Der NSU-Prozess in der Endphase

Bundesanwaltschaft beharrt auf der Trio-These

Nach mehr als vier Jahren haben im Münchener NSU-Prozess die Schlussvorträge begonnen. Die Bundesanwaltschaft sieht ihre Anklage durch die Beweisaufnahme vollumfänglich bestätigt und fordert teils hohe Strafen für die fünf Angeklagten. Der Prozess befindet sich damit in seiner finalen Phase. Nach der Bundesanwaltschaft hält nun die Nebenklage ihre Schlussvorträge, danach haben die Verteidigung und die Angeklagten das Wort, bevor das Gericht das Urteil spricht.

Die Dimension des NSU-Prozesses ist gewaltig: 374 Verhandlungstage dauerte die Beweisaufnahme im Saal A101 des Münchener Strafjustizzentrums, an denen 248 Beweisanträge gestellt wurden — 152 davon von der Nebenklage. Fast 540 Zeug_innen und 56 Sachverständige vernahm das Gericht. Über ein Drittel (216) der geladenen Personen waren Polizist_innen, aus den Verfassungsschutzämtern kamen 13 Zeug_innen — hauptsächlich aus Thüringen und Hessen — sowie mindestens 8 Informant_innen, die aus der Neonazi-Szene den Behörden berichteten. Die meisten VS`ler_innen und V-Leute wurden auf Initiative der Nebenklage hin geladen, die Bundesanwaltschaft wollte die VS-Ämter weitestgehend aus dem Verfahren heraus halten und hatte mit Tino Brandt lediglich einen V-Mann als Zeugen in ihrer Anklage benannt.

Mit Blick auf die Zeug_innen zeigen sich auch die Lücken des Prozesses. So wurden 63 Neonazis vernommen, von denen 19 die drei untergetauchten Jenaer Nazis und den NSU nachweislich unterstützt hatten. Mit 23 geladenen Personen aus der Szene in Chemnitz wurde vergleichsweise intensiv die Frühphase des NSU beleuchtet. Im Jahr 2000 zogen die drei Untergetauchten dann von Chemnitz ins knapp 50 Kilometer entfernte Zwickau um. Die Frage, wer — abgesehen vom Ehepaar Eminger — das NSU-Kerntrio in Zwickau unterstützte, blieb dagegen weitgehend unbehandelt. Dies verweist nicht nur auf eklatante Mängel in den Ermittlungen von Bundesanwaltschaft und BKA, auch das Gericht machte mit der Ablehnung entsprechender Beweisanträge der Nebenklage, wie zum früheren Zwickauer Ralf Marschner alias V-Mann „Primus“, deutlich, dass es kein Interesse hatte, die Zeit in Zwickau umfassend zu untersuchen.

Schnelle Abhandlung der Taten

Vergleichsweise viel Raum nahm im Prozess der Anschlag in der Kölner Keupstraße ein, hierzu wurden 53 Personen vernommen. Die anderen Morde und Anschläge hingegen wurden teilweise äußerst schnell abgewickelt. Mit dem Mord an Mehmet Turgut im Februar 2004 in Rostock beschäftigte sich das Gericht lediglich an einem einzigen eigenen Verhandlungstag, an vier weiteren Tagen ging es zwar um den Mord in Rostock, aber ebenso noch um andere Themen. Lediglich acht Personen wurden vernommen. Angehörige hörte das Gericht nicht. Ähnlich bei der Beweisaufnahme zum Mord an Süleyman Taşköprü in Hamburg, wo lediglich sieben Personen vernommen wurden, oder beim Mord an Theodoros Boulgarides in München, bei dem es neun waren. Dies zeigt, wie wenig zu einzelnen Taten bekannt ist und wie wenig vor Ort ermittelt wurde.

Von den Angehörigen der Mordopfer wurden nur Nebenkläger_innen aus fünf Familien vom Gericht angehört. Den anderen blieb die Möglichkeit, über die Folgen und Auswirkungen der Taten zu berichten, verwehrt. Die für viele Nebenkläger_innen äußerst wichtige Fragen nach der konkreten Auswahl der Opfer und nach möglichen Unterstützer_innen an den Tatorten waren kaum Thema im Prozess und bleiben bis heute ungeklärt.

Kampf um die Deutungshoheit

Die Bundesanwaltschaft nutzte gleich den Beginn ihres Plädoyers dazu, ihre Leitlinien deutlich zu machen. Anhaltspunkte für eine „strafrechtliche Verstrickung von Angehörigen staatlicher Stellen“ habe es im Prozess nicht gegeben — und wenn es sie gegeben hätten, wären sie in „gesetzlich vorgesehener Weise“ aufgeklärt worden. Die Bundesanwaltschaft beharrt in ihrem Plädoyer auf ihrer Anfangsthese, der NSU habe lediglich aus einem isolierten Trio (Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe) bestanden, das alle Morde, Anschläge und Raubüberfälle alleine verübt habe. Alle, die diese These in Zweifel ziehen, diffamierte Bundesanwalt Herbert Diemer vor Gericht als „Irrlicher“. Die Lücken in den eigenen Ermittlungen nutzte die Bundesanwaltschaft dabei zu massiven Angriffen auf die Nebenklage. Oberstaatsanwältin Anette Greger verstieg sich gar in die dreiste Behauptung, einige Rechtsanwälte hätten ihren Mandanten offensichtlich die Existenz von rechten Hintermännern versprochen. Dabei nutzt die Bundesanwaltschaft die durch Beweisanträge der Nebenklage gewonnenen Erkenntnisse durchaus, sofern diese der Untermauerung ihrer These dient. Andere Erkenntnisse, etwa die zentrale Rolle des Unterstützungsnetzwerks und der Blood & Honour-Strukturen, ignoriert die Bundesanwaltschaft, da es ihre These vom Drei-Personen-NSU in Frage stellen würde.

Hohe Strafen gefordert

Wie zu erwarten war, fallen die Strafanträge der Bundesanwaltschaft gegen die Angeklagten meist hoch aus. Beate Zschäpe soll als Mittäterin zu lebenslanger Haft, unter Anerkennung einer besonderer Schwere der Schuld, verurteilt werden. Darüber hinaus soll Sicherungsverwahrung gegen sie verhängt werden. Für Ralf Wohlleben fordert die Bundesanwaltschaft wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen zwölf Jahre Haft. Carsten Schultze, der als Kronzeuge der Anklage ausgesagt hatte, soll für den gleichen Tatkomplex deutlich milder davon kommen. Gegen den zur Tatzeit unter 21-Jährigen beantragte die Bundesanwaltschaft drei Jahre Jugendstrafe, ebenfalls wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen. Holger Gerlach, der ebenfalls einzelne Aussagen gemacht hatte, soll wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu fünf Jahren Haft verurteilt werden. Überraschend war die Bewertung von André Eminger. Hier fordert die Bundesanwaltschaft zwölf Jahre Haft wegen Beihilfe zum versuchten Mord, anderer Beihilfen sowie Unterstützung des NSU. Für Eminger, der sich während des gesamten Prozesses auf freiem Fuß befunden hatte, erließt das Gericht daraufhin Haftbefehl wegen Fluchtgefahr. Seine Verteidigung, die den gesamten Prozess über keinen einzigen eigenen Beweis- oder Befangenheitsantrag gestellt hatte, stellte nun mehrere Befangenheitsanträge gegen das Gericht.

Zuletzt brachten diese Befangenheitsanträge den Prozess wieder ins Stocken und verzögerten die Plädoyers der Nebenklage. In den Plädoyers bekommen auch die vom Gericht nicht geladenen Nebenkläger_innen noch einmal die Möglichkeit, ihre Perspektive und Bewertung öffentlich dazulegen. Die Anwält_innen der Nebenklage haben bereits deutlich gemacht, dass sie im Gegensatz zur Bundesanwaltschaft die ideologische und strukturelle Einbettung des NSU, das staatliche Mitverschulden, die Auswirkungen der Taten auf die Betroffenen und die über Jahre hinweg betriebenen strukturell rassistischen Ermittlungen thematisieren werden. Die Plädoyers werden sich voraussichtlich über Wochen hinziehen, ein Urteil wird erst im nächsten Jahr erwartet.

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@korallenherz