhaftierten Wohlleben ein Kassiber zukommen lassen haben, was dazu führte, dass dieser aus Sicherheitsgründen in die Haftanstalt nach München verlegt wurde. Die „Gehaltszahlungen“ der Kanzlei Waldschmidt an Wohlleben werden von den Ermittler*innen zum Komplex der Geldwäsche des Drogenrings gezählt.Es gibt keine Hinweise darauf, dass Wohlleben an Straftaten der Bande beteiligt war, möglicherweise wurde er von den Turonen aus reiner Freundschaft und politischer Verbundenheit unterstützt. Dennoch könnte er nun in die Bredouille geraten. Er hat beantragt, dass die restliche Haftstrafe aus dem Urteil im NSU-Prozess, immerhin noch mehr als drei Jahre, zur Bewährung ausgesetzt wird. Doch bei der Entscheidung darüber sind laut Strafgesetzbuch unter anderem seine „Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für sie zu erwarten sind“. Sollte sich bestätigen, dass er durch Gelder alimentiert wurde, die eine durch und durch kriminelle Neonazi-Bande durch Drogenhandel und Erpressung beschafft hatte, dann würde dies ein sehr schlechtes Licht auf die „Lebensverhältnisse“ des NSU-Helfers werfen.(Zu) Sicher gefühltDie „Legalisierung“ von Geldern über Scheinarbeitsverhältnisse und Immobilienkäufe ist ein in der sogenannten „organisierten Kriminalität“ geläufiges System der Geldwäsche. Doch ist verwunderlich, wie fantasielos die Beteiligten hier vorgingen. Zwar nutzten sie zum Teil verschlüsselte Kommunikationswege, doch fanden die Übergaben der Gelder und der Drogen in den eigenen „Clubräumen“ oder Privatwohnungen statt, die von der Polizei observiert wurden. Dass sich ein kleines Unternehmen in Hessen, das kaum eine Geschäftstätigkeit vorweisen kann, vier Angestellte in anderen Bundesländern leistet, ist enorm auffällig. Es zeigt, wie dreist die Neonazis vorgingen, wie sicher sie sich fühlten. Sollten sich die Vorwürfe im bevorstehenden Prozess erhärten, dann müssen die Angeklagten mit mehrjährigen Haftstrafen rechnen. Und Szeneanwalt Waldschmidt wird sich einen neuen Beruf suchen müssen. 2022-02-04T21:16:47+01:00 Die Orbánisierung Sloweniens | Ministerpräsident Janez Janša verschiebt das Land politisch nach rechts https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/85/die-orb-nisierung-sloweniens Sloweniens Ministerpräsident Janez Janša fährt einen scharfen Rechtskurs, kooperiert eng mit Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán und versucht, die Medien des Landes komplett auf seine Linie festzulegen. Seine Partei SDS protegiert die slowenischen „Identitären“.Marine Le Pen, Präsidentschaftskandidatin des extrem rechten Rassemblement National (RN), absolvierte Ende Oktober 2021 drei wichtige Termine. Höhepunkt war sicherlich ihr Treffen mit Viktor Orbán am 26. Oktober in Budapest; Ungarns ultrarechter Ministerpräsident bot der Französin, deren Umfragewerte ins Taumeln geraten waren, die Chance, sich mit dem Empfang durch einen amtierenden Regierungschef medienwirksam auf internationaler Bühne in Szene zu setzen, und Le Pen kostete das weidlich aus. Vier Tage zuvor hatte die RN-Kandidatin ein Gespräch mit Mateusz Morawicki geführt, dem amtierenden Ministerpräsidenten Polens; dessen Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS, Recht und Gerechtigkeit) zählt längst genauso zu den Rechtsauslegern in Europa wie Orbáns Fidesz. Ebenfalls am 22. Oktober hatte Le Pen außerdem ein Treffen mit einem dritten Ministerpräsidenten ergattern können: mit Janez Janša, dem Regierungschef Sloweniens, der zudem im zweiten Halbjahr 2021 die slowenische EU-Ratspräsidentschaft leitete. Wie Orbán und Morawiecki verhalf Janša damit Le Pen dazu, sich nicht nur als respektabel, sondern auch als international hoffähig zu inszenieren: für die so langsam herannahenden französischen Präsidentschaftswahlen ein starker Trumpf.Auf EVP-KursOrbán ist seit vielen Jahren für seine Rechtsaußenpositionen bekannt; seine Partei, der Fidesz, hat deshalb im vergangenen Jahr nach langem Hängen und Würgen die Europäische Volkspartei (EVP) verlassen müssen. Rechts der EVP siedelte sich auf EU-Ebene auch die polnische PiS unter ihrem faktischen Anführer Jarosław Kaczyński an; sie hat sich im Europaparlament nicht zuletzt mit extrem rechten Parteien wie beispielsweise den Fratelli d’Italia, den Schwedendemokraten oder der spanischen Vox in den European Conservatives and Reformists (ECR) zusammengeschlossen. Janšas SDS (Slovenska demokratska stranka, Slowenische Demokratische Partei) hingegen ist bis heute Mitglied der EVP, obwohl sie durchaus auf einen ähnlichen Rechtskurs orientiert wie Orbáns Fidesz. Zieht Orbán mit seinen Exzessen schon seit geraumer Zeit regelmäßig die internationale Aufmerksamkeit auf sich, so ist das bei Janša lange nicht der Fall gewesen, und es geschieht auch heute nur punktuell. Blickt man auf seine Politik, so muss man sagen: zu Unrecht.Waffenschmuggel und KorruptionJanša verdankt die Popularität, die er in Teilen der slowenischen Öffentlichkeit bis heute besitzt, seiner Tätigkeit als Verteidigungsminister in der Zeit der Abspaltung Sloweniens von Jugoslawien. Den Posten hatte er seit 1990 inne, und als am Tag nach der offiziellen Unabhängigkeitserklärung des Landes vom 25. Juni 1991 Kämpfe zwischen der slowenischen Territorialverteidigung und den Streitkräften Jugoslawiens losbrachen, da gelang es den slowenischen Kräften unter Janša recht problemlos, sich zu behaupten. Nach zehn Tagen, am 7. Juli 1991, war der Abspaltungskrieg vorüber; Janša blieb noch bis 1994 im Amt. In jenen Jahren fungierte Slowenien, insbesondere das Hafenstädtchen Koper, als Drehscheibe für den Schmuggel mit Waffen, mit denen Truppen und Milizen in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina unter offenem Bruch des UN-Waffenembargos aufgerüstet wurden. Recherchen investigativer Journalist*innen um Blaž Zgaga haben bestätigt, dass Janša als damaliger Verteidigungsminister in den Schmuggel involviert war. Demnach soll er unter anderem Waffen an Branimir Glavaš verkauft haben, einen kroatischen Offizier, der in späteren Jahren wegen Kriegsverbrechen verurteilt wurde, darunter Mord an serbischen Zivilist*innen.Janša hat nach dem Ende seiner Amtszeit als Verteidigungsminister seine politische Karriere als Vorsitzender der SDS fortgesetzt; auf dem Posten, den er seit 1993 innehatte, bewegte er die Partei rasch ziemlich weit nach rechts. Bei der Parlamentswahl am 3. Oktober 2004 wurde die SDS dank massiver Zugewinne mit 29,1 Prozent der Stimmen stärkste Partei; Janša wurde zum ersten Mal zum Ministerpräsidenten ernannt. Schon während seiner ersten Amtszeit wurden Klagen geäußert, die Medienfreiheit in Slowenien sei durch eine massive Einflussnahme der Regierung in Ljubljana und ihr nahestehender Unternehmer in Gefahr; im Herbst 2007 wandten sich 571 Journalist*innen — für ein kleines Land mit kaum 2,1 Millionen Einwohner*innen eine stattliche Zahl — mit einer diesbezüglichen Petition an das slowenische Parlament und die internationale Öffentlichkeit. Janša gelang es, die Proteste auszusitzen; bei der Parlamentswahl im Jahr 2008 scheiterte er dann aber. Einer der wichtigsten Gründe dafür war ein Korruptionsskandal um ein 278 Millionen Euro teures Rüstungsgeschäft. 2012 konnte Janša für etwa ein Jahr erneut den Posten des Ministerpräsidenten einnehmen, den er dann aber wegen gravierender Korruptionsvorwürfe wieder verlor.Die SDS und die „Identitären“In den Jahren, die die SDS in der Opposition verbrachte, hat die Partei immer wieder mit ihren Kontakten zu einschlägigen Organisationen der extremen Rechten Schlagzeilen gemacht. Besonders hat sich dabei ihre Jugendorganisation SDM (Slovenska demokratska mladina, Slowenische demokratische Jugend) hervorgetan. Die Journalistin Anuška Delić etwa konnte schon im Jahr 2011 belegen, dass ein SDM-Aktivist der extrem rechten Organisation Tukaj je Slovenia (Hier ist Slowenien) angehörte und außerdem mit dem Blood & Honour-Netzwerk kooperierte. 2013 wurde Delić dafür vor Gericht gezerrt — unter dem Vorwand, sie habe für ihre Recherchen als geheim eingestufte Dokumente illegal genutzt. Die SDS und die SDM liebäugeln darüber hinaus immer wieder mit dem slowenischen Arm der „Identitären“, der Generacija identitete. Im September 2018 warb Žan Mahnič, ein SDS-Abgeordneter im slowenischen Parlament, für das neue „Manifest za domovino“ („Manifest für die Heimat“) der Generacija identitete auf Twitter und schleppte das Machwerk mit zur nächsten Sitzung des slowenischen Parlaments. Gedruckt hatte das Buch übrigens der Verlag Nova Obzorja aus Ljubljana, an dem die SDS einen Anteil von fast 50 Prozent hält.Keine Berührungsängste gegenüber der Generacija identitete hat sogar der SDS-Vorsitzende und heutige Ministerpräsident Janša selbst. Als die SDM im Dezember 2018 ihr 28. Gründungsjubiläum feierte, nahm er daran teil. Zugegen war gleichzeitig auch ein Vertreter der slowenischen „Identitären“. Immer wieder hat Janša, der sich wegen seiner von Donald Trump abgeschauten Vorliebe für Twitter den Beinamen „Marschall Twitto“ eingefangen hat, Tweets der Generacija identitete geteilt; einen verbreitete er etwa kurz nachdem die slowenischen „Identitären“ in einer öffentlichen Mitteilung dem österreichischen „Identitären“-Sprecher Martin Sellner ihre Unterstützung ausgesprochen hatten. Sellner war damals gerade angegangen worden, weil er Anfang 2018 von dem australischen Rechtsterroristen und Christchurch-Attentäter Brenton Tarrant eine 1.500 Euro-Spende erhalten hatte. Janša störte sich nicht daran. Er teilt auch Beiträge von anderen Quellen aus der extremen Rechten, etwa solche des US-Portals Breitbart oder des französischen Rassisten Renaud Camus. Im Juli 2020 — damals führte er bereits, wieder ins Amt des slowenischen Ministerpräsidenten gelangt, die Ratspräsidentschaft der EU — twitterte er gar ein Video der extrem rechten Verschwörungsbewegung QAnon.Mit Orbán zum ErfolgJanša und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán haben sich wohl spätestens 2012 kennengelernt, als sie für rund ein Jahr lang gleichzeitig den Posten des Ministerpräsidenten ihres jeweiligen Landes innehatten. Beobachter*innen führen ihre zielgerichtete politische Kooperation auf Orbáns Besuch in Ljubljana im Januar 2016 zurück. Orbán war dort zu offiziellen Gesprächen mit Sloweniens damaligem liberalen Ministerpräsidenten Miro Cerar eingetroffen, kam aber auch mit Janša zusammen. Vieles spricht dafür, dass es darum ging, Wege zu finden, wie Orbán Janša und der SDS aus der Opposition an die Macht verhelfen könne. Klar ist, dass kurz nach dem Treffen ungarische Unternehmer aus dem unmittelbaren Umfeld ihres Ministerpräsidenten begannen, hohe Beträge in slowenische Medien zu investieren. Einige von ihnen stiegen etwa bei Nova24TV ein, einem Online- und TV-Konglomerat, das einst aus dem Dunstkreis der SDS gegründet worden war und entsprechend rechtslastige Positionen verbreitet. In ungarischen Besitz ging zudem 2017 die Mehrheit an Nova Obzorja über, demjenigen bereits erwähnten Verlag mit starker SDS-Minderheitsbeteiligung, der 2018 das „Manifest za domovino“ der Generacija identitete veröffentlichte.Bei der Parlamentswahl am 3. Juni 2018 gelang es der SDS prompt, dank zielgerichteter medialer Unterstützung kräftig hinzuzugewinnen und mit fast 25 Prozent der Stimmen stärkste Partei im Land zu werden. Geholfen hat sicherlich auch Janšas heftige Agitation gegen Flüchtlinge, die 2015 und 2016 auf der „Balkanroute“ auch durch Slowenien gezogen waren. „Wir werden nicht zulassen, dass das wieder geschieht“, kündigte er im Mai 2018 auf einer Wahlkampfveranstaltung an: „Slowenen sind von Haus aus solidarisch, aber wir wissen auch, wo die vernünftige Grenze zwischen Solidarität und Wahnsinn liegt.“ Trotz der starken Stellung der SDS im Parlament gelang es Janša 2018 allerdings noch nicht, eine Regierung zu bilden: Der Unwille im liberalen Spektrum Sloweniens, sich mit dem Rechtsaußen zu verbünden, war noch zu groß. Freilich hielt die liberale Minderheitsregierung unter Ministerpräsident Marjan Šarec kaum eineinhalb Jahre — und als sie scheiterte, konnte Janša drei liberale beziehungsweise konservative Kleinparteien für ein Bündnis mit der SDS gewinnen. Nach einer Umgruppierung Ende 2020 kam schließlich noch die extrem rechte SNS (Slovenska nacionalna stranka, Slowenische Nationale Partei) hinzu.Ende 2020 — das war die Zeit, als US-Präsident Donald Trump mit allen Mitteln versuchte, seine Wahlniederlage in einen Wahlsieg umzulügen — war Janša der erste ausländische Regierungschef, der Trump zur Seite sprang. Es sei „ziemlich klar, dass die amerikanische Bevölkerung Donald Trump und Mike Pence für vier weitere Jahre gewählt hat“, befand Sloweniens Ministerpräsident am 4. November 2020, einen Tag nach dem Urnengang; „mehr Verzögerungen und Leugnungen der Mainstream-Medien“ würden „den finalen Triumph“ für Trump letztlich nur noch größer machen: „Gratulation“!„Krieg mit den Medien“Ansonsten legte sich Janša im Amt des Ministerpräsidenten exzessiv mit denjenigen Medien an, die sich nicht im Besitz des SDS oder ungarischer Unternehmer aus Orbáns Umfeld befanden. Während „Marschall Twitto“ wie erwähnt Posts der „Identitären“ und ein QAnon-Video verbreitete, zog er wild über angeblich „kommunistisch unterwanderte“ Zeitungen und Sendeanstalten her. Ganz besonders hatte er es auf die staatseigene Presseagentur STA (Slovenska tiskovna agencija) und auf den öffentlich-rechtlichen Fernsehsender RTV (Radiotelevizija Slovenija) abgesehen. Dort werde „von einem kleinen Kreis von Redakteurinnen [sic!], die familiäre und finanzielle Verbindungen zu den Säulen des tiefen Staates haben, eine Atmosphäre der Intoleranz und des Hasses geschaffen“, schrieb der Ministerpräsident in einem Elaborat, das er unter dem Titel „Krieg mit den Medien“ im Mai 2020 auf der Website seiner Regierung publizierte. Umgehend machte er sich daran, die STA und ihre Chefredakteurin Barbara Štrukelj durch den Entzug von Finanzmitteln zu disziplinieren. Im Januar 2021 setzte er bei RTV einen neuen, SDS-nahen Direktor ein, der sich schnell der Ruf erwarb, als „Janšas neuer Besen“ zu fungieren. Im Februar 2021 führte das Vorgehen gegen die Medien zu einem ersten Streit mit der EU: Man „verurteile beleidigende Kommentare gegen Journalisten“, erklärte EU-Kommissionssprecher Eric Mamer.Richtig peinlich wurde es mit dem Beginn der slowenischen EU-Ratspräsidentschaft am 1. Juli 2021. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war in Ljubljana eingetroffen, um mit Janša und seiner Regierung über die dringendsten Themen des kommenden Halbjahres zu diskutieren — über „Rechtsstaatlichkeit“ etwa, eines der Felder also, auf denen die EU mit Ungarn und Polen und damit mit den engsten Verbündeten des SDS-regierten Sloweniens einen erbitterten Konflikt austrägt. Um seine Sicht auf das Thema zu illustrieren, legte Janša den Vertretern der Kommission ein Foto vor, das eine Gruppe slowenischer Sozialdem­o­krat*innen zeigte, darunter zwei Richter. Man sehe doch, erklärte er: Die Justiz sei von „kommunistischen Seilschaften“ unterwandert. Peinlich berührt belehrte von der Leyen den slowenischen Ministerpräsidenten, er solle doch gefälligst „Respekt für alle demokratischen politischen Parteien“ zeigen. Ihr nach Slowenien mitgereister Stellvertreter Frans Timmermans, ein Sozialdemokrat, hielt sich nach dem Treffen aus Protest von dem üblichen Gruppenfoto fern. Das wiederum nahm Sloweniens Innenminister Aleš Hojs (SDS) zum Anlass für die kryptische Bemerkung, er werde „in der Zukunft in der Lage sein, ein gewisses Individuum ein Schwein zu nennen“. Auch wenn Hojs es offiziell abstritt: Dass er Timmermans gemeint hatte, war allen Beteiligten klar.„Marionetten im EU-Parlament“Der Zoff ging weiter. Als die liberale niederländische Europaabgeordnete Sophie in ’t Veld (Democraten 66) Mitte Oktober 2021 mit einer Abgeordnetendelegation nach Ljubljana reiste, um sich dort ein Bild über die Lage der Medien und über den Stand im Kampf gegen die Korruption zu machen, da twitterte Janša ein Foto, das mehrere Politiker zeigte, darunter in ’t Veld. Janša schrieb dazu, ganz im Orbán’schen Stil: „13 der 226 bekannten Soros-Marionetten im EU-Parlament“. In ’t Veld revanchierte sich, indem sie nach ihrer Rückkehr nach Brüssel berichtete, ihre Delegation habe „ein Klima der Feindseligkeit, des Misstrauens und einer tiefen Polarisierung im Land erlebt“; man sorge sich insbesondere um die Freiheit der Medien. Im Dezember machte sich das Europaparlament diese Position in einer Resolution zu eigen. Janša wiederum hatte bereits zuvor, am 1. Oktober, eine Delegation der extrem rechten Europaparlamentsfraktion Identität und Demokratie zu Gesprächen in Ljubljana empfangen. Der Fraktion gehören unter anderem die italienische Lega, der RN, die FPÖ und die AfD an.Bei alledem wird eines gern übersehen: Janša verbindet seinen harten Rechtskurs — wie Orbán auch — mit überaus enger wirtschaftlicher und zunehmend auch militärischer Kooperation mit Deutschland. Deutlich wurde dies Ende Juni 2021, als Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer bei einem Besuch in Ljubljana mit ihrem Amtskollegen Matej Tonin vereinbarte, die Zusammenarbeit zwischen den Streitkräften beider Länder zu intensivieren. Nebenbei wurde bekannt, dass Slowenien 45 deutsche Radpanzer des Typs „Boxer“ kaufen wird — für eine dreistellige Millionen-Euro-Summe. Ähnlich Ungarn: Dessen Streitkräfte kooperieren ebenfalls eng mit der Bundeswehr, es bestellte 2019 ausweislich des deutschen Rüstungsexportberichts Kriegsgerät im Wert von 1,8 Milliarden Euro in der Bundesrepublik — mehr als jedes andere Land. Ungarn ist einer der wichtigsten Produktionsstandorte der deutschen Kfz-Industrie; Slowenien gewinnt als Standort für deutsche Kfz-Zulieferer rasant an Bedeutung. Die industrielle Verflechtung ist mittlerweile so dicht, dass ein Experte des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) 2020 urteilte, der Gedanke, die ost- und südosteuropäischen Produktionsstandorte vom deutschen Zentrum zu trennen, sei wie der Versuch, „aus einer Flasche Ketchup wieder Tomaten zu machen“. Die reale Integration in den deutschen Wirtschaftsraum erklärt, wieso Orbán, Janša und andere sich in ihrem Streit mit Brüssel so sicher fühlen können: Ihre Länder sind für Berlin unverzichtbar. International 7705 Fri, 04 Feb 2022 21:16:47 +0100 LOTTA Die Orbánisierung Sloweniens Jörg Kronauer Sloweniens Ministerpräsident Janez Janša fährt einen scharfen Rechtskurs, kooperiert eng mit Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán und versucht, die Medien des Landes komplett auf seine Linie festzulegen. Seine Partei SDS protegiert die slowenischen „Identitären“.Marine Le Pen, Präsidentschaftskandidatin des extrem rechten Rassemblement National (RN), absolvierte Ende Oktober 2021 drei wichtige Termine. Höhepunkt war sicherlich ihr Treffen mit Viktor Orbán am 26. Oktober in Budapest; Ungarns ultrarechter Ministerpräsident bot der Französin, deren Umfragewerte ins Taumeln geraten waren, die Chance, sich mit dem Empfang durch einen amtierenden Regierungschef medienwirksam auf internationaler Bühne in Szene zu setzen, und Le Pen kostete das weidlich aus. Vier Tage zuvor hatte die RN-Kandidatin ein Gespräch mit Mateusz Morawicki geführt, dem amtierenden Ministerpräsidenten Polens; dessen Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS, Recht und Gerechtigkeit) zählt längst genauso zu den Rechtsauslegern in Europa wie Orbáns Fidesz. Ebenfalls am 22. Oktober hatte Le Pen außerdem ein Treffen mit einem dritten Ministerpräsidenten ergattern können: mit Janez Janša, dem Regierungschef Sloweniens, der zudem im zweiten Halbjahr 2021 die slowenische EU-Ratspräsidentschaft leitete. Wie Orbán und Morawiecki verhalf Janša damit Le Pen dazu, sich nicht nur als respektabel, sondern auch als international hoffähig zu inszenieren: für die so langsam herannahenden französischen Präsidentschaftswahlen ein starker Trumpf.Auf EVP-KursOrbán ist seit vielen Jahren für seine Rechtsaußenpositionen bekannt; seine Partei, der Fidesz, hat deshalb im vergangenen Jahr nach langem Hängen und Würgen die Europäische Volkspartei (EVP) verlassen müssen. Rechts der EVP siedelte sich auf EU-Ebene auch die polnische PiS unter ihrem faktischen Anführer Jarosław Kaczyński an; sie hat sich im Europaparlament nicht zuletzt mit extrem rechten Parteien wie beispielsweise den Fratelli d’Italia, den Schwedendemokraten oder der spanischen Vox in den European Conservatives and Reformists (ECR) zusammengeschlossen. Janšas SDS (Slovenska demokratska stranka, Slowenische Demokratische Partei) hingegen ist bis heute Mitglied der EVP, obwohl sie durchaus auf einen ähnlichen Rechtskurs orientiert wie Orbáns Fidesz. Zieht Orbán mit seinen Exzessen schon seit geraumer Zeit regelmäßig die internationale Aufmerksamkeit auf sich, so ist das bei Janša lange nicht der Fall gewesen, und es geschieht auch heute nur punktuell. Blickt man auf seine Politik, so muss man sagen: zu Unrecht.Waffenschmuggel und KorruptionJanša verdankt die Popularität, die er in Teilen der slowenischen Öffentlichkeit bis heute besitzt, seiner Tätigkeit als Verteidigungsminister in der Zeit der Abspaltung Sloweniens von Jugoslawien. Den Posten hatte er seit 1990 inne, und als am Tag nach der offiziellen Unabhängigkeitserklärung des Landes vom 25. Juni 1991 Kämpfe zwischen der slowenischen Territorialverteidigung und den Streitkräften Jugoslawiens losbrachen, da gelang es den slowenischen Kräften unter Janša recht problemlos, sich zu behaupten. Nach zehn Tagen, am 7. Juli 1991, war der Abspaltungskrieg vorüber; Janša blieb noch bis 1994 im Amt. In jenen Jahren fungierte Slowenien, insbesondere das Hafenstädtchen Koper, als Drehscheibe für den Schmuggel mit Waffen, mit denen Truppen und Milizen in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina unter offenem Bruch des UN-Waffenembargos aufgerüstet wurden. Recherchen investigativer Journalist*innen um Blaž Zgaga haben bestätigt, dass Janša als damaliger Verteidigungsminister in den Schmuggel involviert war. Demnach soll er unter anderem Waffen an Branimir Glavaš verkauft haben, einen kroatischen Offizier, der in späteren Jahren wegen Kriegsverbrechen verurteilt wurde, darunter Mord an serbischen Zivilist*innen.Janša hat nach dem Ende seiner Amtszeit als Verteidigungsminister seine politische Karriere als Vorsitzender der SDS fortgesetzt; auf dem Posten, den er seit 1993 innehatte, bewegte er die Partei rasch ziemlich weit nach rechts. Bei der Parlamentswahl am 3. Oktober 2004 wurde die SDS dank massiver Zugewinne mit 29,1 Prozent der Stimmen stärkste Partei; Janša wurde zum ersten Mal zum Ministerpräsidenten ernannt. Schon während seiner ersten Amtszeit wurden Klagen geäußert, die Medienfreiheit in Slowenien sei durch eine massive Einflussnahme der Regierung in Ljubljana und ihr nahestehender Unternehmer in Gefahr; im Herbst 2007 wandten sich 571 Journalist*innen — für ein kleines Land mit kaum 2,1 Millionen Einwohner*innen eine stattliche Zahl — mit einer diesbezüglichen Petition an das slowenische Parlament und die internationale Öffentlichkeit. Janša gelang es, die Proteste auszusitzen; bei der Parlamentswahl im Jahr 2008 scheiterte er dann aber. Einer der wichtigsten Gründe dafür war ein Korruptionsskandal um ein 278 Millionen Euro teures Rüstungsgeschäft. 2012 konnte Janša für etwa ein Jahr erneut den Posten des Ministerpräsidenten einnehmen, den er dann aber wegen gravierender Korruptionsvorwürfe wieder verlor.Die SDS und die „Identitären“In den Jahren, die die SDS in der Opposition verbrachte, hat die Partei immer wieder mit ihren Kontakten zu einschlägigen Organisationen der extremen Rechten Schlagzeilen gemacht. Besonders hat sich dabei ihre Jugendorganisation SDM (Slovenska demokratska mladina, Slowenische demokratische Jugend) hervorgetan. Die Journalistin Anuška Delić etwa konnte schon im Jahr 2011 belegen, dass ein SDM-Aktivist der extrem rechten Organisation Tukaj je Slovenia (Hier ist Slowenien) angehörte und außerdem mit dem Blood & Honour-Netzwerk kooperierte. 2013 wurde Delić dafür vor Gericht gezerrt — unter dem Vorwand, sie habe für ihre Recherchen als geheim eingestufte Dokumente illegal genutzt. Die SDS und die SDM liebäugeln darüber hinaus immer wieder mit dem slowenischen Arm der „Identitären“, der Generacija identitete. Im September 2018 warb Žan Mahnič, ein SDS-Abgeordneter im slowenischen Parlament, für das neue „Manifest za domovino“ („Manifest für die Heimat“) der Generacija identitete auf Twitter und schleppte das Machwerk mit zur nächsten Sitzung des slowenischen Parlaments. Gedruckt hatte das Buch übrigens der Verlag Nova Obzorja aus Ljubljana, an dem die SDS einen Anteil von fast 50 Prozent hält.Keine Berührungsängste gegenüber der Generacija identitete hat sogar der SDS-Vorsitzende und heutige Ministerpräsident Janša selbst. Als die SDM im Dezember 2018 ihr 28. Gründungsjubiläum feierte, nahm er daran teil. Zugegen war gleichzeitig auch ein Vertreter der slowenischen „Identitären“. Immer wieder hat Janša, der sich wegen seiner von Donald Trump abgeschauten Vorliebe für Twitter den Beinamen „Marschall Twitto“ eingefangen hat, Tweets der Generacija identitete geteilt; einen verbreitete er etwa kurz nachdem die slowenischen „Identitären“ in einer öffentlichen Mitteilung dem österreichischen „Identitären“-Sprecher Martin Sellner ihre Unterstützung ausgesprochen hatten. Sellner war damals gerade angegangen worden, weil er Anfang 2018 von dem australischen Rechtsterroristen und Christchurch-Attentäter Brenton Tarrant eine 1.500 Euro-Spende erhalten hatte. Janša störte sich nicht daran. Er teilt auch Beiträge von anderen Quellen aus der extremen Rechten, etwa solche des US-Portals Breitbart oder des französischen Rassisten Renaud Camus. Im Juli 2020 — damals führte er bereits, wieder ins Amt des slowenischen Ministerpräsidenten gelangt, die Ratspräsidentschaft der EU — twitterte er gar ein Video der extrem rechten Verschwörungsbewegung QAnon.Mit Orbán zum ErfolgJanša und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán haben sich wohl spätestens 2012 kennengelernt, als sie für rund ein Jahr lang gleichzeitig den Posten des Ministerpräsidenten ihres jeweiligen Landes innehatten. Beobachter*innen führen ihre zielgerichtete politische Kooperation auf Orbáns Besuch in Ljubljana im Januar 2016 zurück. Orbán war dort zu offiziellen Gesprächen mit Sloweniens damaligem liberalen Ministerpräsidenten Miro Cerar eingetroffen, kam aber auch mit Janša zusammen. Vieles spricht dafür, dass es darum ging, Wege zu finden, wie Orbán Janša und der SDS aus der Opposition an die Macht verhelfen könne. Klar ist, dass kurz nach dem Treffen ungarische Unternehmer aus dem unmittelbaren Umfeld ihres Ministerpräsidenten begannen, hohe Beträge in slowenische Medien zu investieren. Einige von ihnen stiegen etwa bei Nova24TV ein, einem Online- und TV-Konglomerat, das einst aus dem Dunstkreis der SDS gegründet worden war und entsprechend rechtslastige Positionen verbreitet. In ungarischen Besitz ging zudem 2017 die Mehrheit an Nova Obzorja über, demjenigen bereits erwähnten Verlag mit starker SDS-Minderheitsbeteiligung, der 2018 das „Manifest za domovino“ der Generacija identitete veröffentlichte.Bei der Parlamentswahl am 3. Juni 2018 gelang es der SDS prompt, dank zielgerichteter medialer Unterstützung kräftig hinzuzugewinnen und mit fast 25 Prozent der Stimmen stärkste Partei im Land zu werden. Geholfen hat sicherlich auch Janšas heftige Agitation gegen Flüchtlinge, die 2015 und 2016 auf der „Balkanroute“ auch durch Slowenien gezogen waren. „Wir werden nicht zulassen, dass das wieder geschieht“, kündigte er im Mai 2018 auf einer Wahlkampfveranstaltung an: „Slowenen sind von Haus aus solidarisch, aber wir wissen auch, wo die vernünftige Grenze zwischen Solidarität und Wahnsinn liegt.“ Trotz der starken Stellung der SDS im Parlament gelang es Janša 2018 allerdings noch nicht, eine Regierung zu bilden: Der Unwille im liberalen Spektrum Sloweniens, sich mit dem Rechtsaußen zu verbünden, war noch zu groß. Freilich hielt die liberale Minderheitsregierung unter Ministerpräsident Marjan Šarec kaum eineinhalb Jahre — und als sie scheiterte, konnte Janša drei liberale beziehungsweise konservative Kleinparteien für ein Bündnis mit der SDS gewinnen. Nach einer Umgruppierung Ende 2020 kam schließlich noch die extrem rechte SNS (Slovenska nacionalna stranka, Slowenische Nationale Partei) hinzu.Ende 2020 — das war die Zeit, als US-Präsident Donald Trump mit allen Mitteln versuchte, seine Wahlniederlage in einen Wahlsieg umzulügen — war Janša der erste ausländische Regierungschef, der Trump zur Seite sprang. Es sei „ziemlich klar, dass die amerikanische Bevölkerung Donald Trump und Mike Pence für vier weitere Jahre gewählt hat“, befand Sloweniens Ministerpräsident am 4. November 2020, einen Tag nach dem Urnengang; „mehr Verzögerungen und Leugnungen der Mainstream-Medien“ würden „den finalen Triumph“ für Trump letztlich nur noch größer machen: „Gratulation“!„Krieg mit den Medien“Ansonsten legte sich Janša im Amt des Ministerpräsidenten exzessiv mit denjenigen Medien an, die sich nicht im Besitz des SDS oder ungarischer Unternehmer aus Orbáns Umfeld befanden. Während „Marschall Twitto“ wie erwähnt Posts der „Identitären“ und ein QAnon-Video verbreitete, zog er wild über angeblich „kommunistisch unterwanderte“ Zeitungen und Sendeanstalten her. Ganz besonders hatte er es auf die staatseigene Presseagentur STA (Slovenska tiskovna agencija) und auf den öffentlich-rechtlichen Fernsehsender RTV (Radiotelevizija Slovenija) abgesehen. Dort werde „von einem kleinen Kreis von Redakteurinnen [sic!], die familiäre und finanzielle Verbindungen zu den Säulen des tiefen Staates haben, eine Atmosphäre der Intoleranz und des Hasses geschaffen“, schrieb der Ministerpräsident in einem Elaborat, das er unter dem Titel „Krieg mit den Medien“ im Mai 2020 auf der Website seiner Regierung publizierte. Umgehend machte er sich daran, die STA und ihre Chefredakteurin Barbara Štrukelj durch den Entzug von Finanzmitteln zu disziplinieren. Im Januar 2021 setzte er bei RTV einen neuen, SDS-nahen Direktor ein, der sich schnell der Ruf erwarb, als „Janšas neuer Besen“ zu fungieren. Im Februar 2021 führte das Vorgehen gegen die Medien zu einem ersten Streit mit der EU: Man „verurteile beleidigende Kommentare gegen Journalisten“, erklärte EU-Kommissionssprecher Eric Mamer.Richtig peinlich wurde es mit dem Beginn der slowenischen EU-Ratspräsidentschaft am 1. Juli 2021. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war in Ljubljana eingetroffen, um mit Janša und seiner Regierung über die dringendsten Themen des kommenden Halbjahres zu diskutieren — über „Rechtsstaatlichkeit“ etwa, eines der Felder also, auf denen die EU mit Ungarn und Polen und damit mit den engsten Verbündeten des SDS-regierten Sloweniens einen erbitterten Konflikt austrägt. Um seine Sicht auf das Thema zu illustrieren, legte Janša den Vertretern der Kommission ein Foto vor, das eine Gruppe slowenischer Sozialdem­o­krat*innen zeigte, darunter zwei Richter. Man sehe doch, erklärte er: Die Justiz sei von „kommunistischen Seilschaften“ unterwandert. Peinlich berührt belehrte von der Leyen den slowenischen Ministerpräsidenten, er solle doch gefälligst „Respekt für alle demokratischen politischen Parteien“ zeigen. Ihr nach Slowenien mitgereister Stellvertreter Frans Timmermans, ein Sozialdemokrat, hielt sich nach dem Treffen aus Protest von dem üblichen Gruppenfoto fern. Das wiederum nahm Sloweniens Innenminister Aleš Hojs (SDS) zum Anlass für die kryptische Bemerkung, er werde „in der Zukunft in der Lage sein, ein gewisses Individuum ein Schwein zu nennen“. Auch wenn Hojs es offiziell abstritt: Dass er Timmermans gemeint hatte, war allen Beteiligten klar.„Marionetten im EU-Parlament“Der Zoff ging weiter. Als die liberale niederländische Europaabgeordnete Sophie in ’t Veld (Democraten 66) Mitte Oktober 2021 mit einer Abgeordnetendelegation nach Ljubljana reiste, um sich dort ein Bild über die Lage der Medien und über den Stand im Kampf gegen die Korruption zu machen, da twitterte Janša ein Foto, das mehrere Politiker zeigte, darunter in ’t Veld. Janša schrieb dazu, ganz im Orbán’schen Stil: „13 der 226 bekannten Soros-Marionetten im EU-Parlament“. In ’t Veld revanchierte sich, indem sie nach ihrer Rückkehr nach Brüssel berichtete, ihre Delegation habe „ein Klima der Feindseligkeit, des Misstrauens und einer tiefen Polarisierung im Land erlebt“; man sorge sich insbesondere um die Freiheit der Medien. Im Dezember machte sich das Europaparlament diese Position in einer Resolution zu eigen. Janša wiederum hatte bereits zuvor, am 1. Oktober, eine Delegation der extrem rechten Europaparlamentsfraktion Identität und Demokratie zu Gesprächen in Ljubljana empfangen. Der Fraktion gehören unter anderem die italienische Lega, der RN, die FPÖ und die AfD an.Bei alledem wird eines gern übersehen: Janša verbindet seinen harten Rechtskurs — wie Orbán auch — mit überaus enger wirtschaftlicher und zunehmend auch militärischer Kooperation mit Deutschland. Deutlich wurde dies Ende Juni 2021, als Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer bei einem Besuch in Ljubljana mit ihrem Amtskollegen Matej Tonin vereinbarte, die Zusammenarbeit zwischen den Streitkräften beider Länder zu intensivieren. Nebenbei wurde bekannt, dass Slowenien 45 deutsche Radpanzer des Typs „Boxer“ kaufen wird — für eine dreistellige Millionen-Euro-Summe. Ähnlich Ungarn: Dessen Streitkräfte kooperieren ebenfalls eng mit der Bundeswehr, es bestellte 2019 ausweislich des deutschen Rüstungsexportberichts Kriegsgerät im Wert von 1,8 Milliarden Euro in der Bundesrepublik — mehr als jedes andere Land. Ungarn ist einer der wichtigsten Produktionsstandorte der deutschen Kfz-Industrie; Slowenien gewinnt als Standort für deutsche Kfz-Zulieferer rasant an Bedeutung. Die industrielle Verflechtung ist mittlerweile so dicht, dass ein Experte des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) 2020 urteilte, der Gedanke, die ost- und südosteuropäischen Produktionsstandorte vom deutschen Zentrum zu trennen, sei wie der Versuch, „aus einer Flasche Ketchup wieder Tomaten zu machen“. Die reale Integration in den deutschen Wirtschaftsraum erklärt, wieso Orbán, Janša und andere sich in ihrem Streit mit Brüssel so sicher fühlen können: Ihre Länder sind für Berlin unverzichtbar. 2022-02-04T21:16:47+01:00 Fredy Hirsch | Ein jüdischer Sportlehrer aus Aachen und die Rettung der Kinder von Theresienstadt https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/85/fredy-hirsch 1932, irgendwo zwischen Ratingen und Düsseldorf. Kurz nachdem eine Gruppe „Kittelbach-Piraten“ eine Straßenbahn bestiegen hat, fliegt die Mütze eines jüdischen Pfadfinders aus der Bahn auf die Straße. Und dann einer der „Kittelbach-Piraten“ hinterher. Angelegt haben sie sich diesmal mit den Falschen — der jüdischen Pfadfindergruppe von Fredy Hirsch. Doch wer war Fredy Hirsch?Mehr als diese kurze Begebenheit ist nicht über die Zeit bekannt, die Fredy Hirsch in Düsseldorf verbrachte. Es war aber wohl nicht die erste Situation dieser Art, in der sich der gebürtige Aachener erfolgreich gegen Nazis, die ihn und seine Freund:innen angingen, zur Wehr setzte. Bis zu seinem Tod am 8. März 1944 in Auschwitz-Birkenau bot er ihnen im Rahmen des Möglichen die Stirn.AachenFredy — eigentlich Alfred — Hirsch, wurde am 11. Februar 1916 in Aachen geboren. Er war der zweite Sohn von Heinrich und Olga Hirsch, die einen Lebensmittelgroßhandel am Rande der Aachener Innenstadt betrieben. Beide Söhne besuchten die Israelitische Volksschule und waren Mitglieder des Jüdischen Jugendvereins der Aachener Synagoge, der Aktivitäten wie Leichtathletik, Turnen und Wandern anbot. Mit dem Tod des Vaters 1926 zerfiel die Kernfamilie, und der Jüdische Jugendverein und die dort um etwa dieselbe Zeit gegründete erste jüdische Pfadfindergruppe Aachens wurden zur Ersatzfamilie für Fredy und seinen zwei Jahre älteren Bruder Paul.Besonders prägend schien diese Erfahrung für Fredy zu sein. Nachdem er die Oberrealschule 1931 nach der neunten Klasse verlassen hatte, baute er sich langsam, aber sicher eine Karriere als Verbandsfunktionär auf. Der 1931 gegründete Jüdische Pfadfinderbund Deutschland (JPD) bot ihm dazu die Möglichkeit. Der JPD verfolgte das Anliegen, Dachverband für alle jüdischen Jugendverbände zu sein und positionierte sich daher zunächst nicht in der seit Jahren schwelenden Debatte um die Frage „zionistisch“ oder „deutsch-jüdisch“. Mit zunehmender Repression durch die Nationalsozialisten wurde aber bald eine zionistische Tendenz des Verbandes sichtbar, mit der sich auch Fredy identifizierte. Er setzte seine Hoffnungen in die „Alija“, die Auswanderung nach Palästina, und ein neues Leben in Erez Israel, träumte vom Aufbau eines jüdischen Staates und Abenteuern in einer für ihn neuen Welt. Sein Bruder Paul hingegen war nicht bereit, seine Heimat in Deutschland aufzugeben, wollte die Nationalsozialisten überdauern und ein deutsch-jüdisches Leben erhalten, um es später, in besseren Zeiten, weiter auf- und auszubauen. Ironischerweise gelang Paul schließlich die Flucht und der Aufbau eines neuen Lebens auf einem anderen Kontinent, während Fredy Palästina niemals sehen sollte.Zunächst aber verließ Fredy Hirsch Aachen. Mit 16 Jahren lebte er zunächst in Düsseldorf, später in Frankfurt am Main und Dresden. Er übernahm Ämter im Jüdischen Pfadfinderbund und begann 1935 als Sportlehrer für den jüdischen Sportverein Makkabi in Dresden zu arbeiten. Zu Makkabi gelangte er durch die Vereinigung des JPD mit der 1929 in Prag gegründeten Jugendorganisation Makkabi Hatzair. Das Programm der Jugendorganisation des jüdischen Sportbundes Makkabi und Fredys bisherige Tätigkeiten passten mehr als gut zueinander, beide verbanden einen sportlichen Schwerpunkt mit der praktischen Vorbereitung auf die Auswanderung nach Palästina.PragAm 1. September 1935 verließ Fredy Hirsch Deutschland. Sein Weg führte ihn jedoch nicht nach Palästina, sondern nach Prag. Für diesen Schritt kommen verschiedene Gründe in Frage. Einerseits verschärfte sich die nationalsozialistische Verfolgung von Jüdinnen:Juden immer mehr, andererseits befand sich in Prag die Zentrale des Makkabi Hatzair, ein Ort, der für Fredy Hirsch sicherlich große Anziehungskraft besaß. Nach der Verschärfung des Paragrafen 175 im Sommer 1935 arbeitete die Gestapo aber auch mit Nachdruck an der Verfolgung homosexueller Männer in Deutschland. Spätestens 1934 war Fredy Hirsch zum ersten Mal aufgrund seiner sexuellen Orientierung in eine problematische Lage geraten. Nachdem die Vermutung laut geworden war, er könnte homosexuell sein, musste er die Leitung seiner Frankfurter Pfadfindergruppe abgeben.Die Gerüchte folgten Fredy Hirsch nach Prag, wo er ebenfalls als Sportlehrer für Makkabi Hatzair arbeitete. Die Leitung der jüdischen Turnvereinigung in Prag forderte von ihm das Versprechen, „anständig“ zu bleiben, nachdem andere jüdische Flüchtlinge aus Deutschland ihre Bedenken darüber, dass mit ihm „etwas nicht stimme“, vorgetragen hatten. Im Gegensatz zu den Ereignissen in Frankfurt am Main gab es jedoch diesmal keine weiteren negativen Konsequenzen für Fredy Hirsch. Das Vertrauen in ihn schien ungebrochen, ihm wurde die Leitung von Jugendlagern und Freizeiten ebenso übertragen wie die Organisation und Modernisierung der Ausbildung jüdischer Sportlehrer.BrünnEnde 1936 zog Fredy Hirsch von Prag nach Brünn. Hier lernte er Jan Mautner kennen, der ebenfalls bei Makkabi Hatzair arbeitete. Die beiden wurden ein Paar. Nach dem deutschen Einmarsch 1939 schlossen die Nazis die tschechischsprachigen Hochschulen. Für Jan Mautner bedeutete dies das vorzeitige Ende seines Medizinstudiums, und so zog er gemeinsam mit Fredy Hirsch nach Prag. Beide setzten ihre Arbeit als Sportlehrer für jüdische Kinder fort. Die sportlichen Aktivitäten auf dem „Hagibor“ genannten Sportplatz unweit des neuen jüdischen Friedhofs in Prag waren für diese Kinder einer der wenigen Lichtblicke, nachdem die Nationalsozialisten die Ausgrenzung und Isolation der jüdischen Bevölkerung im „Protektorat Böhmen und Mähren“ innerhalb kurzer Zeit an die Situation im Deutschen Reich beinahe angeglichen hatten.„Hagibor“Neben Sport gab es in „Hagibor“ viele weitere Angebote für jüdische Kinder und Jugendliche, vom gemeinsamen Singen und dem Erlernen neuer Lieder bis hin zu Wettbewerben verschiedenster Art. Auch Fredy Hirschs Tätigkeit beschränkte sich nicht nur auf das Erteilen von Sportunterricht. Für viele Kinder wurde er zu einer wichtigen Bezugsperson, er war bekannt und beliebt. Einige Zeitzeug:innen erinnern sich bis heute an ein Lied, das damals über ihn gedichtet wurde und in dem sich gleichermaßen Wertschätzung und Zuneigung wie ein gewisser Spott über seinen Hang zu beinahe militärischer Disziplin ausdrücken. Immer wieder taucht er als Schwarm pubertierender Mädchen in deren späterer Erinnerung auf, während Zeitzeugen berichten, wie unter den Jungen heimlich darüber gewitzelt wurde, dass die Mädchen bei Fredy nie eine Chance haben würden. Für viele der Kinder und Jugendlichen wurde Fredy Hirsch zu einem Idol.Deportation nach TheresienstadtEnde 1941 wurde Fredy Hirsch nach Theresienstadt deportiert. Er gehörte zu den ersten Gefangenen dort, die das Lager und seine Infrastruktur aufbauen mussten und wurde Teil der sogenannten jüdischen Selbstverwaltung. Zunächst leitete er die Gebäudeverwaltung, eine Aufgabe, die er mit Hilfe seines praktischen Zugangs zu Problemen und seines Organisationsgeschickes gut machte, aber mit der er selbst nicht zufrieden war. Er bemühte sich weiter um Kinder und Jugendliche, organisierte für sie eine Tagesstruktur und Aktivitäten, suchte nach denjenigen, die Hilfe brau­chten und tat sein Bestes, um diese dann auch zu organisieren. Nach einiger Zeit wechselte er in die „Jugendfürsorge“ genannte Abteilung, die er gemeinsam mit Egon Redlich leitete. Die Zusammenarbeit mit diesem war konfliktträchtig, aber dennoch erfolgreich. Fredy Hirsch regte die Bildung von „Kinderheimen“ und „Jugendheimen“ an, die Schutz boten vor dem Ghettoalltag und trotz des Verbots durch die SS die Möglichkeit eröffneten, so etwas wie Schulunterricht zu organisieren. Disziplin gehörte weiter zu den Kerninhalten seiner pädagogischen Bemühungen.DisziplinDisziplin und Selbstdisziplin waren für Fredy Hirsch immer von zentraler Bedeutung. So schrieb er 1939/1940 in der deutschsprachigen Ausgabe des Prager Jüdischen Nachrichtenblatts: „Ein Körper, der sich von früh an in der Natur abgehärtet, der einmal an die Grenze der Leistungsfähigkeit bei Sport und Spiel geführt wird, der den sogenannten ‚toten Punkt‘, d.h. jene Empfindung, die besagt, ich kann nicht mehr, durch das ‚Ich will‘ überwunden hat, wird auch der Krankheit und vor allen Dingen den Härten des Lebens widerstehen.“ Konsequenterweise wandte er sich dann auch mit dieser Forderung an die Jugendlichen, die er betreute: „Du wirst begreifen, dass ich als Voraussetzung von dir verlange, dass du dich auf den Standpunkt stellst: Ich will. Denn wenn ich weiß, dass du alles versuchen wirst, um Kraft, Geschicklichkeit und Ausdauer zu erwerben, so werde ich dir schon einen Weg weisen können, der dich innerlich auf eine höhere Stufe bringen wird.“ Diese Haltung, die einerseits geprägt ist von Fredys eigener Erziehung im Deutschland der 1920er Jahre und andererseits von seinen zionistischen Idealen getragen wurde, traf in Prag zunächst auf weniger Anklang. Doch nach der Deportation nach Theresienstadt gewann diese idealistische Haltung zunehmend an praktischer Relevanz, die zum Überleben beitrug.Deportation nach Auschwitz-BirkenauIn Auschwitz-Birkenau schließlich wurde sie zu etwas, das tatsächlich über Leben und Tod entscheiden konnte. Anfang September 1943 wurde Fredy Hirsch dorthin deportiert. Eigentlich genoss er als Mitglied der „jüdischen Selbstverwaltung“ in Theresienstadt vor einer weiteren Deportation Schutz, doch Fredy Hirsch war bekannt dafür, seine Grenzen auszutesten. Viele erinnern sich daran, dass er der SS gegenüber selbstbewusst auftrat. In Auschwitz gelang es ihm, selbst mit dem SS-Arzt Josef Mengele auf eine Art zu reden, die von anderen als „auf Augenhöhe“ wahrgenommen wurde. Und immer wieder erhielt er Dinge von der SS, die andere zu erbitten für unmöglich hielten. In Theresienstadt erreichte er die Freigabe eines Ortes als Sport- und Erholungsgelände für die Gefangenen des Ghettos. Im Gegenzug, so heißt es, soll er aber auch SS-Männer in Kampfsport unterrichtet haben. Des Zwiespalts dieser Handlungen soll er sich bewusst gewesen sein, offenbar setzte er aber klare Prioritäten — solange es den Kindern und Jugendlichen half, war es für ihn vertretbar, auch Deals mit der SS zu machen. Als Ende August 1943 ein Transport mit 1.200 Kindern aus Bialystok in Theresienstadt eintraf, verhängte die SS eine strikte Kontaktsperre, um jeden Informationsaustausch zu unterbinden. Die Kinder, so stellte sich schnell heraus, wussten genau, was „im Osten“ geschah. Sie weigerten sich, duschen zu gehen, denn sie nahmen an, dass dies ihren Tod bedeuten würde. Fredy Hirsch versuchte, die Kontaktsperre zu umgehen. Er wurde erwischt.Das „Theresienstädter Familienlager“Wenige Tage später wurde er mit vielen anderen nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Hier richtete die SS das sogenannte Theresienstädter Familienlager ein, das sich in einigen Punkten grundsätzlich von den meisten übrigen Teilen des Lagers unterschied. Die aus Theresienstadt ankommenden Transporte wurden keiner Selektion unterzogen, weder die Alten noch die Kinder wie üblich umgehend nach der Ankunft ermordet. Fredy Hirsch erreichte bei der SS die Einrichtung eines Kinderblocks. Er überzeugte sie offenbar mit dem Argument, dass ihnen dies die Arbeit erleichtere, bei der die Kinder ansonsten nur stören würden. Für die Kinder bedeutete der Kinderblock einen Ort, an dem sie verhältnismäßig großen Schutz genossen, an dem die SS zwar auch regelmäßig erschien, jedoch eher in der Rolle des freundlichen Onkels auftrat oder als Publikum für ein Theaterstück. Es gelang sogar, den Kinderblock regelmäßig zu heizen und eine bessere Ernährung als im übrigen Lager zu organisieren.Disziplin spielte hier eine noch viel größere Rolle als in Theresienstadt. Um weder Privilegien zu verlieren noch Leben zu gefährden, durften die Kinder und ihre zumeist jugendlichen Betreuer:innen keine Fehler machen, wenn ihnen Fragen gestellt wurden, denn im Kinderblock ging man durchaus auch Aktivitäten nach, die von der SS nicht genehmigt worden waren. Beispielsweise wurde der Schulunterricht so gut es ging fortgeführt. Um die SS bei Laune zu halten, galt es, deutsche Lieder und Gedichte auswendig zu lernen und jederzeit auf Verlangen möglichst gut vorzutragen. Sich auch im Winter bei Minusgraden mit Schnee zu waschen, erforderte ebenfalls viel Disziplin und Selbstüberwindung, rettete aber unter den Lagerbedingungen als einzige Möglichkeit zur Körperhygiene Leben.Fredy Hirschs Leben aber war nicht zu retten. Er starb am 8. März 1944 in Auschwitz-Birkenau. Die genauen Umstände seines Todes sind bis heute ungeklärt. Lange galt er als Selbstmörder, den im entscheidenden Moment der Mut verlassen habe. Angesichts der bevorstehenden Ermordung des gesamten September-Transportes, mit dem er nach Auschwitz-Birkenau gekommen war, soll ihm angetragen worden sein, einen Aufstand anzuführen. Er soll dieser Bitte nicht nachgekommen und ein starkes Schlafmittel genommen haben, um seinem Leben, das er als Funktionshäftling mit guten Kontakten vermutlich zumindest einstweilen hätte retten können, ein Ende zu setzen. Eine Zeitzeugin sagte später jedoch aus, dass Fredy Hirsch sich Bedenkzeit für eine Entscheidung erbeten und sich ob der besonderen Situation mit der Bitte um ein Beruhigungsmittel an ebenfalls gefangene Ärzt:innen in der Position von Funktionshäftlingen im Lager gewandt hätte. Diese hätten ihm aus Angst, auch sie selbst würden im Falle eines Aufstands von der SS getötet, ein absichtlich zu stark dosiertes Medikament ausgehändigt. Ob Fredy Hirsch an diesem Medikament starb oder — ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben — in einem der Öfen des Krematorium IV, ist nicht bekannt.Im „Park der Theresienstädter Kinder“Die nationale Gedenkfeier anlässlich des 50. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges fand in Tschechien am 21. Mai 1995 statt. Nach dem Ende des offiziellen Gedenkaktes kam eine Gruppe Überlebender am Nachmittag erneut zusammen — auf dem Gelände hinter dem Gebäude, das seit 1991 das Ghetto-Museum beherbergt. Zwei Jahre zuvor war hier der „Park der Theresienstädter Kinder“ eingeweiht worden. Der „Park“ ist eigentlich „nur“ ein Garten, angelegt um die Statue eines nackten jungen Mädchens herum, das den Triumph des Lebens über den Tod symbolisieren soll. Aus dem Empfinden heraus, dass sie ihr Überleben Fredy Hirsch verdankten, fügten die Überlebenden an diesem Tag eine weitere Plastik hinzu. Sie wurde an der Hauswand des ehemaligen ersten Kinderheims, das Fredy Hirsch im Ghetto Theresienstadt einrichten konnte, angebracht. Von hier aus blickt Fredy Hirsch seitdem über den „Park der Theresienstädter Kinder“. Dass er hier viel Besuch erhält, ist unwahrscheinlich, bedenkt man, wie versteckt der Park selbst im übersichtlichen Festungsstädtchen Terezín gelegen ist.Erinnerung an Fredy HirschFredy Hirsch ist nicht in Vergessenheit geraten. Seit dem Jahr 2000 erschienen mehrere Bücher in verschiedenen Sprachen über ihn und sein Leben, mehrere Filme wurden gedreht, selbst eine ZDF-History-Folge ist ihm gewidmet. Ein Pfadfinderstamm in Berlin trägt seinen Namen, ein Stolperstein liegt vor dem Grundstück, auf dem sein Elternhaus in Aachen stand. Und die heute dort bestehende Gemeinschaftsgartenanlage trägt ebenfalls einen Namen, der an ihn erinnern soll. Seine ehemalige Schule, heute das Couven-Gymnasium in Aachen, benannte die Schulmensa in „Fredy-Hirsch-Forum“ um. Am 11. Februar 2021 begrüßte ein Fredy-Hirsch-Doodle sämtliche Google-Nutzer:innen in Deutschland, Tschechien und Israel. Und auch die Tatsache, dass Fredy Hirsch homosexuell war, ist Bestandteil dieser Erinnerung an ihn geworden.--Tipps der LOTTA für die Weiterbeschäftigung mit Fredy HirschOndrichová, Lucie (hrsg. von Erhard Roy Wiehn): Fredy Hirsch. Von Aachen über Düsseldorf und Frankfurt am Main in Prag, Ostrava, Brünn, Prag und andernorts, dann durch Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau, Konstanz 2017 (2. überarbeitete Auflage)Kämper, Dirk: Fredy Hirsch und die Kinder des Holocaust, Zürich 2015 (nur noch – mit Glück - antiquarisch erhältlich)Van Dijk, Lutz: „Jeder wusste es". Fredy Hirsch (1916 bis 1944), jüdisch, schwul und bis zuletzt für andere da. In: Joanna Ostrowska, Joanna Talewicz-Kwiatkowska, Lutz van Dijk: Erinnern in Auschwitz: Auch an sexuelle Minderheiten, Berlin 2020TIC BRNO (Hg.): DAS IST: Das jüdische Brünn, Brno 2020Hájková, Anna: Jung, schwul – und von den Nazis ermordet, Tagesspiegel v. 31.08.2018Hoffmann, Eduard/Nendza, Jürgen: Der stille Held von Auschwitz. Eine lange Nacht über Fredy Hirsch, Deutschlandfunk v. 28.01.2017Yad Vashem (Blog Archiv): Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper – Der Sportler und Erzieher Fredy HirschJüdisches Museum Prag: Dokumente zu Fredy HirschStadtarchiv Aachen: Archivalie des Monats Februar 2016Lohe, Alexander: Fredy Hirsch. Gedenkbuchprojekt für die Opfer der Shoah aus AachenGoogle-Doodle Fredy HirschZDF History: Ein deutscher Held. Fredy Hirsch und die Kinder des Holocaust, DE 2019, wieder im Fernsehen am 27.02.2022Gat, Rubi: Dear Fredy, Israel 2017Gratis (aber mit Werbung) beim Streaming-Media-Dienst Plex zu sehen Geschichte 7706 Fri, 04 Feb 2022 21:16:47 +0100 LOTTA Fredy Hirsch Finja Straub 1932, irgendwo zwischen Ratingen und Düsseldorf. Kurz nachdem eine Gruppe „Kittelbach-Piraten“ eine Straßenbahn bestiegen hat, fliegt die Mütze eines jüdischen Pfadfinders aus der Bahn auf die Straße. Und dann einer der „Kittelbach-Piraten“ hinterher. Angelegt haben sie sich diesmal mit den Falschen — der jüdischen Pfadfindergruppe von Fredy Hirsch. Doch wer war Fredy Hirsch?Mehr als diese kurze Begebenheit ist nicht über die Zeit bekannt, die Fredy Hirsch in Düsseldorf verbrachte. Es war aber wohl nicht die erste Situation dieser Art, in der sich der gebürtige Aachener erfolgreich gegen Nazis, die ihn und seine Freund:innen angingen, zur Wehr setzte. Bis zu seinem Tod am 8. März 1944 in Auschwitz-Birkenau bot er ihnen im Rahmen des Möglichen die Stirn.AachenFredy — eigentlich Alfred — Hirsch, wurde am 11. Februar 1916 in Aachen geboren. Er war der zweite Sohn von Heinrich und Olga Hirsch, die einen Lebensmittelgroßhandel am Rande der Aachener Innenstadt betrieben. Beide Söhne besuchten die Israelitische Volksschule und waren Mitglieder des Jüdischen Jugendvereins der Aachener Synagoge, der Aktivitäten wie Leichtathletik, Turnen und Wandern anbot. Mit dem Tod des Vaters 1926 zerfiel die Kernfamilie, und der Jüdische Jugendverein und die dort um etwa dieselbe Zeit gegründete erste jüdische Pfadfindergruppe Aachens wurden zur Ersatzfamilie für Fredy und seinen zwei Jahre älteren Bruder Paul.Besonders prägend schien diese Erfahrung für Fredy zu sein. Nachdem er die Oberrealschule 1931 nach der neunten Klasse verlassen hatte, baute er sich langsam, aber sicher eine Karriere als Verbandsfunktionär auf. Der 1931 gegründete Jüdische Pfadfinderbund Deutschland (JPD) bot ihm dazu die Möglichkeit. Der JPD verfolgte das Anliegen, Dachverband für alle jüdischen Jugendverbände zu sein und positionierte sich daher zunächst nicht in der seit Jahren schwelenden Debatte um die Frage „zionistisch“ oder „deutsch-jüdisch“. Mit zunehmender Repression durch die Nationalsozialisten wurde aber bald eine zionistische Tendenz des Verbandes sichtbar, mit der sich auch Fredy identifizierte. Er setzte seine Hoffnungen in die „Alija“, die Auswanderung nach Palästina, und ein neues Leben in Erez Israel, träumte vom Aufbau eines jüdischen Staates und Abenteuern in einer für ihn neuen Welt. Sein Bruder Paul hingegen war nicht bereit, seine Heimat in Deutschland aufzugeben, wollte die Nationalsozialisten überdauern und ein deutsch-jüdisches Leben erhalten, um es später, in besseren Zeiten, weiter auf- und auszubauen. Ironischerweise gelang Paul schließlich die Flucht und der Aufbau eines neuen Lebens auf einem anderen Kontinent, während Fredy Palästina niemals sehen sollte.Zunächst aber verließ Fredy Hirsch Aachen. Mit 16 Jahren lebte er zunächst in Düsseldorf, später in Frankfurt am Main und Dresden. Er übernahm Ämter im Jüdischen Pfadfinderbund und begann 1935 als Sportlehrer für den jüdischen Sportverein Makkabi in Dresden zu arbeiten. Zu Makkabi gelangte er durch die Vereinigung des JPD mit der 1929 in Prag gegründeten Jugendorganisation Makkabi Hatzair. Das Programm der Jugendorganisation des jüdischen Sportbundes Makkabi und Fredys bisherige Tätigkeiten passten mehr als gut zueinander, beide verbanden einen sportlichen Schwerpunkt mit der praktischen Vorbereitung auf die Auswanderung nach Palästina.PragAm 1. September 1935 verließ Fredy Hirsch Deutschland. Sein Weg führte ihn jedoch nicht nach Palästina, sondern nach Prag. Für diesen Schritt kommen verschiedene Gründe in Frage. Einerseits verschärfte sich die nationalsozialistische Verfolgung von Jüdinnen:Juden immer mehr, andererseits befand sich in Prag die Zentrale des Makkabi Hatzair, ein Ort, der für Fredy Hirsch sicherlich große Anziehungskraft besaß. Nach der Verschärfung des Paragrafen 175 im Sommer 1935 arbeitete die Gestapo aber auch mit Nachdruck an der Verfolgung homosexueller Männer in Deutschland. Spätestens 1934 war Fredy Hirsch zum ersten Mal aufgrund seiner sexuellen Orientierung in eine problematische Lage geraten. Nachdem die Vermutung laut geworden war, er könnte homosexuell sein, musste er die Leitung seiner Frankfurter Pfadfindergruppe abgeben.Die Gerüchte folgten Fredy Hirsch nach Prag, wo er ebenfalls als Sportlehrer für Makkabi Hatzair arbeitete. Die Leitung der jüdischen Turnvereinigung in Prag forderte von ihm das Versprechen, „anständig“ zu bleiben, nachdem andere jüdische Flüchtlinge aus Deutschland ihre Bedenken darüber, dass mit ihm „etwas nicht stimme“, vorgetragen hatten. Im Gegensatz zu den Ereignissen in Frankfurt am Main gab es jedoch diesmal keine weiteren negativen Konsequenzen für Fredy Hirsch. Das Vertrauen in ihn schien ungebrochen, ihm wurde die Leitung von Jugendlagern und Freizeiten ebenso übertragen wie die Organisation und Modernisierung der Ausbildung jüdischer Sportlehrer.BrünnEnde 1936 zog Fredy Hirsch von Prag nach Brünn. Hier lernte er Jan Mautner kennen, der ebenfalls bei Makkabi Hatzair arbeitete. Die beiden wurden ein Paar. Nach dem deutschen Einmarsch 1939 schlossen die Nazis die tschechischsprachigen Hochschulen. Für Jan Mautner bedeutete dies das vorzeitige Ende seines Medizinstudiums, und so zog er gemeinsam mit Fredy Hirsch nach Prag. Beide setzten ihre Arbeit als Sportlehrer für jüdische Kinder fort. Die sportlichen Aktivitäten auf dem „Hagibor“ genannten Sportplatz unweit des neuen jüdischen Friedhofs in Prag waren für diese Kinder einer der wenigen Lichtblicke, nachdem die Nationalsozialisten die Ausgrenzung und Isolation der jüdischen Bevölkerung im „Protektorat Böhmen und Mähren“ innerhalb kurzer Zeit an die Situation im Deutschen Reich beinahe angeglichen hatten.„Hagibor“Neben Sport gab es in „Hagibor“ viele weitere Angebote für jüdische Kinder und Jugendliche, vom gemeinsamen Singen und dem Erlernen neuer Lieder bis hin zu Wettbewerben verschiedenster Art. Auch Fredy Hirschs Tätigkeit beschränkte sich nicht nur auf das Erteilen von Sportunterricht. Für viele Kinder wurde er zu einer wichtigen Bezugsperson, er war bekannt und beliebt. Einige Zeitzeug:innen erinnern sich bis heute an ein Lied, das damals über ihn gedichtet wurde und in dem sich gleichermaßen Wertschätzung und Zuneigung wie ein gewisser Spott über seinen Hang zu beinahe militärischer Disziplin ausdrücken. Immer wieder taucht er als Schwarm pubertierender Mädchen in deren späterer Erinnerung auf, während Zeitzeugen berichten, wie unter den Jungen heimlich darüber gewitzelt wurde, dass die Mädchen bei Fredy nie eine Chance haben würden. Für viele der Kinder und Jugendlichen wurde Fredy Hirsch zu einem Idol.Deportation nach TheresienstadtEnde 1941 wurde Fredy Hirsch nach Theresienstadt deportiert. Er gehörte zu den ersten Gefangenen dort, die das Lager und seine Infrastruktur aufbauen mussten und wurde Teil der sogenannten jüdischen Selbstverwaltung. Zunächst leitete er die Gebäudeverwaltung, eine Aufgabe, die er mit Hilfe seines praktischen Zugangs zu Problemen und seines Organisationsgeschickes gut machte, aber mit der er selbst nicht zufrieden war. Er bemühte sich weiter um Kinder und Jugendliche, organisierte für sie eine Tagesstruktur und Aktivitäten, suchte nach denjenigen, die Hilfe brau­chten und tat sein Bestes, um diese dann auch zu organisieren. Nach einiger Zeit wechselte er in die „Jugendfürsorge“ genannte Abteilung, die er gemeinsam mit Egon Redlich leitete. Die Zusammenarbeit mit diesem war konfliktträchtig, aber dennoch erfolgreich. Fredy Hirsch regte die Bildung von „Kinderheimen“ und „Jugendheimen“ an, die Schutz boten vor dem Ghettoalltag und trotz des Verbots durch die SS die Möglichkeit eröffneten, so etwas wie Schulunterricht zu organisieren. Disziplin gehörte weiter zu den Kerninhalten seiner pädagogischen Bemühungen.DisziplinDisziplin und Selbstdisziplin waren für Fredy Hirsch immer von zentraler Bedeutung. So schrieb er 1939/1940 in der deutschsprachigen Ausgabe des Prager Jüdischen Nachrichtenblatts: „Ein Körper, der sich von früh an in der Natur abgehärtet, der einmal an die Grenze der Leistungsfähigkeit bei Sport und Spiel geführt wird, der den sogenannten ‚toten Punkt‘, d.h. jene Empfindung, die besagt, ich kann nicht mehr, durch das ‚Ich will‘ überwunden hat, wird auch der Krankheit und vor allen Dingen den Härten des Lebens widerstehen.“ Konsequenterweise wandte er sich dann auch mit dieser Forderung an die Jugendlichen, die er betreute: „Du wirst begreifen, dass ich als Voraussetzung von dir verlange, dass du dich auf den Standpunkt stellst: Ich will. Denn wenn ich weiß, dass du alles versuchen wirst, um Kraft, Geschicklichkeit und Ausdauer zu erwerben, so werde ich dir schon einen Weg weisen können, der dich innerlich auf eine höhere Stufe bringen wird.“ Diese Haltung, die einerseits geprägt ist von Fredys eigener Erziehung im Deutschland der 1920er Jahre und andererseits von seinen zionistischen Idealen getragen wurde, traf in Prag zunächst auf weniger Anklang. Doch nach der Deportation nach Theresienstadt gewann diese idealistische Haltung zunehmend an praktischer Relevanz, die zum Überleben beitrug.Deportation nach Auschwitz-BirkenauIn Auschwitz-Birkenau schließlich wurde sie zu etwas, das tatsächlich über Leben und Tod entscheiden konnte. Anfang September 1943 wurde Fredy Hirsch dorthin deportiert. Eigentlich genoss er als Mitglied der „jüdischen Selbstverwaltung“ in Theresienstadt vor einer weiteren Deportation Schutz, doch Fredy Hirsch war bekannt dafür, seine Grenzen auszutesten. Viele erinnern sich daran, dass er der SS gegenüber selbstbewusst auftrat. In Auschwitz gelang es ihm, selbst mit dem SS-Arzt Josef Mengele auf eine Art zu reden, die von anderen als „auf Augenhöhe“ wahrgenommen wurde. Und immer wieder erhielt er Dinge von der SS, die andere zu erbitten für unmöglich hielten. In Theresienstadt erreichte er die Freigabe eines Ortes als Sport- und Erholungsgelände für die Gefangenen des Ghettos. Im Gegenzug, so heißt es, soll er aber auch SS-Männer in Kampfsport unterrichtet haben. Des Zwiespalts dieser Handlungen soll er sich bewusst gewesen sein, offenbar setzte er aber klare Prioritäten — solange es den Kindern und Jugendlichen half, war es für ihn vertretbar, auch Deals mit der SS zu machen. Als Ende August 1943 ein Transport mit 1.200 Kindern aus Bialystok in Theresienstadt eintraf, verhängte die SS eine strikte Kontaktsperre, um jeden Informationsaustausch zu unterbinden. Die Kinder, so stellte sich schnell heraus, wussten genau, was „im Osten“ geschah. Sie weigerten sich, duschen zu gehen, denn sie nahmen an, dass dies ihren Tod bedeuten würde. Fredy Hirsch versuchte, die Kontaktsperre zu umgehen. Er wurde erwischt.Das „Theresienstädter Familienlager“Wenige Tage später wurde er mit vielen anderen nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Hier richtete die SS das sogenannte Theresienstädter Familienlager ein, das sich in einigen Punkten grundsätzlich von den meisten übrigen Teilen des Lagers unterschied. Die aus Theresienstadt ankommenden Transporte wurden keiner Selektion unterzogen, weder die Alten noch die Kinder wie üblich umgehend nach der Ankunft ermordet. Fredy Hirsch erreichte bei der SS die Einrichtung eines Kinderblocks. Er überzeugte sie offenbar mit dem Argument, dass ihnen dies die Arbeit erleichtere, bei der die Kinder ansonsten nur stören würden. Für die Kinder bedeutete der Kinderblock einen Ort, an dem sie verhältnismäßig großen Schutz genossen, an dem die SS zwar auch regelmäßig erschien, jedoch eher in der Rolle des freundlichen Onkels auftrat oder als Publikum für ein Theaterstück. Es gelang sogar, den Kinderblock regelmäßig zu heizen und eine bessere Ernährung als im übrigen Lager zu organisieren.Disziplin spielte hier eine noch viel größere Rolle als in Theresienstadt. Um weder Privilegien zu verlieren noch Leben zu gefährden, durften die Kinder und ihre zumeist jugendlichen Betreuer:innen keine Fehler machen, wenn ihnen Fragen gestellt wurden, denn im Kinderblock ging man durchaus auch Aktivitäten nach, die von der SS nicht genehmigt worden waren. Beispielsweise wurde der Schulunterricht so gut es ging fortgeführt. Um die SS bei Laune zu halten, galt es, deutsche Lieder und Gedichte auswendig zu lernen und jederzeit auf Verlangen möglichst gut vorzutragen. Sich auch im Winter bei Minusgraden mit Schnee zu waschen, erforderte ebenfalls viel Disziplin und Selbstüberwindung, rettete aber unter den Lagerbedingungen als einzige Möglichkeit zur Körperhygiene Leben.Fredy Hirschs Leben aber war nicht zu retten. Er starb am 8. März 1944 in Auschwitz-Birkenau. Die genauen Umstände seines Todes sind bis heute ungeklärt. Lange galt er als Selbstmörder, den im entscheidenden Moment der Mut verlassen habe. Angesichts der bevorstehenden Ermordung des gesamten September-Transportes, mit dem er nach Auschwitz-Birkenau gekommen war, soll ihm angetragen worden sein, einen Aufstand anzuführen. Er soll dieser Bitte nicht nachgekommen und ein starkes Schlafmittel genommen haben, um seinem Leben, das er als Funktionshäftling mit guten Kontakten vermutlich zumindest einstweilen hätte retten können, ein Ende zu setzen. Eine Zeitzeugin sagte später jedoch aus, dass Fredy Hirsch sich Bedenkzeit für eine Entscheidung erbeten und sich ob der besonderen Situation mit der Bitte um ein Beruhigungsmittel an ebenfalls gefangene Ärzt:innen in der Position von Funktionshäftlingen im Lager gewandt hätte. Diese hätten ihm aus Angst, auch sie selbst würden im Falle eines Aufstands von der SS getötet, ein absichtlich zu stark dosiertes Medikament ausgehändigt. Ob Fredy Hirsch an diesem Medikament starb oder — ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben — in einem der Öfen des Krematorium IV, ist nicht bekannt.Im „Park der Theresienstädter Kinder“Die nationale Gedenkfeier anlässlich des 50. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges fand in Tschechien am 21. Mai 1995 statt. Nach dem Ende des offiziellen Gedenkaktes kam eine Gruppe Überlebender am Nachmittag erneut zusammen — auf dem Gelände hinter dem Gebäude, das seit 1991 das Ghetto-Museum beherbergt. Zwei Jahre zuvor war hier der „Park der Theresienstädter Kinder“ eingeweiht worden. Der „Park“ ist eigentlich „nur“ ein Garten, angelegt um die Statue eines nackten jungen Mädchens herum, das den Triumph des Lebens über den Tod symbolisieren soll. Aus dem Empfinden heraus, dass sie ihr Überleben Fredy Hirsch verdankten, fügten die Überlebenden an diesem Tag eine weitere Plastik hinzu. Sie wurde an der Hauswand des ehemaligen ersten Kinderheims, das Fredy Hirsch im Ghetto Theresienstadt einrichten konnte, angebracht. Von hier aus blickt Fredy Hirsch seitdem über den „Park der Theresienstädter Kinder“. Dass er hier viel Besuch erhält, ist unwahrscheinlich, bedenkt man, wie versteckt der Park selbst im übersichtlichen Festungsstädtchen Terezín gelegen ist.Erinnerung an Fredy HirschFredy Hirsch ist nicht in Vergessenheit geraten. Seit dem Jahr 2000 erschienen mehrere Bücher in verschiedenen Sprachen über ihn und sein Leben, mehrere Filme wurden gedreht, selbst eine ZDF-History-Folge ist ihm gewidmet. Ein Pfadfinderstamm in Berlin trägt seinen Namen, ein Stolperstein liegt vor dem Grundstück, auf dem sein Elternhaus in Aachen stand. Und die heute dort bestehende Gemeinschaftsgartenanlage trägt ebenfalls einen Namen, der an ihn erinnern soll. Seine ehemalige Schule, heute das Couven-Gymnasium in Aachen, benannte die Schulmensa in „Fredy-Hirsch-Forum“ um. Am 11. Februar 2021 begrüßte ein Fredy-Hirsch-Doodle sämtliche Google-Nutzer:innen in Deutschland, Tschechien und Israel. Und auch die Tatsache, dass Fredy Hirsch homosexuell war, ist Bestandteil dieser Erinnerung an ihn geworden.--Tipps der LOTTA für die Weiterbeschäftigung mit Fredy HirschOndrichová, Lucie (hrsg. von Erhard Roy Wiehn): Fredy Hirsch. Von Aachen über Düsseldorf und Frankfurt am Main in Prag, Ostrava, Brünn, Prag und andernorts, dann durch Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau, Konstanz 2017 (2. überarbeitete Auflage)Kämper, Dirk: Fredy Hirsch und die Kinder des Holocaust, Zürich 2015 (nur noch – mit Glück - antiquarisch erhältlich)Van Dijk, Lutz: „Jeder wusste es". Fredy Hirsch (1916 bis 1944), jüdisch, schwul und bis zuletzt für andere da. In: Joanna Ostrowska, Joanna Talewicz-Kwiatkowska, Lutz van Dijk: Erinnern in Auschwitz: Auch an sexuelle Minderheiten, Berlin 2020TIC BRNO (Hg.): DAS IST: Das jüdische Brünn, Brno 2020Hájková, Anna: Jung, schwul – und von den Nazis ermordet, Tagesspiegel v. 31.08.2018Hoffmann, Eduard/Nendza, Jürgen: Der stille Held von Auschwitz. Eine lange Nacht über Fredy Hirsch, Deutschlandfunk v. 28.01.2017Yad Vashem (Blog Archiv): Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper – Der Sportler und Erzieher Fredy HirschJüdisches Museum Prag: Dokumente zu Fredy HirschStadtarchiv Aachen: Archivalie des Monats Februar 2016Lohe, Alexander: Fredy Hirsch. Gedenkbuchprojekt für die Opfer der Shoah aus AachenGoogle-Doodle Fredy HirschZDF History: Ein deutscher Held. Fredy Hirsch und die Kinder des Holocaust, DE 2019, wieder im Fernsehen am 27.02.2022Gat, Rubi: Dear Fredy, Israel 2017Gratis (aber mit Werbung) beim Streaming-Media-Dienst Plex zu sehen 2022-02-04T21:16:47+01:00 „Der Beginn der ‚Endlösung‘“ | Das Vernichtungslager Kulmhof in Chełmno https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/85/der-beginn-der-endl-sung In der 300 Einwohner*innen umfassenden Gemeinde Chełmno, 70 Kilometer nordwestlich der Großstadt Łódź, errichteten die Deutschen im Dezember 1941 das erste Vernichtungslager im besetzten Polen. Mindestens 152.000 Jüdinnen*Juden sowie über 5.000 weitere Menschen, die allermeisten Sinti*zze und Rom*nja, wurden dort durch Kohlenmonoxid in zu mobilen Gaskammern umgebauten Lastkraftwagen ermordet.Es war ein albtraumhaftes Geschehen, das sich in der Nacht vom 17. auf den 18. Januar 1945 auf dem Hof eines ehemaligen, von einem Bretterzaun umgebenen Gutshauses am Rande des Dorfes Cheł­mno, das nach dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939 in Kulmhof umbenannt wurde, abspielte. Rund um die auf dem Anwesen gelegene Scheune, in der mehrere Dutzend jüdische Männer gefangen gehalten wurden, hatten sich schwerbewaffnete SS- und Polizeiangehörige — Mitglieder eines sogenannten „Sonderkommandos“ postiert. In Gruppen zu je fünf Personen mussten die Gefangenen auf den Hof treten und sich auf die Erde legen. Dann wurden sie erschossen. Unter ihnen befand sich der damals 14-jährige Szymon Srebrnik. Doch wie durch ein Wunder überlebte er das Massaker. Von den Angehörigen des „Sonderkommandos“ offenkundig für tot gehalten, gelang es ihm, trotz seiner schweren Verletzungen in einem unbeobachteten Augenblick in der Dunkelheit zu entkommen. Er versteckte sich in einem nahe gelegenen Dorf und erlebte dort nur kurze Zeit später die Befreiung durch die Rote Armee. Szymon Srebrnik ist einer der wenigen Überlebenden des Vernichtungslagers Kulmhof.Beginn der „Endlösung“Die Mordstätte in Chełmno, an der am 8. Dezember 1941 die Angehörigen eines „Sonderkommandos“ ihr akribisch vorbereitetes tödliches Werk in Gang setzten, war das erste Vernichtungslager im Rahmen der Shoah, noch bevor am 20. Januar 1942 auf der „Wannseekonferenz“ in Berlin die bereits angelaufene systematische Ermordung der europäischen Jüdinnen*Juden weiter koordiniert werden sollte. Die Politik der Vernichtung auf dem Gebiet des „Reichsgau Wartheland“, wo Chełmno lag, ging der „Aktion Reinhardt“ (vgl. LOTTA #66, #67 und #69) voraus — der im März 1942 beginnenden Ermordung der jüdischen Bevölkerung im östlich angrenzenden „Generalgouvernement“, der mindestens 1,6 Millionen Jüdinnen*Juden, aber auch rund 50.000 Sinti*zze und Rom*nja vor allem in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka zum Opfer fielen. Im Hinblick auf die Organisation des Tötens sowie die Beseitigung der zahllosen Leichen diente das Vernichtungslager Kulmhof den Tätern der „Aktion Reinhardt“, aber auch den Protagonisten des Massenmords im Lagerkomplex Auschwitz als Referenz- und Anschauungsobjekt und führte den „Vordenkern der Vernichtung“ (Götz Aly/Susanne Heim) die prinzipielle Realisierbarkeit ihrer in der Menschheitsgeschichte präzedenzlosen Mordplanungen vor Augen. Es ist also durchaus plausibel, dass der israelische Historiker und Shoah-Überlebende Shmuel Krakowski, Mitglied der Widerstandsbewegung im Ghetto von Łódź, die Errichtung des Vernichtungslagers Kulmhof als den „Beginn der ‚Endlösung‘“ bezeichnet.„Vergessener Ort des Holocaust“Umso erstaunlicher mutet hingegen die Beobachtung an, dass die Geschichte der Mordstätte im Vergleich zu anderen Verbrechenskomplexen der NS-Vernichtungspolitik in der bundesdeutschen Erinnerungskultur, aber auch in inter- und transnationaler Perspektive kaum präsent ist — obwohl Szymon Srebrnik in einer Reihe von Strafprozessen gegen die wenigen, sich schließlich vor polnischen und bundesdeutschen Gerichten zu verantwortenden Täter als Zeuge aussagte: Etwa im Verfahren gegen zwölf ehemalige Mitglieder der Lagermannschaft vor dem Landgericht Bonn im Jahr 1962 und auch im Prozess gegen Adolf Eichmann vor dem Jerusalemer Bezirksgericht, der im Dezember 1961 endete. Seine Berichte fanden in der Öffentlichkeit kaum Beachtung. Erst Claude Lanzmanns Dokumentarfilm „Shoah“ (1985), in dem neben Szymon Srebrnik auch Mordechaï Podchlebnik, ein weiterer Überlebender, porträtiert wurde, setzte den Opfern des Massenmords im Vernichtungslager Kulmhof ein auch international wahrnehmbares, mediales Denkmal.„Exerzierplatz des Nationalsozialismus“Die maßgebliche Initiative zur systematischen Ermordung der Jüdinnen*Juden im „Reichsgau Wartheland“ ging von „Reichsstatthalter“ Arthur Greiser und dem ihm unterstellten Verwaltungsapparat aus. Der fanatische Nationalsozialist stand seit Oktober 1939 an der Spitze des „Warthegaus“, einem Verwaltungsgebiet, das aus denjenigen annektierten polnischen Territorien gebildet worden war, die an das Deutsche Reich angegliedert wurden. Greiser deklarierte seinen Machtbereich zu einem „Exerzierplatz des Nationalsozialismus“, der zu einer nach völkischen Kriterien strukturierten „Musterregion“ umgestaltet werden sollte. So wurden mindestens 630.000 polnische Einwohner*innen in das östlich angrenzende „Generalgouvernement“ deportiert, während fast 200.000 Deutsche aus dem „Altreich“ sowie mindestens 230.000 „Volksdeutsche“ — etwa aus dem Baltikum und Südosteuropa — im „Warthegau“ angesiedelt wurden.Schon unmittelbar nach dem Beginn der deutschen Besatzung kam es zu zahlreichen Massakern durch Wehrmachtseinheiten, Polizei und SS. Seit Anfang Dezember 1940 wurde die jüdische Bevölkerung in 173 Arbeitslager und Ghettos gezwungen, von denen das Ghetto in der Stadt Łódź, die von den Deutschen in Litzmannstadt umbenannt worden war, mit rund 160.000 Menschen — Jüdinnen*Juden aus dem „Warthegau“, ab 1941 auch aus dem „Altreich“ sowie im November 1941 mindestens 5.000 Sinti*zze und Rom*nja — das größte darstellte.Die Entscheidung zum systematischen Massenmord fiel vermutlich im Sommer 1941. Am 16. Juli 1941 schickte SS-Sturmbannführer Rolf-Heinz Höppner, der beim Stab des „Höheren SS- und Polizeiführer“ im „Warthegau“ tätig war, einen Vermerk an den im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) für die Deportationen von Jüdinnen*Juden aus Deutschland verantwortlichen Adolf Eichmann, „dass bei Besprechungen in der Reichsstatthalterei […] von verschiedenen Stellen die Lösung der Judenfrage […] angeschnitten“ worden sei. Angesichts einer vermeintlich prekären Ernährungslage im bevorstehenden Winter müsse erwogen werden, „ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnellwirksames Mittel zu erledigen“. Dies klinge zwar „phantastisch“, sei aber „durchaus durchführbar“. Die zynische Sachzwanglogik, die von der Reichsstatthalterei konstruiert wurde, um den Genozid zu legitimieren, stieß bei der NS-Führung in Berlin auf Zustimmung. Greiser hatte zudem Adolf Hitler über seine Pläne in Kenntnis gesetzt, der dem Gauleiter seinerseits vollkommene Handlungsfreiheit ließ.Ablauf des MassenmordsDen Kern der „Sonderkommandos“ in Chełmno bildeten 15 bis 20 Angehörige der Staatspolizeistelle in Posen unter der Führung von SS-Hauptsturmführer Herbert Lange, die bereits über eine einschlägige Verbrechensgeschichte verfügten, waren sie doch verantwortlich für die gezielte Tötung von über 6.200 Patient*innen in Heil- und Pflegeeinrichtungen im „Warthegau“ und in Ostpreußen. Bereits Ende September 1941 begann das „Sonderkommando“ mit der systematischen Ermordung der Jüdinnen*Juden im Kreis Konin, die in einem Waldstück erschossen und in Massengräbern verscharrt wurden. Ab November 1941 errichtete die Einheit um Herbert Lange, ergänzt um etwa 100 Ordnungspolizisten des in Łódź stationierten Polizeibataillons, das Vernichtungslager in Chełmno. Der Massenmord sollte hier durch „Gaswagen“ verübt werden, ein Mordinstrument, das bereits im Rahmen der sogenannten „Euthanasie“-Verbrechen zum Einsatz gekommen war.Ab Anfang Dezember trafen begleitet von „Transportkommandos“ der Ordnungspolizei die ersten Deportationszüge mit Jüdinnen*Juden aus den in der Umgebung von Łódź gelegenen Ghettos auf dem durch einen Bretterzaun abgeschirmten Gelände ein. Den Verschleppten war erklärt worden, dass sie in Arbeitslager gebracht würden, tatsächlich aber trieben Angehörige des „Sonderkommandos“ die Menschen in das Gutsgebäude, das sogenannte Schloss, wo sie sich entkleiden und ihre Wertsachen abgeben mussten. Anschließend wurden sie gezwungen, in den Laderaum eines unmittelbar am Gebäude postierten Lkws zu steigen. Nachdem bis zu 120 Männer, Frauen und Kinder auf diese Weise zusammengepfercht worden waren, verschlossen Mitglieder der Wachmannschaft die Türen des LKW, starteten dessen Motor und leiteten die Abgase in den Laderaum, die die Gefangenen innerhalb von 15 Minuten töteten. Daraufhin verließ der Transporter das Gelände und fuhr zu einer wenige Kilometer entfernt gelegenen Waldlichtung, dem „Waldlager“. Dort wurden die Körper der Ermordeten in zwei riesige Massengräber geworfen und der LKW gereinigt. Die Bewachung des „Waldlagers“ oblag der Ordnungspolizei, für die Beseitigung der Leichen bildeten die Täter ein „Arbeitskommando“ aus etwa 30 jüdischen Häftlingen, die nach einiger Zeit ebenfalls getötet und durch andere Verschleppte ersetzt wurden.Im März 1943 fiel die Entscheidung, das Vernichtungslager aufzugeben. Zu diesem Zeitpunkt waren mit Ausnahme des Ghettos Litzmannstadt alle Ghettos des „Warthegaus“ aufgelöst und deren Bewohner*innen nach Chełmno deportiert worden. Anfang April sprengte das „Sonderkommando“ das „Schloss“ und versuchte sämtliche Hinweise auf den Massenmord zu beseitigen. Dies betraf vor allem die in den Massengräbern des „Waldlagers“ nur notdürftig verscharrten Körper der Ermordeten. Bereits im Sommer 1942 waren dort unter Anleitung von SS-Standartenführer Paul Blobel Öfen errichtet worden, um die Leichen zehntausender Menschen zu verbrennen.Die Täter waren mit ihrem Werk zufrieden. Anfang März 1943 fand in einer Gaststätte in Koło — von den Deutschen in „Warthbrücken“ umbenannt — eine bizarre „Abschlussfeier“ des „Sonderkommandos“ statt, an der auch Arthur Greiser teilnahm. In einem Schreiben an Heinrich Himmler attestierte er den Mördern, „haltungsmäßig bestes Soldatentum repräsentiert“ zu haben.Fortführung der VernichtungDoch damit war die Geschichte des Vernichtungslagers nicht zu Ende. Im Frühjahr 1944 entschieden die Führungsspitzen von SS und „Reichsstatthalterei“, das Ghetto Litzmannstadt aufzulösen und die dort bis zu diesem Zeitpunkt weiterhin Zwangsarbeit leistenden Jüdinnen*Juden zu ermorden. Im April 1944 kehrte das „Sonderkommando“ nach Chełmno zurück. Die Ruinen des Gutshofes waren als Tötungsstätte nicht mehr zu gebrauchen. Daher wurden die über 7.100 Deportierten aus dem Ghetto Litzmannstadt direkt im Bereich des früheren „Waldlagers“ ermordet und verbrannt. Hierfür nutzten die Täter erneut Gaswagen und gemauerte Verbrennungsöfen. Kleidungsstücke und Wertgegenstände der Opfer wurden zur Sortierung durch ein jüdisches Häftlingskommando auf dem ehemaligen Gutsgelände gesammelt. Angesichts der heranrückenden Roten Armee töteten in der Nacht vom 17. auf den 18. Januar 1945 Angehörige des „Sonderkommandos“ die letzten verbliebenen Gefangenen auf dem Hof des Anwesens. Szymon Szrebrnik und Mordechai Zurawski überlebten als einzige das Massaker.Mehr als ein offenes GeheimnisObgleich die Täter versuchten, die Spuren des Massenmords in Chełmno zu verwischen, war die Shoah im „Warthegau“ mehr als ein offenes Geheimnis. Im Dorf selbst, wo die Angehörigen des „Sonderkommandos“ ihre Quartiere bezogen hatten, war deren Auftrag allgemein bekannt. Vor allem aber reichte der Kreis der am Massenmord Beteiligten weit über die unmittelbar in Chełmno eingesetzten Einheiten hinaus. Die Shoah im „Warthegau“ war ein arbeitsteiliges Projekt, in das neben SS und Polizei auch die „Reichsstatthalterei“ und ihre Verwaltungsstrukturen, etwa die von Herbert Mehlhorn geleitete Finanzverwaltung des „Warthegaus“, zuständig für sämtliche Sach- und Personalkosten der am Massenmord beteiligten Akteur*innen, eingebunden waren. Kulmhof war, resümiert der Historiker Peter Klein, ein „Vernichtungslager vor aller Augen“.Bereits im Sommer 1942 hatten britische und US-amerikanische Medien, wie etwa die New York Times über das Vernichtungslager und die systematische Tötung von Jüdinnen*Juden durch Kohlenmonoxid berichtet. Die Informationen stammten von Jaakow Grojanowski, einem Angehörigen des jüdischen „Arbeitskommandos“ im Vernichtungslager Kulmhof, dem im Januar 1942 die Flucht gelungen war. Grojanowski schlug sich bis ins Warschauer Ghetto durch, wo er Kontakt zu Widerstandsgruppen und dem von Emanuel Ringelblum gegründeten klandestinen Ghetto-Archiv aufnahm und detailliert das Geschehen schilderte. Schließlich erreichte sein Bericht auch die polnische Exilregierung in London. Grojanowski selbst überlebte die Shoah nicht. Er wurde im Vernichtungslager Belzec ermordet. Sein Versuch, eine größere Öffentlichkeit über den Massenmord im Vernichtungslager Kulmhof zu informieren, war zweifellos ein beeindruckender Akt des Widerstands angesichts eines von den Deutschen betriebenen Mordprogramms, dem nach heutigem Wissen im Vernichtungslager Kulmhof lediglich drei Menschen entrinnen konnten.Gleichwohl gab es auch dort unterschiedliche Formen der Selbstbehauptung. So leisteten in der Nacht vom 17. auf den 18. Januar 1945 die letzten Angehörigen des jüdischen Arbeitskommandos aktiven, wenngleich vergeblichen Widerstand. Es gelang den Gefangenen, einem Polizeibeamten die Pistole zu entreißen, ihn zu erschießen und einen weiteren Gendarmen zu töten. Bereits in den Wochen und Monaten zuvor hatten Angehörige des Arbeitskommandos an verschiedenen Stellen Berichte über das Geschehen vergraben. Sie verknüpften damit die Hoffnung, auf diese Weise das präzendenzlose Verbrechen zu dokumentieren und den an die Weltöffentlichkeit gerichteten eindringlichen Appell, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.Strafverfolgung und NachkriegskarrierenZumindest in der BRD konnte in den folgenden Jahrzehnten von einer umfassenden juristischen Ahndung freilich keine Rede sein. In Polen wurde Arthur Greiser unter anderem wegen der Verbrechen in Kulmhof im Sommer 1946 hingerichtet, in der DDR Ernst Kendzia, der in der Führungsspitze der „Reichsstatthalterei“ verantwortlich war für die Organisation des Massenmords im „Warthegau“, zum Tode verurteilt. Die bundesdeutsche Justiz zeigte indessen kein großes Engagement bei der Verfolgung mutmaßlicher Täter. Erst 1962 mussten sich zwölf ehemalige Angehörige des „Sonderkommandos“ vor dem Landgericht Bonn wegen gemeinschaftlicher „Beihilfe zum Mord“ verantworten. Letztinstanzlich wurden im Juli 1965 schließlich acht der Angeklagten zu Freiheitsstrafen zwischen 13 Monaten und zwei Wochen sowie 13 Jahren verurteilt. Drei Angeklagte kamen straffrei davon. Ein weiterer galt als verhandlungsunfähig.Auch Wilhelm Koppe konnte sich erfolgreich auf seine angebliche Verhandlungsunfähigkeit beziehen. Der ehemalige „Höhere SS- und Polizeiführer“ im „Warthegau“ war hauptverantwortlich für die Deportationen in das Ghetto Litzmannstadt und das Vernichtungslager Kulmhof gewesen. Bis 1960 lebte er unter falschem Namen in Bonn, wo er für die Schokoladenfabrik Sarotti arbeitete. Nachdem seine wahre Identität aufgeflogen war, wurde er in Untersuchungshaft genommen, aus der er aber 1962 nach Zahlung einer Kaution entlassen wurde. Das im Jahr 1964 eröffnete Verfahren vor dem Landgericht Bonn wegen „Beihilfe zum Mord“ in mindestens 145.000 Fällen wurde zwei Jahre später „aus gesundheitlichen Gründen“ eingestellt. Bis zu seinem Tod im Jahr 1975 verbrachte Koppe einen geruhsamen Lebensabend in Bonn.Den konnte auch Rolf-Heinz Höppner genießen. Der ehemalige SS-Obersturmbannführer hatte zwar unter anderem wegen seiner Beteiligung am Massenmord in Chełmno rund zehn Jahre in polnischer Haft verbracht, in der BRD musste er jedoch keine Strafverfolgung fürchten. Vielmehr avancierte er zum Oberregierungsrat im Bundesbauministerium und starb 1998 in Bonn-Bad Godesberg. Herbert Mehlhorn, der „Buchhalter“ der Shoah im „Warthegau“, blieb von der deutschen Justiz gänzlich unbehelligt. Er verdingte sich bis zu seinem Tod im Jahr 1968 als Justiziar in Oberndorf am Neckar und als Berater des Waffenherstellers Mauser. Geschichte 7707 Fri, 04 Feb 2022 21:16:47 +0100 LOTTA „Der Beginn der ‚Endlösung‘“ Günter Born In der 300 Einwohner*innen umfassenden Gemeinde Chełmno, 70 Kilometer nordwestlich der Großstadt Łódź, errichteten die Deutschen im Dezember 1941 das erste Vernichtungslager im besetzten Polen. Mindestens 152.000 Jüdinnen*Juden sowie über 5.000 weitere Menschen, die allermeisten Sinti*zze und Rom*nja, wurden dort durch Kohlenmonoxid in zu mobilen Gaskammern umgebauten Lastkraftwagen ermordet.Es war ein albtraumhaftes Geschehen, das sich in der Nacht vom 17. auf den 18. Januar 1945 auf dem Hof eines ehemaligen, von einem Bretterzaun umgebenen Gutshauses am Rande des Dorfes Cheł­mno, das nach dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939 in Kulmhof umbenannt wurde, abspielte. Rund um die auf dem Anwesen gelegene Scheune, in der mehrere Dutzend jüdische Männer gefangen gehalten wurden, hatten sich schwerbewaffnete SS- und Polizeiangehörige — Mitglieder eines sogenannten „Sonderkommandos“ postiert. In Gruppen zu je fünf Personen mussten die Gefangenen auf den Hof treten und sich auf die Erde legen. Dann wurden sie erschossen. Unter ihnen befand sich der damals 14-jährige Szymon Srebrnik. Doch wie durch ein Wunder überlebte er das Massaker. Von den Angehörigen des „Sonderkommandos“ offenkundig für tot gehalten, gelang es ihm, trotz seiner schweren Verletzungen in einem unbeobachteten Augenblick in der Dunkelheit zu entkommen. Er versteckte sich in einem nahe gelegenen Dorf und erlebte dort nur kurze Zeit später die Befreiung durch die Rote Armee. Szymon Srebrnik ist einer der wenigen Überlebenden des Vernichtungslagers Kulmhof.Beginn der „Endlösung“Die Mordstätte in Chełmno, an der am 8. Dezember 1941 die Angehörigen eines „Sonderkommandos“ ihr akribisch vorbereitetes tödliches Werk in Gang setzten, war das erste Vernichtungslager im Rahmen der Shoah, noch bevor am 20. Januar 1942 auf der „Wannseekonferenz“ in Berlin die bereits angelaufene systematische Ermordung der europäischen Jüdinnen*Juden weiter koordiniert werden sollte. Die Politik der Vernichtung auf dem Gebiet des „Reichsgau Wartheland“, wo Chełmno lag, ging der „Aktion Reinhardt“ (vgl. LOTTA #66, #67 und #69) voraus — der im März 1942 beginnenden Ermordung der jüdischen Bevölkerung im östlich angrenzenden „Generalgouvernement“, der mindestens 1,6 Millionen Jüdinnen*Juden, aber auch rund 50.000 Sinti*zze und Rom*nja vor allem in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka zum Opfer fielen. Im Hinblick auf die Organisation des Tötens sowie die Beseitigung der zahllosen Leichen diente das Vernichtungslager Kulmhof den Tätern der „Aktion Reinhardt“, aber auch den Protagonisten des Massenmords im Lagerkomplex Auschwitz als Referenz- und Anschauungsobjekt und führte den „Vordenkern der Vernichtung“ (Götz Aly/Susanne Heim) die prinzipielle Realisierbarkeit ihrer in der Menschheitsgeschichte präzedenzlosen Mordplanungen vor Augen. Es ist also durchaus plausibel, dass der israelische Historiker und Shoah-Überlebende Shmuel Krakowski, Mitglied der Widerstandsbewegung im Ghetto von Łódź, die Errichtung des Vernichtungslagers Kulmhof als den „Beginn der ‚Endlösung‘“ bezeichnet.„Vergessener Ort des Holocaust“Umso erstaunlicher mutet hingegen die Beobachtung an, dass die Geschichte der Mordstätte im Vergleich zu anderen Verbrechenskomplexen der NS-Vernichtungspolitik in der bundesdeutschen Erinnerungskultur, aber auch in inter- und transnationaler Perspektive kaum präsent ist — obwohl Szymon Srebrnik in einer Reihe von Strafprozessen gegen die wenigen, sich schließlich vor polnischen und bundesdeutschen Gerichten zu verantwortenden Täter als Zeuge aussagte: Etwa im Verfahren gegen zwölf ehemalige Mitglieder der Lagermannschaft vor dem Landgericht Bonn im Jahr 1962 und auch im Prozess gegen Adolf Eichmann vor dem Jerusalemer Bezirksgericht, der im Dezember 1961 endete. Seine Berichte fanden in der Öffentlichkeit kaum Beachtung. Erst Claude Lanzmanns Dokumentarfilm „Shoah“ (1985), in dem neben Szymon Srebrnik auch Mordechaï Podchlebnik, ein weiterer Überlebender, porträtiert wurde, setzte den Opfern des Massenmords im Vernichtungslager Kulmhof ein auch international wahrnehmbares, mediales Denkmal.„Exerzierplatz des Nationalsozialismus“Die maßgebliche Initiative zur systematischen Ermordung der Jüdinnen*Juden im „Reichsgau Wartheland“ ging von „Reichsstatthalter“ Arthur Greiser und dem ihm unterstellten Verwaltungsapparat aus. Der fanatische Nationalsozialist stand seit Oktober 1939 an der Spitze des „Warthegaus“, einem Verwaltungsgebiet, das aus denjenigen annektierten polnischen Territorien gebildet worden war, die an das Deutsche Reich angegliedert wurden. Greiser deklarierte seinen Machtbereich zu einem „Exerzierplatz des Nationalsozialismus“, der zu einer nach völkischen Kriterien strukturierten „Musterregion“ umgestaltet werden sollte. So wurden mindestens 630.000 polnische Einwohner*innen in das östlich angrenzende „Generalgouvernement“ deportiert, während fast 200.000 Deutsche aus dem „Altreich“ sowie mindestens 230.000 „Volksdeutsche“ — etwa aus dem Baltikum und Südosteuropa — im „Warthegau“ angesiedelt wurden.Schon unmittelbar nach dem Beginn der deutschen Besatzung kam es zu zahlreichen Massakern durch Wehrmachtseinheiten, Polizei und SS