Mida NINJA

Zurück in die Diktatur?

Die extreme Rechte und das Militär in Brasilien an der Macht

„Tropen-Trump“: Das ist der Beiname, den Jair Messias Bolsonaro erhalten hat, seit die globale Öffentlichkeit während des Präsidentschaftswahlkampfs in Brasiliens auf ihn, seinen Rassismus, seinen Sexismus und seinen brutalen Chauvinismus aufmerksam geworden ist. Bolsonaro steht allerdings für mehr, für Härteres als der New Yorker Immobilienoligarch.

Seine Amtszeit hat mit entfesselten Polizeimorden und einem Generalangriff auf Brasiliens indigene Bevölkerung sowie auf die Millionen zählende Landlosenbewegung begonnen. Und: Mit Bolsonaro, einem Anhänger der einstigen Militärdiktatur, sind die Generäle in Brasília an der Macht zurück.

Die Feierlichkeiten der brasilianischen Streitkräfte am 29. März 2019 gipfelten in der offiziellen Verlesung des Tagesbefehls. Das Militär handele stets „im Einklang“ mit „den legitimen Wünschen unseres Volkes“, hieß es in dem Dokument, das vorzutragen Präsident Jair Messias Bolsonaro angeordnet hatte. Auch am 31. März 1964, so hieß es weiter, hätten die Truppen nur „den Ruf der großen Mehrheit des Volkes erhört und sich der Stabilisierung der Lage angenommen“.

Der 31. März 1964, das war der Tag, an dem die brasilianischen Streitkräfte den Putsch gestartet hatten, der in die Errichtung der Militärdiktatur mündete. Sollte man die Diktatur tatsächlich als „Stabilisierung“ des Landes verharmlosen? Bolsonaro war der Ansicht: Ja. Er hatte noch nie einen Hehl aus seiner Bewunderung für die Generäle gemacht, die das Land 21 Jahre lang mit eiserner Faust beherrscht hatten. Nun hatte er angeordnet, den 55. Jahrestag des Putsches „angemessen“ zu begehen. Die Truppe ließ sich das nicht zweimal sagen: Sie feierte das Jubiläum mit einer großen, festlichen Parade im Militärkommando der Hauptstadt Brasília.

„Ich bin für die Diktatur“

Brasiliens Präsident Bolsonaro, der am 1. Januar 2019 sein Amt angetreten hat, ist den Streitkräften des Landes seit je eng verbunden gewesen. Geboren am 21. März 1955, war er neun Jahre alt, als die Generäle den Ankündigungen von Präsident João Goulart, Teile der Ölindustrie zu verstaatlichen sowie gewisse Schritte zur Landreform einzuleiten, per Putsch einen Riegel vorschoben. 1973 — die mörderischsten Jahre der Militärdiktatur unter Emílio Garrastazu Médici neigten sich dem Ende entgegen — bestand er stolz die Aufnahmeprüfung für die Kadettenschule des Heeres, bevor er 1974 in die unter Rechten prestigeträchtige Academia Militar das Agulhas Negras in Rio de Janeiro aufgenommen wurde.

Bolsonaro ist den Streitkräften nicht nur als Hauptmann der Reserve, sondern vor allem auch als Politiker, seit 1991 als Abgeordneter für Rio im Parlament in Brasília, treu geblieben. Dabei hat ihn die blutige Bilanz der Diktatur nicht gestört. Nach dem Bericht der „Wahrheitskommission“ aus dem Jahr 2014 gab es mindestens 434 Todesopfer, Zehntausende Gefolterte und politische Gefangene, mindestens 8.350, wahrscheinlich viel mehr Todesopfer unter der indigenen Bevölkerung durch Gewalt und Krankheiten vor allem beim Vordringen der Militärs in die Amazonasgebiete. 1993 bekräftigte Bolsonaro demonstrativ: „Ja, ich bin für die Diktatur.“

Nachdem die Generäle 1985 abgedankt hatten, ist es Brasilien gelungen, die Erinnerung an die Diktatur zumindest im Ausland in Klischeebildern von Stränden und tropischen Wäldern, von begeisterndem Fußball und von pulsierenden Karnevalsumzügen zu versenken. Am 1. Januar 2003 schien dann auch politisch der Beweis erbracht, das Land habe sich von Grund auf erneuert: An jenem Tag trat Luiz Inácio Lula da Silva vom Partido dos Trabalhadores (PT), der Partei der Arbeiter, das Präsidentenamt an, ein Mann, der in den 1970er Jahren als Gewerkschafter bei Volkswagen do Brasil im Widerstand gegen die Militärdiktatur gekämpft hatte und dafür von dem deutschen Konzern, der eng mit den Generälen kollaborierte, nach Kräften bespitzelt worden war.

Auf Lula folgte, als er die zwei in Brasilien erlaubten Amtsperioden beendet hatte, mit Dilma Rousseff (PT) eine Frau, die ebenfalls im Widerstand gegen die Diktatur gekämpft und die mörderische Folter der Generäle überlebt hatte. Beiden gelang es, den für Brasilien höchst ertragreichen Rohstoffboom zu nutzen, um vorsichtige Sozialreformen durchzusetzen, die einige Dutzend Millionen Brasilianerinnen und Bra­silianer aus absoluter Armut befreiten und Hoffnung auf ein Ende des Elends im Land schufen. All dies hat das Bild von Brasilien im Ausland geprägt. Im Rückblick muss man konstatieren: Es ist allenfalls die halbe Wahrheit gewesen.

Rechte Eliten

Denn die Militärs verschwanden zwar von der Bühne, als die Demokratie in Brasilien einzog, und sie blieben dem Scheinwerferlicht auch fern, als ein linker Präsident und dann eine linke Präsidentin in Brasília ans Ruder kamen. Sie sind allerdings in den brasilianischen Eliten — zwischen Großgrundbesitzern und Industriellen, zwischen Juristen und hohen Beamten — stets fest verankert geblieben. Man konnte das ahnen, als sämtliche Versuche komplett scheiterten, wenigstens die brutalsten Folterer für ihre Diktaturverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen: Die Generäle, geschützt nicht zuletzt durch Teile der zivilen Eliten, die mit ihnen kollaboriert hatten, blieben für die Justiz unerreichbar. Sie konnten gänzlich ungestraft alljährlich am 31. März des Putsches gedenken, und Politiker wie Bolsonaro ernteten mit ihrem Lob für die Diktatur und mit Interview-Äußerungen wie „Ich bin für Folter“ (Bolsonaro 1999) zwar schwere Empörung beim liberalen Teil des Publikums — aber das tat nicht weh. Die rechten Strukturen innerhalb der Eliten waren zeitweise wenig sichtbar, aber sie blieben intakt.

Sie sind dann so langsam wieder zum Vorschein gekommen, als der Rohstoffboom zu Ende war, die Staatsgelder wie auch die Expansionschancen für die Konzerne knapper wurden, die Mittelschichten seit den frühen 2010er Jahren den Gürtel enger schnallen mussten und auch die Unternehmerfraktion zu der Auffassung gelangte, die schrumpfende Wirtschaft lasse kostspielige Sozialprogramme nun wirklich nicht mehr zu.

Das Jahr 2013 ist in gewisser Hinsicht ein Wendepunkt gewesen. Fahrpreiserhöhungen im Nahverkehr lösten Massenproteste aus, die sich bald auch gegen die exzessiven Staatsausgaben für die Fußball-WM und die Olympischen Spiele richteten, sich gegen die vom PT geführte Regierung wandten — und dabei eine stark antisozialistische Stoßrichtung annahmen. Ein Jahr später gründete sich aus Teilen der Proteste heraus der Movimento Brasil Livre (Bewegung Freies Brasilien), eine wirtschaftsliberale, sozialkonservative und gegen alles Linke mobilisierende Organisation, die stark dazu beitrug, ab dem Sommer 2015 Großdemonstrationen zum Sturz der PT-Regierung landesweit auf die Straße zu bringen. Die Stimmung begann zu kippen.

Ein kalter Putsch

Dilma, 2010 mit klarer Mehrheit gewählt, hatte schon die Wahl im Oktober 2014 nur noch recht knapp gewinnen können. Ab 2015 sank ihre Popularität weiter — nicht nur, weil rechte Kräfte wie der Movimento Brasil Livre agitierten, sondern auch, weil eine gigantische Korruptionsaffäre, die größte ganz Lateinamerikas, das Land erfasste. Brasiliens Politik ist seit jeher durch und durch korrupt; den Eliten in Justiz und Medien gelang es jedoch, Prozesse und Berichterstattung stark — und in der Gewichtung sachlich ungerechtfertigt — auf den PT, auf Präsidentin Dilma und Ex-Präsident Lula, also auf die Linke zu fokussieren, was die Stimmung in der Bevölkerung nun noch weiter nach rechts trieb. Im August 2015 — die Proteste im Land kochten hoch — erklärte General Hamilton Mourão, Chef des Comando Militar do Sul, die Armee stehe im Fall der Fälle bereit, die „Ordnung“ zu garantieren.

Dilma war noch stark genug, seine Strafversetzung in die Wirtschaftsabteilung der Streitkräfte zu erzwingen. Bereits am 12. Mai 2016 jedoch wurde sie in einem — vorsichtig formuliert — von Merkwürdigkeiten durchzogenen Verfahren ihres Amtes enthoben. Maßgeblich beteiligte Politiker hatten den „kalten Putsch“, wie viele den Vorgang nannten, von der Militärführung abnicken lassen — ausweislich geleakter Telefonmitschnitte. Präsident wurde mit Michel Temer ein durch und durch wirtschaftsliberaler Rechter.

Die Militärs haben sich anschließend systematisch auf die Präsidentenwahl im Oktober 2018 vorbereitet. General Augusto Heleno hat vergangenen Herbst berichtet, ein Zirkel ausgewählter Offiziere habe sich über eine längere Zeit wöchentlich getroffen, um die Programmatik für eine Regierung Bolsonaro zu erstellen. Heleno ist heute als Minister für Staatssicherheit eine Schlüsselfigur im Kabinett. Mourão bekräftigte im September 2017, die Streitkräfte würden, sollte sich die Lage im Land nicht beruhigen, intervenieren. Diesmal wurde er nicht mehr strafversetzt; seit Anfang Januar amtiert er nun als Vizepräsident und hat damit einen Posten inne, auf dem nicht selten die eigentlich starken Personen einer Regierung zu finden sind.

Bereits während des Wahlkampfs stellten die Militärs ihrem Kandidaten — ihre Wahl war auf Bolsonaro gefallen, der einst in derselben Einheit wie Mourão gedient hatte — einen Wirtschaftsberater zur Seite, der im Januar zum Wirtschaftsminister aufgestiegen ist: den neoliberalen „Chicago Boy“ Paulo Guedes. Das war notwendig, da Bolsonaro in puncto Wirtschaft stets einen starken Staat favorisiert hatte, während die Generäle nun auf neoliberale Modelle setzten. Bolsonaro hat nie verhehlt, dass er mit dem Neoliberalismus nicht viel anfangen kann, hat sich aber bereitwillig den Militärs gefügt. Guedes hat sich seine Sporen übrigens in den 1970er Jahren als Wirtschaftsprofessor an der Universidad de Chile verdient, als auch dort die Militärs herrschten — unter Augusto Pinochet.

Wer die Macht hat

Zu Bolsonaros Wahlerfolg im Oktober 2018 haben die Militärs auch ganz praktisch beigetragen, indem sie die Telefondaten für eine groß angelegte, diffamierende Whatsapp-Kampagne gegen Bolsonaros Wahlgegner bereitstellten. Behilflich gewesen sind ansonsten rechte Organisationen wie der Movimento Brasil Livre, die in den Jahren der Kampagnen gegen Dilma stark geworden sind. Entscheidend sind allerdings Brasiliens Evangelikale gewesen, Pfingstkirchen wie etwa die Igreja Universal do Reino de Deus von Bischof Edir Macedo, die — in ihrer überwiegenden Mehrheit diskriminierenden Geschlechtermodellen verhaftet, ultrakonservativ, dezidiert antisozialistisch orientiert — zu gut 70 Prozent dem Kandidaten der Militärs ihre Stimme gaben. Das ist keine Marginalie: Inzwischen gehören mehr als 22 Prozent der einst fast durchweg katholischen Bevölkerung Brasiliens einer evangelikalen Freikirche an. Die brasilianischen Evangelikalen, schon lange ein wichtiger Faktor in der Politik des Landes, haben ihren starken Einfluss gezielt eingesetzt, um Bolsonaro ins Amt zu verhelfen.

Neben den Evangelikalen kann Bolsonaro sich zuverlässig auf die Wirtschaft stützen, die den neoliberalen Kurs von Minister Guedes in den höchsten Tönen lobt — darunter übrigens auch die in Brasilien ansässigen deutschen Unternehmen, die zehn Prozent des brasilianischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften und eine entsprechend starke Stellung im Land haben. Unmittelbar nach Bolsonaros Wahlsieg hat Andreas Renschler, Vorstandsmitglied der Volkswagen AG und Vorsitzender des Lateinamerika-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, den Wechsel im Präsidentenamt als „Neuanfang“ gewertet und erklärt, man dürfe sich „nicht von Nervositäten irritieren lassen“.

Zu den Kräften, die Bolsonaro tragen, gehören auch die Großgrundbesitzer und die Agrarindustrie: Der neue Präsident hat bereits Schritte eingeleitet, die als Generalangriff auf Land gelten, das von indigenen Bevölkerungsteilen genutzt, von Großagrariern jedoch zur Produktion von Agrarexportgütern ins Visier genommen wird. Und er hat angekündigt, den Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra (MST, Bewegung der Landarbeiter ohne Boden) zu zerschlagen, eine links geprägte Organisation, die weit mehr als eine Million Menschen vor allem in ländlichen Gegenden hinter sich hat und für eine Landreform eintritt, die Lula und Dilma verwirklichen wollten, die unter Bolsonaro aber nicht die geringste Chance hat. Der Präsident hat angekündigt, vom MST aufgebaute Schulen verbieten zu wollen, weil sie Kinder zu Terroristen ausbilden würden.

Nebenbei: Wer Bolsonaro nicht nur stützt, sondern seine Amtsführung kontrolliert, das haben schon wenige Tage nach seinem Amtsantritt am 1. Januar 2019 die Militärs gezeigt, die mehr als ein Drittel seiner Kabinettsposten innehaben. Nach Gesprächen mit US-Außenminister Mike Pompeo hatte sich der Präsident Anfang Januar dazu hinreißen lassen, per Interview die Einrichtung eines US-Militärstützpunkts in Brasilien anzukündigen. Das führte zu peinlich berührtem Hüsteln unter den Offizieren, bis der Minister für Staatssicherheit, General Heleno, sich erbarmte und offiziell mitteilte, Bolsonaro habe das mit dem Stützpunkt gar nicht so gemeint — alles nur ein Irrtum: Natürlich würden die US-Streitkräfte sich nicht in Brasilien festsetzen. Tatsächlich vertrüge sich eine solche Militärbasis nicht mit dem alten Anspruch der brasilianischen Streitkräfte, ihrerseits die alleinige Hegemonie über Südamerika auszuüben.

Eine Welt voller Zufälle

Bliebe noch zu erwähnen, dass Bolsonaro große Stücke auf die Militär- und die sonstige Polizei hält sowie auf die weniger regulären Milizen, die — häufig von ehemaligen Polizisten geführt — unter dem Vorwand, brutale Drogengangs zu bekämpfen, ebenso brutal in den Favelas der brasilianischen Großstädte wüten. Im Jahr 2017 kamen in Brasilien offiziell 5.012 Menschen durch Polizeigewalt ums Leben; die Zahl der Opfer von Milizen ist wohl deutlich höher. Bolsonaro hat angekündigt, es Polizisten noch zu erleichtern, Bewohner von Favelas zu erschießen.

Einer seiner Anhänger, der neu gewählte Gouverneur von Rio de Janeiro, Wilson Witzel, hat damit offenbar schon ernst gemacht. Im Januar — dem ersten Monat seiner Amtszeit — haben Polizisten in Rio vor allem bei Razzien in Favelas 160 Menschen umgebracht, 82 Prozent mehr als im Monat zuvor. Weil Witzel eine halbe Milliarde Euro ausgeben will, um unter anderem die Polizei neu auszurüsten, haben Anfang April deutsche Unternehmer auf einer vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Geschäftsanbahnungsreise Rio besucht; sie bemühen sich um Aufträge auf dem Feld der „zivilen Sicherheitstechnologien“. Deutsche Schusswaffen sind in Brasilien längst präsent: Die Repressionsbehörden nutzen etwa Maschinenpistolen von Heckler & Koch.

Mit einer MP5 von Heckler & Koch wurde am 14. März 2018 Marielle Franco ermordet. Die populäre linke Stadträtin aus Rio wurde gemeinsam mit ihrem Fahrer Anderson Gomes auf der Heimfahrt von einer Veranstaltung gezielt liquidiert. Die Ermittler gehen mittlerweile davon aus, dass sie bei ihrer Basisarbeit in den Favelas einer Mafia auf die Spur gekommen war, die mit illegalen Grundstückgeschäften im Westen von Rio ein Vermögen macht. Dabei treten bemerkenswerte Verbindungen zutage. So ist der mutmaßliche Kopf der Miliz, die Franco umgebracht hat, ein ehemaliger Elite-Militärpolizist, dem ein Abgeordneter aus dem Bundesstaat Rio einst unter großem Lob einen Orden verliehen hat.

Ebenjener Abgeordnete hat anschließend die Ehefrau, die Mutter und den besten Freund des Verdächtigen als Mitarbeiterinnen beschäftigt, sie damit finanziert, sie aber auch Überweisungen für dubiose Immobiliengeschäfte tätigen lassen. Der Abgeordnete heißt Flávio Bolsonaro und ist ältester Sohn des Präsidenten. Dessen jüngster Spross hat unlängst eine Liebesbeziehung zu einer jungen Frau unterhalten, die mit ihrer Familie im selben Nobelkomplex wohnt wie die Bolsonaros und deren Vater, wie es der Zufall will, die Todesschüsse auf Marielle Franco abgegeben haben soll. Aber das ist natürlich, wie gesagt, nur ein großer Zufall.

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