„Der NSU war eine Zäsur für uns“

Interview mit Felix Hansen von der Initiative „NSU-Watch“

Seit mehreren Jahren bereits gibt es die stets gefüllte Rubrik „Kontext NSU“ in der LOTTA. Inhaltlich gefüllt wurde sie zumeist von der Initiative „NSU-Watch“, insbesondere von Felix Hansen. LOTTA sprach mit ihm über die Arbeit und die Einschätzungen von „NSU-Watch“ nach dem Ende des Münchner Prozesses.

„NSU-Watch“ war an jedem Prozesstag zur Dokumentation im OLG München, denn ein offizielles Protokoll gab es nicht. Hat sich der riesige Aufwand „gelohnt“? Was ist euch besonders im Gedächtnis geblieben?

Als NSU-Watch im Mai 2013 mit der Dokumentation des Prozesses anfing, hatte wohl niemand von uns erwartet, dass wir über fünf Jahre später noch immer im Gerichtssaal sitzen würden. Der Aufwand war in der Tat sehr hoch und hat uns immer wieder an Grenzen gebracht, sowohl unsere Protokollant_innen im Gerichtssaal, als auch alle Beteiligten außerhalb. Trotz allem ziehen wir eine positive Bilanz: Wir waren an allen 438 Prozesstagen vor Ort, die Protokolle finden sich auf unser Website — einige fehlen noch, diese werden aber bis Frühjahr 2019 vervollständigt. Nur durch die Sicht auf alle Prozesstage entsteht das vollständige Bild dieses Prozesses.

Der Prozess hatte viele wichtige Momente. Im Gedächtnis geblieben sind vor allem die Aussagen der Angehörigen der Mordopfer und der Betroffenen der NSU-Anschläge, die das unfassbare Leid und die brutalen Folgen der Taten greifbar gemacht haben, aber auch ihre Stärke, mit der sie den von juristischen Formalien geprägten Alltag im Gerichtssaal durchbrechen konnten. Beispielsweise Ayşe und İsmail Yozgat, die Eltern von Halit Yozgat, die nicht müde wurden, die Rolle des hessischen VS-Mitarbeiters Andreas Temme zu thematisieren und immer wieder ihre Forderung nach der Umbenennung der Holländischen Straße in Kassel wiederholt haben. Gerade die Plädoyers der Angehörigen gehörten zu den beeindruckendsten Momenten im Prozess, etwa als Elif Kubaşık deutlich machte, dass der Prozess zentrale Fragen nicht beantwortet hat, sie sich von den Tätern aber nicht vertreiben lasse: „Wir sind ein Teil dieses Landes, und wir werden hier weiterleben.“

In den letzten Jahren des Prozesses wurden die Beweisanträge der Nebenklage überwiegend vom Senat abgelehnt. Wie erklärt ihr euch das, und welchen Wert haben diese Anträge trotzdem?

Die Bundesanwaltschaft hat von Anfang an — schon durch die sehr eng gehaltene Anklage — versucht, zentrale Fragen aus dem Prozess herauszuhalten. Dazu gehört die Rolle von Geheimdiensten und V-Leuten, aber vor allem auch das Netzwerk des NSU. Letztendlich müssen wir leider konstatieren, dass die Ankläger_innen damit recht erfolgreich waren, denn das Gericht ist ihnen an vielen Punkten gefolgt. Das Gericht hat deutlich gemacht, dass es eben nicht an einer umfassenden Aufklärung interessiert war. Selbst wenn es, wie öffentlich immer wieder behauptet wird, im Strafprozess allein um die fünf Angeklagten gegangen wäre, hat der Prozess ja vieles im Dunkeln gelassen.

Beispielsweise Fragen zu lokalen Unterstützer_innen, zu denen auch der Angeklagte André Eminger zu zählen ist, und zwar bis zur Selbstenttarnung im Jahr 2011. Dass diese Lücken aber als solche bekannt wurden und die vielen offenen Fragen gegen alle Widerstände vor Gericht öffentlich thematisiert wurden, ist der Nebenklage zu verdanken. Sie hat durch zahlreiche sehr akribisch recherchierte und umfangreiche Beweisanträge in die Öffentlichkeit gebracht, was eben nicht ermittelt wurde, und vor allem die Deutungshoheit der Bundesanwaltschaft durchbrochen. So wurde auch öffentlich deutlich, dass der NSU eben kein isoliertes Trio war und von Anfang an lokale Unterstützungsstrukturen hatte. Andere Aspekte, wie die Rolle von Blood & Honour und Neonazi-Konzepten als mögliche Vorbilder und Blaupausen des NSU wären ohne die Nebenklage erst gar nicht thematisiert worden.

Wo die Ergebnisse ins Konzept der Bundesanwaltschaft passten, hat sie diese am Ende auch taktisch in ihrem Plädoyer verwendet, als es etwa um die mögliche Ausspähung einer Berliner Synagoge ging, was erst durch einen Nebenklage-Antrag thematisiert wurde. Aber auch die Frage nach der Rolle der staatlichen Institutionen konnte zumindest thematisiert, wenn auch oft nicht geklärt werden, wie etwa von Polizei und Justiz bei den oft rassistisch geprägten Ermittlungen oder die der Verfassungsschutzämter mit ihren V-Leuten oder die Schredder-Aktionen im Bundesamt für Verfassungsschutz im November 2011.

In der Urteilsbegründung blieb nicht viel vom Aufklärungsversprechen übrig. Wie bewertet ihr das Urteil und dessen Begründung — und was hättet ihr euch stattdessen gewünscht?

Bislang gibt es nur die mündliche Urteilsbegründung bei der Verkündung des Urteils, die schriftliche Begründung wird in den nächsten Monaten erwartet. Die Urteilsverkündung war an vielen Stellen hanebüchen und spiegelt in keinster Weise wider, was wir in den letzten fünf Jahren in München erlebt haben: kein Wort zu V-Leuten und Geheimdiensten, nichts zum Netzwerk des NSU und ein Affront gegenüber den Betroffenen und Angehörigen, die mit keiner Silbe angesprochen oder erwähnt wurden. Auch die zugrunde liegende neonazistische Ideologie kam nur ganz am Rande vor, Rassismus spielte keine Rolle.

Das Mindeste wäre gewesen, deutlich zu machen, dass zentrale Fragen nicht geklärt werden konnten, doch der Vorsitzende Richter Manfred Götzl wollte mit dem Urteil einen Schlussstrich ziehen und fiel dabei sogar hinter die Bundesanwaltschaft zurück. Dabei wäre ein anderer Prozess möglich gewesen: Ein Prozess, der die Interessen der Betroffenen sowie die Nebenklage und ihre Erkenntnisse ernst nimmt, versucht Antworten auf die ungeklärten Fragen zu finden und das Wirken des NSU zu verstehen.

Antifaschist_innen hatten den NSU vor der Selbstenttarnung 2011 nicht wahrgenommen, obwohl das Wissen über rechte Terrorkonzepte vorhanden war und Angehörige der Mordopfer und viele andere Menschen mit Migrationshintergrund auf die Mordserie hinwiesen. Wurde daraus etwas gelernt?

Wir finden es nach wie vor sehr wichtig, immer wieder auf die Demonstrationen der Angehörigen im Jahr 2006 in Kassel und Dortmund hinzuweisen, die nur von sehr wenigen Antifaschist_innen wahrgenommen wurden, auch von uns nicht. Ebenso wichtig ist es, die anderen ungeklärten Fälle nicht zu vergessen und diese öffentlich zu thematisieren, wie beispielsweise den ungeklärten Mord an Fefzi Ufuk in Rheda-Wiedenbrück (OWL) oder den Mord an Burak Bektaş in Berlin, die beide von bis heute unbekannten Tätern erschossen wurden.

Wir hoffen, dass auch zukünftig bei ungeklärten Taten genauer hingeschaut wird und zumindest die richtigen Fragen gestellt werden, auch wenn diese nicht immer beantwortet werden können, und dass die Betroffenen nicht vergessen werden. Es ist eine positive Entwicklung, dass sich in den letzten Jahren an vielen Orten Gedenk-Initiativen gegründet haben, die an rassistische Morde und Anschläge erinnern, auch wenn dies sicherlich noch ausbaufähig ist.

Seit der Selbstenttarnung des NSU haben sich viele noch einmal sehr intensiv mit der Geschichte des rechten Terrors nach 1945 beschäftigt. Dabei ist deutlich geworden: Der NSU ist Teil einer Kontinuität und nichts von dem, was den NSU-Komplex ausmacht, war neu. Dabei denken wir beispielsweise an die rechten Terrorkonzepte, die Anschläge und Morde, vorurteilsgeprägte Ermittlungen der Polizei gegen die Betroffenen, die Involviertheit der Behörden.

Die Gesamtschau ist sehr ernüchternd, gerade wenn bedacht wird, dass dies Teil eines antifaschistischen Wissens lange vor dem NSU war. Bei den Betroffenen und in der Neonazi-Szene war dieses Wissen nie weg. Wir sehen es als unsere Aufgabe, dass rechter Terror als solcher erkannt wird und zumindest Antifaschist_innen und eine sensibilisierte Öffentlichkeit nicht wieder hinter diesen Wissensstand zurückfallen.

Wie geht die Aufarbeitung des NSU-Komplexes nach dem Prozessende weiter? Im Prozess hattet ihr ja in erster Linie eine beobachtende Rolle, oder?

Der NSU war eine Zäsur für uns, und die Aufarbeitung geht auch nach dem Prozessende weiter. Der NSU-Prozess war in den letzten fünf Jahren ein Schwerpunkt unserer Arbeit, aber bei weitem nicht der einzige Aspekt. In fünf Bundesländern haben Landesprojekte vor Ort die Arbeit der Untersuchungsausschüsse kritisch begleitet. Dabei ist die Dokumentation der Ausschüsse und des Prozesses stets nur ein Aspekt gewesen. Es sind zahlreiche Recherchen entstanden, weit mehr als wir in den letzten Jahren veröffentlichen konnten, wir wurden von Medien und Initiativen angefragt und haben unsere Erfahrungen weitergegeben. Daran werden wir auch zukünftig anknüpfen — und auch die Öffentlichkeitsarbeit wird weitergehen. Als einer der nächsten Schritte, ist die Veröffentlichung eines Buches geplant, das eine vorläufige Bilanz zieht.

Der Rechtsruck schreitet weiter voran — und bringt rechten Terror mit sich. Was wurde gesellschaftlich aus dem NSU gelernt? Seht ihr Bestrebungen und Initiativen, die es erlauben, darauf zu hoffen, dass es auch positive Entwicklungen gibt?

Es fällt schwer, in der aktuellen politischen Situation und angesichts der rassistischen Massenmobilisierungen von positiven gesellschaftlichen Entwicklungen zu sprechen. Heute sehen wir, dass eine rechte Terrorgruppe nach der anderen entsteht. Und wenn in Chemnitz Tausende auf die Straße gehen, sind auch Personen aus dem NSU-Unterstützungskreis dabei. Es sind aber auch antifaschistische und antirassistische Initiativen entstanden, die genauer hinschauen und an rassistische Morde und Anschläge erinnern. Dazu gehört das Gedenken an die NSU-Opfer und daraus entstandene breitere Bündnisse, wie etwa das „NSU-Tribunal“ in Köln und kürzlich auch in Mannheim. Positiv ist, dass die Aufklärung rassistischer Taten breiter öffentlich begleitet wird, wie etwa bei den Prozessen um den S-Bahnhof-Wehrhahn-Anschlag in Düsseldorf oder den Anschlag am S-Bahnhof in Hamburg-Veddel.

Der gesellschaftliche Lernprozess aus dem NSU-Komplex ist zwar insgesamt nicht angemessen und fällt sehr unterschiedlich aus, aber es gibt ihn. Wir selber und auch andere Akteur_innen dürfen sich nicht mit Forderungen an die Behörden oder die Gesellschaft, endlich aus dem NSU-Komplex zu lernen, zufrieden geben oder uns damit aufhalten. Angesichts des Rechtsrucks wird deutlich, dass weite Teile der Gesellschaft und der Behörden dazu nie bereit waren. Deswegen ist es an uns, unsere Forderungen und unsere Lehren umzusetzen und Rassismus, rechte Ideologie, rechten Terror zu erkennen und deutlich zu benennen — und uns dem entgegenzustellen.

Gerade in den sozialen Medien nehmen wir verstärkt wahr, dass sich bei offensichtlich rechten Attentaten wie dem zu Jahresbeginn in Bottrop nicht mehr mit Entpolitisierungen und Relativierungen, warum es sich angeblich nicht um Taten mit rechtem Hintergrund handele, zufrieden gegeben wird. Solchen Narrativen wird entschieden entgegengetreten. Dass es diese Diskussionen gibt, und zwar von verschiedenster Seite, das stimmt uns schon optimistisch.

Vielen Dank für das Interview!

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Robert Andreasch