Keupstraße ist in München

Im NSU-Prozess sagten die Betroffenen des Nagelbombenanschlags aus

Am 20. Januar 2015 war im Münchner Justizgebäude in der Nymphenburger Straße einiges anders als gewohnt: Zum 175. Verhandlungstag im NSU-Prozess kamen viele Besucher\_innen und füllten die Ränge auf der Tribüne bis auf den letzten Platz. Schon lange waren nicht mehr so viele Medienvertreter\_innen da, draußen standen die Kamerateams und Übertragungswagen. Und dort, vor dem Gericht, versammelten sich auf einer vielbeachteten Kundgebung Menschen aus Köln und München, mit Pavillons, Transparenten und Botschaften.

Nicht zum ersten Mal ging es im NSU-Prozess um das Attentat in der Keupstraße. Erst kurz zuvor hatten Ermittler beispielsweise beschrieben, welche Verhältnisse sie am Tatort vorgefunden hatten. Mehrfach hatten auch schon vom NSU-Terror direkt Betroffene im Prozess ausgesagt, zum Beispiel die Angehörigen der Mordopfer, der in Heilbronn lebensgefährlich verletzte Polizeibeamte Martin A. oder die Familie, in deren Laden in der Kölner Probsteigasse Anfang 2001 ein NSU-Sprengsatz explodiert war. Politische Kampagnen, Medienarbeit und vor allem die solidarische Begleitung für diejenigen, die vom Gericht als Zeug_in­nen ausgewählt wurden, ließen ab diesem 20. Januar 2015 jedoch eine ganz andere Stimmung entstehen als sonst.

Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl legt immer Wert darauf, dass die Geladenen das von Ihnen noch Erinnerte zunächst möglichst frei vortragen. Auch die beiden ersten Zeugen, Sandro D. und Meli K., forderte er in diesem Sinne auf, zu erzählen: „Es geht um einen Anschlag in der Keupstraße, am 9.6.2004, ich würde Sie bitten, dass Sie uns schildern, was sich damals zugetragen hat. Mir geht’s um den Ablauf und im Weiteren auch um die Folgen für Sie, die Verletzungen.” Und es folgte, wie bei so vielen Betroffenen und Zeug_innen des Anschlags, das pure Grauen. Sandro D. stand mit einem Freund eineinhalb Meter von dem Fahrrad entfernt, als die vom NSU in einem Helmkoffer auf dem Gepäckträger deponierte Bombe explodierte. „Ich habe Meli auf dem Boden liegen sehen. Ich wusste nicht, ob er lebt oder tot ist. Alle Leute redeten mit mir, aber ich konnte nichts hören. Man zog mir mein Oberteil aus, weil es am Brennen war.” Rund 800 Nägel hatten die Bombenbauer_innen des NSU in die verwendete Campinggasflasche gefüllt. Ein halbes Dutzend davon bohrten sich in die Oberschenkel von Sandro D. Sein Freund Meli K. berichtete im Gericht, dass er nach der Explosion in eine künstliches Koma versetzt werden musste. Hundert Splitter hatten sich in Gesicht und Augen, neun große Zimmermannsnägel in seinen Körper gebohrt. „Mein linker Arm war verbrannt, die Gesichtshälfte, die Haare. Und die Stichflamme ist ins Trommelfell rein”. Infolge des Anschlags musste er seine Berufsausbildung aufgeben.

„Die einzige Möglichkeit [...] ist ein Ausländerhasser”

Die Behörden betrachteten die zwei Freunde, die den Anschlag in ihrer unmittelbaren Umgebung überlebten, offensichtlich als die potenziellen Täter. Im Krankenhaus wurde ihnen zunächst untersagt, miteinander zu kommunizieren, sie mussten DNA-Proben und Fingerabdrücke abgeben. Auch den Angehörigen wurde mitgeteilt, dass die beiden Tatverdächtige seien. Meli K. äußerte in seiner Vernehmung bei der Polizei einen konkreten Verdacht: „Ich weiß ja nicht, wem das Attentat gelten sollte, auf die Leute davor oder den Frisörladen. Wenn ich so überlegt habe, vielleicht so Nazis, die viele Leute ins Grab nehmen wollten” und „die einzige Möglichkeit, die ich mir denken kann, ist ein Ausländerhasser”. Auf diese Schlussfolgerung angesprochen, sagte K. im NSU-Prozess: „Wenn man so was auf offener Straße deponiert, wo Eltern, Omas, Kinder sind, da braucht man kein Ermittler sein”. Die Zuhörenden quittierten dies - sehr zum Missfallen des Vorsitzenden - mit Applaus.

Sükrü A. war im Frisörladen, als die Bombe explodierte. Nägel und Splitter verletzten ihn schwer an Kopf und Schulter. Die Scherben der zerberstenden Schaufenster bohrten sich bis auf die Knochen in seinen Körper. Tagelang lag A. nach dem Attentat im Koma. Auf dem rechten Ohr blieb er taub. Seinen Beruf kann er heute nicht mehr ausüben. Auch Fatih K. hatte beim Frisör gesessen. In seiner Aussage schilderte er, wie ihm von der Polizei Fingerabdrücke und DNA-Proben abgenommen wurden. In der Vernehmung seien ihm damals die Fragen gestellt worden, „ob ich was vom Rotlichtmilieu kenne, ob ich was von der PKK weiß, ob kriminelle Aktivitäten auf der Straße stattfinden”. Beim Frisör war zu der Zeit auch Kemal G., mit Schnittwunden am Kopf wurde er nach draußen gebracht: „Ich war in einer ratlosen Situation und dachte mir: Ich warte auf den Tod. Das war ein Wendepunkt in meinem Leben, dieser Gedanke”, berichtete er im Gerichtssaal. G. wurde nach dem Anschlag lange nicht gesund, Ende 2007 verlor er daraufhin seine Anstellung. „Als einfacher Mensch” habe er gewusst, „dass der Sprengsatz mit den Nägeln, dass das eine Terroraktion war”. Wie konnte Deutschland, „so ein erfahrenes Land in Punkto Sicherheit, in Punkto Terror, ein Land mit so entwickelter Technologie, wieso konnten Sie das nicht einschätzen?” Der Nebenklagevertreter Stefan Kuhn wies darauf hin, dass der Zeuge G. einst als Asylsuchender nach Deutschland gekommen war: „Das macht das Perfide dieser Ideologie aus, dass sie sich auch gegen Menschen richtet, die Gewalt erfahren haben und in einem für sie fremden Land in einer schwachen Position sind.”

„Ich sagte, ich bin Verletzter, kein Täter.”

Gerd H. war mit seinem Fahrrad in der Keupstraße unterwegs: „es hat hinten rechts einen Knall gegeben, den ich nie vergessen werde. Also eine Explosion. Es rasselte und ich bekam Angst und einen furchtbaren Schmerz in meinen Ohren”, sagte er aus. Bis heute falle es ihm schwer, „das zu vergessen”. Metin I. saß zum Zeitpunkt der Explosion vor seinem Laden, drei Nägel steckten nach dem Attentat in seinem Körper. In der Folgezeit, führte I. aus, seien die Geschäfte in der Keupstraße um mehr als die Hälfte zurückgegangen und hätten sich bis heute nicht mehr richtig erholt. Emine K. stand im Laden ihres Bruders nicht weit von den zerberstenden Scheiben entfernt. Sie blieb glücklicherweise von den Splittern unverletzt. Attila Ö. dagegen trafen die Nägel aus der Nagelbombe am Hinterkopf. Trotz seiner Verletzungen habe er mit auf die Polizeiwache kommen müssen: „Bis auf die Unterhose nackt saß ich sechs Stunden bei der Vernehmung. Ich durfte keinen Menschen anrufen.” Die Bekleidung hatte die Polizei beschlagnahmt, von Ö. nahm man Fingerabdrücke und DNA-Proben. „Ich wurde so behandelt wie ein Beschuldigter: Warum ich in dem Geschäft war, ob ich diese und jene Leute vom Rotlichtmilieu kenne, vom Drogenmilieu, warum ich zu dem Frisör gehe und solche Sachen”. Durch die ganzen Krank­meldungen und Krankschreibungen infolge des Anschlags habe er 2008 seine Arbeit verloren. Auch Abdullah Ö. berichtet, wie ein Polizeibeamter mit ihm umgegangen war: „Er hat mich gebeten, mich auszuziehen. Ich sagte: Nein, wegen was? Er sagte, wegen Schmauchspuren. Ich sagte, ich bin Verletzter, kein Täter.” Der Polizeibeamte habe dann eine DNA-Probe haben wollen. „Ich sagte: nein, ich bin kein Vergewaltiger, ich bin Opfer.” Es half nichts. Er musste sich ausziehen und eine DNA-Probe abgeben.

Viele der Betroffenen des Attentats in der Kölner Keupstraße sind durch das Explosionsgeschehen und die Folgezeit, durch die körperlichen Beschwerden, durch die soziale Folgen von Verdächtigungen und Polizeiermittlungen schwer traumatisiert worden. Viele leiden bis heute unter den psychischen Verletzungen, die sie erlitten haben. Auch diese Folgen des Anschlags kamen im Prozess ausführlich zur Sprache, denn die Zeug_innen schilderten im Gericht zum Teil auch sehr persönlichen Dinge. „Oft träum ich, dann werd ich wach. Es nagt an einem, man stellt sich viele Dinge vor. Alleine der Gedanke, zu wissen, wie schnell alles zu Ende sein kann”, sagt einer der Verletzten. Andere berichteten von Alpträumen, schlaflosen Nächten und massiven Konzentrationsstörungen. „Ich kann nicht in die Bevölkerung reingehen, da krieg’ ich Panikattacken”, war beispielsweise zu hören. Ein anderer Zeuge sagte: „Wenn ich alleine zu Hause bleibe, fühle ich mich in Bedrängnis.” „Daher sehe ich in meinen Träumen diese Alpträume, diese fürchterlichen Alpträume”, sagte eine Zeugin aus, und dass ihr Leben durch den Anschlag „erlebbar unwert” gemacht worden sei.

Selbstverständlich war es wichtig, dass in der Verhandlung gegen die Angeklagten deutlich wurde, welche schlimmen Auswirkungen der NSU-Terror für eine Vielzahl von Menschen hatte und hat. Niemand von den Betroffenen hat sich ausgesucht, „Opfer des NSU” zu werden. Und manches, was die Zeug_innen unter Wahrheitspflicht im Gericht „öffentlich” aussagen mussten, war natürlich nicht per se für die „Öffentlichkeit” und die Medienberichterstattung gedacht, weshalb hier bewusst nicht alle Details wiedergegeben werden.

Der rassistisch kalkulierte Nagelbombenanschlag in Köln hat Menschen im unterschiedlichen Alter und sehr unterschiedlichen sozialen oder psychischen Lebenssituationen getroffen. Perfide versuchten die Verteidiger_innen von Beate Zschäpe im Fall einer Zeugin, das Attentat als Auslöser für schwere psychische Folgen in Abrede zu stellen. Die seit dem Anschlag auftretenden Angststörungen seien auf frühere biographische Faktoren und nicht auf die Explosion zurückzuführen. Der Versuch der Verteidigung war sehr durchsichtig und entpuppte sich durch einen (gescheiterten) Antrag von Zschäpes Rechtsanwalt Wolfgang Heer schließlich als bloßes Mittel zum Zweck: die Nebenklageberechtigung der Zeugin zu zerstören und damit auch den Nebenklagevertreter der Zeugin, den engagierten Rechtsanwalt Alexander Hoffmann (Kiel) aus dem Verfahren hinaus zu drängen. Zum Glück blieb dies das einzige Beispiel, wo politische oder juristische Fragen so offen auf dem Rücken der Keupstraßen-Betroffenen ausgetragen wurden.

Handlungsfähig werden

Heute, da der Prozess schon fast 200 Verhandlungstage andauert, versuchen einige Medienvertreter_innen vermehrt zu suggerieren, das Verfahren würde durch eine viel zu detaillierte und akribische Beschäftigung künstlich in die Länge gezogen und sei in dieser aufwändigen Form irgendwie sinnlos. Doch gerade die Ladung der Betroffenen des Kölner Nagelbombenanschlags in das Münchner Oberlandesgericht hat aufgezeigt, welche Möglichkeiten und Chancen auch der NSU-Strafprozess bietet: Er kann eine wichtige Plattform sein, auf der die Erlebnisse der Betroffenen öffentlich verhandelt werden. Er stellt eine der wenigen Gelegenheiten dar, bei der Betroffene selbst über neonazistische Gewalt und rassistische Ermittlungen in großer Öffentlichkeit sprechen können, sich aktiv und handlungsfähig zeigen können. Der Prozess, das haben die Verhandlungstage zur Keupstraße gezeigt, kann nicht zuletzt einer antifaschistischen Bewegung die Gelegenheit bieten, den Betroffenen Solidarität und Unterstützung zu zeigen sowie Kritik und Inhalte in die Öffentlichkeit zu tragen.


Die Protokolle der Verhandlungstage finden sich unter www.nsu-watch.info

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