NSU-Prozess und -Untersuchungsausschüsse

Entwicklungen im vierten Quartal 2016

Seit dreieinhalb Jahren läuft das NSU-Verfahren vor dem Münchener Oberlandesgericht. Nach über 300 Prozesstagen ist absehbar, dass in den nächsten Monaten das Urteil gesprochen wird. Zentrale Fragen werden aber offen bleiben.

Nach allem, was das Gerichtsverfahren bislang ergeben hat, werden die meisten Angeklagten hart verurteilt werden, für die Hauptangeklagte ist eine lebenslange Haftstrafe absehbar. Dennoch werden wichtige Fragen offen bleiben: Wie wurden die Opfer ausgewählt? Warum wurde in Nürnberg, Rostock, München, Dortmund, Hamburg, Kassel, Heilbronn und nicht in anderen Städten gemordet? Wer hat bei der Auswahl der Tatorte geholfen? Warum endete die rassistische Mordserie mit dem Mord an Halit Yozgat in Kassel? Warum wurde ein Jahr später der Mord an Michèle Kiesewetter und der Mordversuch an ihrem Kollegen verübt? Und vor allem: Welche weiteren, bis heute unbekannten Helfer_innen und Helfershelfer_innen hatte der NSU? All dies ist bis heute offen. Dabei sind es gerade diese Fragen, die von zentraler Bedeutung für viele der Opfer und die Angehörigen der Toten sind.

Neue Erkenntnisse werden ignoriert

Die heute öffentlich bekannten Erkenntnisse zeigen ein anderes Bild als die Bundesanwaltschaft (BAW), die den NSU weiterhin als lediglich aus drei Personen bestehende Terrorgruppe, die weitestgehend isoliert von der Neonazi-Szene und dem Unterstützungsnetzwerk lebte und mordete, es darstellt. Und auch bei den Münchener Richter_innen mangelt es an Interesse, dies aufzuklären. So legen im Frühjahr dieses Jahres veröffentlichte Recherchen nahe, dass die drei untergetauchten NSU-Mitglieder in Zwickau durchaus enge Beziehungen zur örtlichen Neonazi-Szene rund um den früheren Zwickauer Neonazi Ralf Marschner hatten. Dieser berichtete als V-Mann „Primus“ über Jahre dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) über die Szene. Die Nebenklage stellte dazu einen umfangreichen Beweisantrag, um die Vorgänge weiter aufzuklären und im Prozess zu thematisieren. Doch nachdem schon die BAW die Aussagen im Antrag als „Gerüchte“ abgetan und mitgeteilt hatte, es sei bereits alles ausermittelt, verwahrte sich auch das Gericht dagegen, Marschner oder seinen damaligen V-Mann-Führer als Zeugen zu laden und die entsprechenden Akten hinzuzuziehen. Wie viele andere Beweisanträge auch wurde dieser Antrag mit der Begründung abgelehnt, die Beweisaufnahme sei für die „Schuld- und/oder Straffrage bei den Angeklagten“ nicht von Bedeutung, eine Aufklärung nicht geboten. Anders ausgedrückt heißt das: Selbst wenn der V-Mann vom NSU-Kerntrio gewusst hätte, würde dies für ein Urteil gegen die fünf Angeklagten keine Rolle spielen, folglich braucht sich das Gericht aus seiner Perspektive damit nicht weiter auseinanderzusetzen. Hier zeigen sich deutlich die juristischen Grenzen des NSU-Strafverfahrens.

Doch in ihrer Ablehnung des Nebenklageantrags ging das Gericht noch einen Schritt weiter und wies eine mögliche Mitverantwortung der Geheimdienste durch das Wissen ihrer V-Leute zurück. Selbst wenn V-Leute des Verfassungsschutzes Informationen über den Aufenthaltsort gehabt hätten, sei dies nach Ansicht des Gerichts irrelevant, da dieses Wissen „nicht zwangsläufig dazu [führe], dass eine Festnahme der gesuchten Personen durchgeführt werden konnte und dass damit eine Verhinderung angeklagter Taten für die Behörden möglich gewesen wäre“. Kurzum: Was V-Leute und Behörden möglicherweise gewusst haben, spielt im Prozess keine Rolle mehr und wird auch nicht mehr aufgeklärt werden. „Wenn das Gericht meint, dass eine ursächliche Mitverantwortung des Verfassungsschutzes für die Morde, Anschläge und Raubüberfälle des NSU zwar möglich, aber nicht zwingend sei, mag das juristisch spitzfindig der Ablehnung der Anträge dienen. Eine Aufklärung des Netzwerkes NSU und der Möglichkeit der Verhinderung der Morde und Anschläge wird damit unterbunden: nicht weil man eine Aufklärung nicht betreiben könnte, sondern weil man sie nicht weiter betreiben will“, kommentierte der Nebenklagevertreter Sebastian Scharmer die Entscheidung des Gerichts.

Fragen an die Angeklagte

Das Verfahren hat im letzten Jahr deutlich an Dynamik verloren. Prozesstage werden kurzfristig abgesagt, andere enden bereits zur Mittagspause. Ein Grund war die mühsame Befragung Beate Zschäpes, die auf schriftlich erfolgte und sich seit Dezember 2015 hinzog. Die Hauptangeklagte könnte wichtige Fragen klären, doch hat ihre Aussage bislang nichts Neues zu Tage gefördert, was relevant wäre. Nach Abschluss der Befragung durch die Richter_innen konnten Anfang Juli 2016 endlich die anderen Prozessbeteiligten ihre Fragen an die Angeklagte richten. Während es von den Verteidiger_innen nur sehr wenig Nachfragen gab und die BAW keine einzige Frage an Zschäpe richtete, wurden von der Nebenklage mehrere hundert Fragen gestellt. Die Fragen dokumentieren eindrücklich, welche großen Lücken es noch im NSU-Komplex gibt. Sie reichen von den großen ungelösten Komplexen bis hin zu kleinteiligen Fragen: Warum und wie wurden die zehn Getöteten als Mordopfer ausgesucht? Warum wurden zweimal in Köln Anschläge verübt? Wie viel Geld haben Sie durchschnittlich im Monat verbraucht? Antworten wird es wohl nicht geben, Zschäpe weigert sich, die Fragen der Nebenklage zu beantworten. Auch Fragen der Sachverständigen beantwortete sie erst, nachdem das Gericht sich diese zu eigen gemacht hatte.

In den Medien sorgten Ende September Berichte für Aufsehen, dass Zschäpe im Prozess erstmals selbst gesprochen habe. Tatsächlich verlas die Hauptangeklagte eine nur wenige Zeilen lange Erklärung, in der sie davon sprach, dass sie für das „nationalistische Gedankengut“, mit dem sie sich mal in Teilen identifiziert habe, heute keine Sympathien mehr hege. Sie beurteile Menschen nach ihrem „Benehmen“, nicht nach ihrer Herkunft. Außerdem verurteile sie, was Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos den Opfern und ihren Familien angetan hätten. Wie weit es her ist mit diesen Worten, zeigte sich direkt im Anschluss, als ihre Verteidigung sich erneut weigerte, Fragen der Nebenklage zu beantworten. Ihre letzte Handlung, das Verschicken der Bekenner-DVDs mit klarem neonazistischem Bekenntnis, spricht zudem eine völlig andere Sprache als das Bild, das andere Zeug_innen von ihr zeichneten.

Für die Prozessbeteiligten und alle anderen, die den Prozess im Gerichtssaal oder von draußen verfolgen, ist das schleppend verlaufende Verfahren enorm ermüdend. Auch das lange Zeit hohe Medieninteresse hat spürbar abgenommen, zumal es wenig zu berichten gibt. Den Komplex NSU komplett aufzuklären, kann der NSU-Prozess nicht leisten – und will es auch nicht, wie der Vorsitzende Richter Manfred Götzl immer wieder deutlich macht. Auch die BAW wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass der Prozess kein Untersuchungsausschuss sei. Dabei verkennt sie die zentrale Bedeutung des Prozesses, gerade für viele Angehörige der Opfer. Der Prozess ist für sie die einzige Möglichkeit, als Nebenkläger_innen selbst das Wort zu ergreifen, gehört zu werden und Fragen und Beweisanträge stellen zu können. Denn ob es überhaupt zu weiteren Verfahren gegen NSU-Unterstützer_innen kommen wird, ist völlig offen. Zwar ermittelt die BAW gegen rund ein Dutzend weiterer Neonazis und es läuft ein Strukturermittlungsverfahren, doch über die weiteren Ermittlungen bekommen selbst die Nebenkläger_innen kaum Informationen.

Neues zur „Aktion Konfetti“

Neuigkeiten gab es im Bundestags-Untersuchungsausschuss über die Aktenschredderei des BfV im November 2011. Im September wurde dort erneut der damalige Leiter des Referats „Forschung und Werbung“ mit dem Decknamen „Lothar Lingen“ vernommen. Dieser verweigerte die Aussage, da er neue Ermittlungen gegen sich befürchtete. Einen Tag nachdem sich Zschäpe in Jena der Polizei gestellt hatte, lief im Bundesamt eine Schredder-Aktion an, bei der die Akten mehrerer Thüringer V-Leute auf Veranlassung von Lingen gezielt vernichtet worden waren, nach Aussagen von Mitarbeiter_innen sollte dies „so schnell wie möglich“ geschehen. Offen bleibt, ob Lingen auf eigene Veranlassung oder Anweisung von oben handelte.

Klar ist aber, dass mehrere Mitarbeiter_innen aus Lingens Referat beteiligt waren. Die geschredderten Akten kosteten den damaligen Präsidenten Heinz Fromm den Job. Der Verfassungsschutz behauptete zunächst, dass die Aktenvernichtung aus Gründen des Datenschutzes und überzogener Löschfristen durchgeführt wurde. Auch eine interne Untersuchung des Bundesinnenministeriums wollte keinen Zusammenhang zum Bekanntwerden des NSU erkennen. Nun wurde durch den Untersuchungsausschuss öffentlich, dass sich Lingen bereits im Oktober 2014 vor der BAW zu der vorsätzlichen Aktenvernichtung im Zusammenhang mit dem NSU bekannt hatte. Angeblich will er die Akten vernichtet haben, um das Amt vor kritischen Nachfragen zu schützen und sich Arbeit zu ersparen. Ihm sei klar gewesen, dass sich die Öffentlichkeit für die V-Leute des Bundesamts in Thüringen interessieren und die Frage stellen werde, warum die Behörden über die Aktivitäten des Trios nicht informiert gewesen sei, so Lingen gegenüber den Bundesanwälten. „Die nackten Zahlen sprachen ja dafür, dass wir wussten, was da läuft, was aber nicht der Fall war. Und da habe ich mir gedacht, wenn […] die Anzahl unserer Quellen im Bereich des THS (Thüringer Heimatschutz) und in Thüringen nicht bekannt wird, dass dann die Frage, warum das BfV von nichts gewusst hat, vielleicht gar nicht auftaucht“, so Lingen ausweislich eines Vernehmungsprotokolls. Zudem hätten vorhandene Akten zu „endlosen Prüfvorgängen“ führen können: „Vernichtete Akten können aber nicht mehr geprüft werden. Dies war ein Reflex, der bei meiner Entscheidung eine Rolle spielte.“ Offen bleibt, was die Akten tatsächlich enthielten. Nach Lingens Angaben stand darin nichts über den NSU, Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Selbst wenn das stimmen sollte, hätten sie aber eventuell Aufschluss über zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannte Unterstützer_innen und das Netzwerk des NSU geben können.

Auch hier mauerte die BAW wieder einmal. Als die Nebenklage im letzten Jahr die Ladung Lingens vor Gericht beantragt hatte, erfuhr sie nichts von den Vernehmungen. Die Behörde antwortete auf ihren Beweisantrag, ihre Behauptung, die Akten seien gezielt vernichtet worden, um sie dem Strafverfahren zu entziehen, sei „aufs Blaue hinein und entgegen aller bislang vorliegenden Erkenntnisse spekulativ“. Ob der Bundestags-Untersuchungsausschuss noch mehr dazu aufklären wird, wird sich in den nächsten Wochen und Monaten zeigen. So lange möchten die Betroffenen aber nicht warten. Die Vertreter_innen der Familie Kubasik erstatten nun Strafanzeige gegen Lingen und weitere Mitarbeiter_innen des Bundesamtes wegen Strafvereitelung, Urkundenunterdrückung und Verwahrungsbruch. „Uns ist Aufklärung versprochen worden, aber das Gegenteil ist der Fall. Ich möchte wissen, ob der Verfassungsschutz Informationen hatte, mit denen der Mord an meinem Mann hätte verhindert werden können“, erklärte Elif Kubasik, die Witwe des ermordeten Mehmet Kubasik.

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