Aktivist_innen mit einem "Keupstraße ist überall"-Transparent

„Keine Bereitschaft, die Betroffenen zu hören“

Ein Gespräch mit der Initiative „Keupstraße ist überall“

Seit dem 12. Januar beschäftigt sich 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München im NSU-Prozess mit dem Nagelbomben-Anschlag in der Kölner Keupstraße im Juni 2004. Die Initiative [„Keupstraße ist überall“](http://www.keupstrasse-ist-ueberall.de "Zur Internetseite der Initiative "Keupstraße ist überall"") möchte am 20. Januar mit möglichst vielen solidarischen Menschen nach München fahren, um die Betroffenen des Anschlags, die ab diesem Tag aussagen müssen, zu unterstützen. Außerdem ist ein Aktionstag geplant.

Seit dem 12. Januar beschäftigt sich 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München im NSU-Prozess mit dem Nagelbomben-Anschlag in der Kölner Keupstraße im Juni 2004. Die Initiative [„Keupstraße ist überall“](http://www.keupstrasse-ist-ueberall.de "Zur Internetseite der Initiative "Keupstraße ist überall"") möchte am 20. Januar mit möglichst vielen solidarischen Menschen nach München fahren, um die Betroffenen des Anschlags, die ab diesem Tag aussagen müssen, zu unterstützen. Außerdem ist ein Aktionstag geplant.

Was habt ihr am 20. Januar in München vor?

Ziel der gemeinsamen Fahrt nach München ist es, die von dem Anschlag betroffenen Personen und ihre Angehörigen zu begleiten und damit zu stützen und zu stärken. Ein Gerichtsprozess ist ein enormer Kraftakt, damit wollen wir die Menschen nicht alleine lassen. Vor allem der „Anschlag nach dem Anschlag", wie einige Betroffene das Verhalten von Staat und Polizei, aber auch der Medien nach dem Anschlag bezeichnen, zeigt, wie wichtig es ist, eine antirassistische Öffentlichkeit zu schaffen. Daher wollen wir in München auch eine mediale Gegenöffentlichkeit erzeugen, die deutlich macht, dass es in Deutschland eine migrantische Perspektive auf die Anschläge gibt und diese nicht mehr geleugnet werden darf. Außerdem soll diese mediale Gegenöffentlichkeit den Betroffenen auch die Möglichkeit bieten, über die Erlebnisse nach dem Anschlag aus ihrer eigenen Perspektive zu berichten. Ein weiteres wichtiges Anliegen ist, den Prozess politisch zu begleiten und konkrete Fragen zu stellen. Welche Rolle haben der Staat und der Verfassungsschutz während der Anschläge des NSU gespielt? Dafür ist der Prozess in München ein aus unserer Sicht guter Anlass.

Wieso ist es euch wichtig, dass viele Menschen mit euch nach München fahren?

Zum einen würden wir dies als starkes Zeichen der Solidarität begreifen, das vor allem an die Betroffenen des Anschlages und deren Angehörige zu senden ist. Viele von ihnen haben die Hoffnung auf eine unabhängige Untersuchung aufgegeben und fühlten sich von der Mehrheitsgesellschaft alleine gelassen. Eine zahlenmäßig große Demonstration wäre nicht nur ein starkes Zeichen der Solidarität, sondern es auch gleichzeitig eine massive Kritik am Umgang der Medien und des Staates mit dem NSU.

Zum anderen wollen wir klar machen, dass das, was das Gericht „erarbeiten“ wird, bestenfalls einen Ausschnitt des Geschehens - den juristischen - repräsentiert. Viele Sachen sind bisher entweder nicht geklärt worden oder wurden überhaupt nicht thematisiert. Ein Prozess, der auf eine strafrechtliche Verurteilung zielt, lässt weitergehende Fragen – wie nach dem gesellschaftlichen Rassismus oder dem Netzwerk des NSU – schon aufgrund seiner Struktur außen vor. Was genau passiert ist, wissen wir auch nicht. Für uns ist aber klar, dass es mehr als die drei Täter_innen Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe geben muss. Eine große Demonstrationen und die durch sie erzeugte Öffentlichkeit kann diese Sichtweise stärken.

Was erwartet ihr von dem Prozess?

Auf diese Frage gibt es in der Initiative verschiedene Perspektiven. Viele Betroffene des Anschlages, aber auch andere Mitglieder der Initiative wünschen sich, aufgrund der Leiden, die sie erfahren mussten, eine gerechte Bestrafung der Schuldigen und auch eine Rehabilitation der Opfer durch eine klare Täterbestimmung. Einige argumentieren aber auch, dass der Staat als solcher kein Interesse an einer Aufarbeitung des gesellschaftlichen und des staatlichen Rassismus hat, und sich daher in der Gesellschaft durch das Urteil wenig ändern wird. Durch die Verurteilung einiger weniger wird der gesamte NSU-Komplex heruntergebrochen auf eine „terroristische Zelle“, was angesichts der vielen offenen Fragen nicht tragbar ist.

Die Opfer des Bombenanschlags und Anwohner_innen der Keupstraße wurden nach dem Anschlag verdächtigt und kriminalisiert, ihren Aussagen wurde keine Beachtung geschenkt. Nicht nur die Polizei sondern auch die Medien spielten eine große Rolle bei diesen Verdächtigungen. Wie beurteilt ihr heute den Umgang mit den Betroffenen der Anschläge?

Es existiert immer noch keine Bereitschaft von Seiten des Staates und der Mehrheitsgesellschaft, die Version der Betroffenen zu hören und anzunehmen. Das „Birlikte“-Fest hat klar aufgezeigt, dass es von Seiten der Politik und Medien großes Interesse gibt, sich von eigenen Fehlern reinzuwaschen. Einige wenige Vertreter_innen von Staat und Medien zeigen tatsächliches Interesse an den Positionen der Betroffenen, was von diesen auch honoriert wird. Viele Betroffene fühlen aber bis heute eine grundsätzliche Skepsis. Aus der Zivilgesellschaft und linken bis linksradikalen Gruppen und Initiativen hingegen gibt es seit 2011 eine kontinuierliche Unterstützung der Betroffenen, was auch in der Gründung der Initiative gemündet ist.

Wie beurteilt ihr vor dem Hintergrund der Kriminalisierung der Anwohner_innen durch die Polizei die Einsetzung eines ehemaliges Polizeibeamten als Sprecher der SPD-Fraktion im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum NSU im nordrhein-westfälischen Landtag?

Die Polizei hat sich nicht nur durch ihr Vorgehen gegenüber den Opfern völlig diskreditiert und erfahrungsgemäß decken sich Polizeibeamt_innen meist gegenseitig. Nun sollen Abgeordnete, die vor ihrer Wahl in den Landtag als Polizisten tätig waren, die Arbeit ihrer ehemaligen Kolleg_innen untersuchen. Das kann kaum funktionieren. Der Obmann der SPD-Fraktion war sogar im Polizeipräsidium Köln, das die Ermittlungen gegen die Betroffenen und Bewohner_innen der Keupstraße führte, tätig. Dies mindert natürlich das Vertrauen Einzelner in den Untersuchungsausschuss. Es ist zu hoffen, dass der Ausschuss auch die Betroffenen aus der Keupstraße zu ihren Erlebnissen während der Ermittlungen hören wird. Durch die Konstellation im Ausschuss werden sie nun in die Situation gebracht, Leuten Rede und Antwort zu stehen, mit deren Kolleg_innen sie diese schlechten Erfahrungen gemacht haben.

Was erhofft ihr euch vom Untersuchungsausschuss?

Wir erhoffen uns vom Untersuchungsausschuss eine Beleuchtung der Verstrickungen des NSU mit der aktiven Naziszene in NRW. Mit Glück werden wir auch etwas hier über die Rolle des Verfassungsschutz erfahren. Vor allem erhoffen wir uns aber auch Klarheit darüber, wie es sein konnte, dass die Betroffenen durch die Ermittlungen jahrelang zu Täter_innen gemacht wurden.

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