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„Niemand kam und fragte: Wie geht es Ihnen?“

Die Betroffenen des Wehrhahn-Anschlags

Zehn Migrant\*innen aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion wurden durch den Bombenanschlag am S-Bahnhof Wehrhahn verletzt, zwei weitere blieben unverletzt — zumindest körperlich. In der öffentlichen Berichterstattung waren und sind sie allesamt kaum wahrnehmbar. Und auch während des Prozesses vor dem Landgericht Düsseldorf spielten sie und ihre Perspektiven nur eine Nebenrolle.

Zehn Migrant*innen aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion wurden durch den Bombenanschlag am S-Bahnhof Wehrhahn verletzt, zwei weitere blieben unverletzt — zumindest körperlich. In der öffentlichen Berichterstattung waren und sind sie allesamt kaum wahrnehmbar. Und auch während des Prozesses vor dem Landgericht Düsseldorf spielten sie und ihre Perspektiven nur eine Nebenrolle.

Nur dem Zufall war es zu verdanken, dass die Bombenexplosion am 27. Juli 2000 nicht zwölf Todesopfer forderte. Die wenigen Betroffenen, die sich öffentlich über den Anschlag äußern, beklagen, dass sie noch immer unter den Folgen des Anschlags leiden. Und sie kritisieren die mangelnde Unterstützung, die ihnen nach dem Anschlag zuteil wurde.

Eine der Betroffenen, die heute öffentlich über die Anschlagsfolgen sprechen, ist Ekaterina P. Gegenüber dem WDR kritisierte sie die Politik: Niemand habe sich nach dem Anschlag für sie interessiert, kein Politiker und auch keine Behörde. Es habe keine Hilfe oder Entschädigung für die erlittenen Verletzungen gegeben. Ekaterina P. war kurze Zeit vor dem Anschlag aus Kasachstan nach Deutschland gekommen. Wie die anderen Betroffenen auch besuchte sie einen Deutsch-Sprachkurs im Düsseldorfer Stadtteil Flingern. Zuvor hatte sie am Moskauer Handelsinstitut studiert und anschließend als leitende Kauffrau in einem Stoffgroßhandel gearbeitet. Nach dem Bombenanschlag, bei dem sie lebensgefährlich verletzt wurde, bemühte sie sich um Umschulungen, doch das Jobcenter habe ihr damals zu einem Putzjob geraten, so P. gegenüber dem WDR.

Ekaterina P. leidet bis heute an den Folgen des Anschlags. Seit zwei Jahren wird sie durch die Opferberatung Rheinland (www.opferberatung-rheinland.de) unterstützt. In dem WDR-Interview wünschte sie sich eine Würdigung ihres Leidens durch die Politik. Nach der öffentlichen Kritik lud das Büro des Düsseldorfer Oberbürgermeisters, Thomas Geisel, sie ins Rathaus ein.

Hilfe erhielten einige der Betroffenen bereits unmittelbar nach dem Anschlag durch die Jüdische Gemeinde in Düsseldorf, wie deren Geschäftsführer Michael Szentei-Heise bei einer Veranstaltung im Januar 2018 noch einmal berichtete. Der Rabbiner habe sich um sie gekümmert, unter den Gemeindemitgliedern seien Spenden gesammelt worden. Die Verantwortlichen der Gemeinde hätten die Betroffenen zudem auf deren Wunsch hin von den Medien abgeschottet.

Ermittlungen im Opfer-Umfeld

Auf der Suche nach einem Motiv für den Anschlag und nach den Täter*innen nahm die polizeiliche Ermittlungskommission auch das Umfeld der Opfer in den Fokus. In welcher Intensität dies geschah, ist unklar. Sicher ist jedoch, dass Theorien überprüft wurden, wonach die Täter*innen aus dem direkten Umfeld der Betroffenen kommen könnten. Eine davon zielte auf eine Eifersuchts- oder Beziehungstat ab. In der Bild erschienen Artikel, in denen auf reißerische Art entsprechende „Beobachtungen“ vermeintlicher Nachbar*innen präsentiert wurden.

Eine andere Ermittlungstheorie besagte, dass sich möglicherweise einzelne Betroffene ihren Status als „Kontingentflüchtling“ illegal besorgt und hierfür Schulden bei der „Russenmafia“ oder anderen Strukturen der Organisierten Kriminalität (OK) gemacht haben könnten. Überhaupt scheint sich für die Ermittler*innen nicht erst nach der Einstellung des damaligen Ermittlungsverfahrens gegen Ralf S. im Jahr 2002 die Theorie, dass der Anschlag einen russischen oder polnischen, also osteuropäischen OK-Hintergrund haben könnte, durchgesetzt zu haben, ohne jemals hierzu etwas Brauchbares abliefern zu können.

Als Zeug*innen vor Gericht

Im Wehrhahn-Prozess war Ekaterina P. eine von fünf Betroffenen, die als Nebenkläger*innen auftraten. Als Zeugin sagte sie nicht aus.  Diejenigen drei Betroffenen, die in den Zeugenstand traten, wurden erst am 26. Prozesstag gehört, zwei Prozesstage nach der Entlassung des Angeklagten Ralf S. aus der Untersuchungshaft. Lediglich drei Betroffene sagten als Zeug*innen am 8. Juni 2018 aus: Der 68-jährige Borys V., die 70-jährige Tuti A. und deren 42-jährige Schwiegertochter Naila A.

Tuti A. berichtete, dass sie durch die Wucht der Explosion fast über das Geländer der Fußgängerbrücke gestürzt sei. Bei ihr hätten Bombensplitter entfernt werden müssen, zudem sei sie am Knie operiert worden. Ein großer und kleine Splitter hätten sie am Bein verletzt, diese hätten operativ entfernt werden müssen. Damals habe sie Probleme beim Gehen gehabt. Auch heute noch schmerze ihr linkes Bein manchmal. Auch V. erklärte, dass er noch heute Beschwerden habe. Er war durch Bombensplitter lebensgefährlich im Bauchbereich verletzt worden.

Als einzige der als Zeug*innen befragten Betroffenen konnte Naila A. auch Angaben zum Angeklagten machen, nachdem sie zuvor ihre Erinnerungen an den Anschlagstag geschildert und über ihre Verletzungen gesprochen hatte. Sie erinnerte sich, den in Camouflage-Uniform Gekleideten häufig in räumlicher Nähe der Sprachschule gesehen zu haben, hin und wieder auch in Begleitung weiterer Personen. Gegen Sprachschüler*innen gerichtete Bedrohungen seien ihr aber nicht bekannt. Gegenüber der Westdeutschen Zeitung äußerte sie sich eher resigniert: „Wir sind nach der langen Zeit gleichgültiger geworden. Man beobachtet das Ganze ruhiger als am Anfang.“ Sie würde es aber begrüßen, wenn der Täter verurteilt werde, sofern man es ihm beweisen könne: „Damit er das nicht wieder machen kann.“

„Es bleibt kein ‚In dubio‘“

In ihren Abschlussplädoyers zeigten sich die Anwält*innen der Nebenklage von der Täterschaft von Ralf S. überzeugt. Der Nebenklagevertreter Rechtsanwalt Juri Rogner warnte die Kammer davor, im Falle eines Freispruchs „den schwersten Justizfehler in der Geschichte Düsseldorfs zu begehen“. Nebenklagevertreterin Rechtsanwältin Anne Mayer fasste zusammen: „In der Gesamtschau tragen zahlreiche Indizien und Aussagen von Zeugen und Zeuginnen zum Beweis der Täterschaft bei.“ Das Motiv sei „klar“, die Ankündigung der Tat „deutlich“, ebenso die „sorgfältige Vorbereitung auf ein Alibi vor der Begehung der Tat“. Hinzu kämen „die glaubhaften — und mutigen — Aussagen der Zeugen L[…] und P[…].“ Ihr Fazit: „Es bleibt kein ‚In dubio‘.“

Der Nebenklagevertreter Rechtsanwalt Michael Rellmann äußerte sich nach der Urteilsverkündung wie folgt: „Das ist kein guter Tag für die Justiz und ein schlechter Tag für die Opfer des Anschlags.“ Diese hätten sich darauf verlassen, dass ein Urteil gefällt würde, was den Umständen und Indizien gerecht geworden wäre. „Das Leben aller ist aus der Bahn geworfen worden“, so Rellmann. Viele der Betroffenen seien heute noch traumatisiert.
Gegenüber der Süddeutschen Zeitung forderte Anne Mayer, eine Gedenktafel am Tatort anzubringen und die Geschichte der Betroffenen sichtbar zu machen: „Dann hätten sie immerhin die Gewissheit, nicht völlig vergessen zu werden.“ Dieser Forderung haben sich auch diverse antifaschistische Initiativen aus Düsseldorf angeschlossen. Die Umsetzung der Forderung wird aktuell auf lokalpolitischer Ebene verhandelt.