Der „Fall Amad A.“

Einblicke in die Arbeit des „Untersuchungsausschusses Kleve“

In Düsseldorf tagt seit über einem Jahr der Parlamentarische Untersuchungsausschuss zur unrechtmäßigen Inhaftnahme und zum Tod von Amad A., der am 29. September 2018 nach einem Brand in seiner Zelle in der JVA Kleve starb. Ein Zwischenruf von „NSU Watch NRW“.

In Düsseldorf tagt seit über einem Jahr der Parlamentarische Untersuchungsausschuss zur unrechtmäßigen Inhaftnahme und zum Tod von Amad A., der am 29. September 2018 nach einem Brand in seiner Zelle in der JVA Kleve starb. Ein Zwischenruf von „NSU Watch NRW“.

Am 13. Dezember 2018 hat der „Parlamentarische Untersuchungsausschuss III – Kleve“ (PUA) im Landtag von NRW die Arbeit aufgenommen. Eingesetzt wurde er auf Antrag der Fraktionen der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen Ende November 2018 – auf den Tag genau zwei Monate, nachdem Amad A. an den Verletzungen starb, die er durch einen Brand in seinem Haftraum in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Kleve am 17. September 2018 erlitten hatte. (vgl. LOTTA #73, S. 62-63)

Es waren die Recherchen von Journalist*innen und die Nachfragen der Angehörigen und Freund*innen von Amad A., die die zuständigen Behörden und die politisch Verantwortlichen zur Aufklärung aufforderten. Deren Antworten zum Brandgeschehen und auf die Frage, warum Amad A. überhaupt seit Sommer 2018 eingesperrt war, entwarfen aber nur ein unvollständiges Bild und sind bis heute widersprüchlich.

Keine Antworten

Das ARD-Magazin Monitor veröffentlichte im Frühling 2019 zwei Fernsehberichte, die die offenen Fragen und Ungereimtheiten auf den Punkt brachten: Wie entstand am 17. September 2018 der Brand im Haftraum von Amad A.? Warum blieb er ohne rechtzeitige Rettung vor dem Feuer? Und: Wieso war Amad A. überhaupt in Haft? Stimmt die bisherige Behauptung der Verantwortlichen, dass der unschuldig Inhaftierte das „Opfer einer tragischen Verwechslung“ sei? Dass die Beamt*innen der Kreispolizeibehörde Kleve, die ihn am 6. Juli 2018 in Haft nahmen, bei der Suche nach seinem Vor- und Nachnamen in einer Polizei-Datenbank auf den Alias-Namen eines Mannes gestoßen seien, der von der Staatsanwaltschaft Hamburg wegen eines Eigentumsdeliktes zur Haftvollstreckung ausgeschrieben war? Dass sie Amad A. daraufhin in Haft verbrachten und dem LKA in Hamburg den Haftvollzug meldeten, in der Überzeugung, den dort Gesuchten zufällig an einem Badesee in Geldern festgenommen zu haben?

Bis heute spricht die Landesregierung von einer „Verwechslung“, die im Juli 2018 zur Inhaftierung von Amad A. geführt habe. Noch im April 2019 suchte Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) in einer Fragestunde im Landtags-Plenum händeringend nach Argumenten dafür, dass die Verantwortung für den „Fehler“ der Gelderner Polizist*innen nicht bei den hiesigen Behörden läge, nicht in seiner oder des Justizministers Peter Biesenbach (CDU) Zuständigkeit also.

Bereits Monate zuvor hatte der PUA den Untersuchungsauftrag erhalten, sich mit den „strukturellen Defiziten“ sowie mit „möglichen Versäumnissen, Unterlassungen, Fehleinschätzungen und Fehlverhalten [sic!] der Landesregierung, insbesondere der Ministerien des Innern und der Justiz“ zu beschäftigten. Sein Aufklärungsinteresse gelte den „Umständen der Verwechslung, der Inhaftierung, des Todes und des Umgangs mit der Familie“ des Toten. Dass der PUA Kleve dabei ein besonders „gelungenes“ Beispiel der Parteipolitik im parlamentarischen Betrieb, ein ausgesprochen „scharfes Schwert der Opposition“ sein dürfte, zeigt sich mit dem dritten Untersuchungsgegenstand: Der Frage, wie innerhalb der Behörden, in und unter den Ministerien im Land NRW und gegenüber der Öffentlichkeit kommuniziert wurde, was geschehen ist. Der Vorwurf der Vertuschung oder der gezielten Desinformation zur widerrechtlichen Inhaftnahme und zu den Umständen des Todes von Amad A. steht im Raum.

Ein Jahr PUA Kleve

Inzwischen hat der Ausschuss in bislang 15 nur zum Teil öffentlichen Sitzungen Zeug*innen befragt. Ausgesagt haben Polizeibeamt*innen, Tarifbeschäftige der Polizei und Justizvollzugsmitarbeitende aus NRW sowie Mitarbeiter*innen des LKA Hamburg und der dortigen Staatsanwaltschaft. Dabei folgt der PUA Kleve der Chronologie des Geschehenen.

So hörte der Ausschuss zunächst Beamt*innen der Bundespolizei (mit Dienstort Düsseldorf) und der Polizei in Krefeld. Denn Amad A. war zwei Tage vor seiner unrechtmäßigen Inhaftnahme bereits ein erstes Mal von der Polizei kontrolliert worden – jeweils an den Bahnhöfen in Düsseldorf und Krefeld. An diesem 4. Juli wurde er von den Polizist*innen hier wie dort auf die jeweilige Wache mitgenommen, weil er sich nach einer Fahrscheinkontrolle nicht hatte ausweisen können. Die Daten auf seiner Sparkassenkarte und seine eigenen Angaben prüften die Beamt*innen durch eine sogenannte „FAST-ID“-Abfrage (über einen Fingerabdruck-Scanner). Ihr Ergebnis: Zweifellos hatten sie Amad A. vor sich. Nach einer Erkennungsdienstlichen Behandlung entließ die Polizei in Krefeld den 26-Jährigen, der seit Januar 2018 in Geldern lebte.

Am gleichen Abend, so berichtete dem PUA eine Tarifbeschäftigte bei der Polizei in Siegen, hatte sie als Sachbearbeiterin an der sogenannten ViVA-Datenbank der nordrhein-westfälischen Polizei gearbeitet, einem neuen Daten-Tool, das 2018 das alte POLAS-System in NRW ablösen sollte. Auch wenn sie dazu nicht befugt war, bearbeitete die Mitarbeiterin an ihrem Computer den Datensatz von Amad A. Sie führte ihn nach Einschätzung einer behörden-internen Protokolldatenauswertung vermutlich mit einem anderen zusammen. Für gewöhnlich erfolgten solche Datenzusammenführungen ausschließlich auf schriftliche Anweisung oder auf Zuruf durch einen Vorgesetzten, hieß es. Offen blieb im PUA, wer die Anweisung gegeben hatte, den Datensatz von Amad A. am 4. Juli 2018 derart zu verändern.

Einige der Polizist*innen, die zwei Tage später in Geldern die Identität von Amad A. erneut überprüften, weil ihre Kolleg*innen ihn an einem Badesee festgehalten und auf die dortige Wache mitgenommen hatten, sagten im PUA aus, dass ihre Datenabfrage am 6. Juli nun Treffer zu unterschiedlichen Identitäten angezeigt habe, insbesondere durch verschiedene Namensschreibweisen. Darunter auch, so die Interpretation bis heute, der Alias-Name eines in Mali geborenen Mannes, der in Hamburg per Haftbefehl gesucht wurde – mit Vor- und Zunamen in gewisser Ähnlichkeit zum Namen des syrischen Geflüchteten Amad A. Daraufhin wurde A. in der Wache in Geldern festgesetzt.

Ob die Beamt*innen in Geldern dabei im Glauben waren, den in Hamburg Gesuchten vor sich zu haben, blieb jedoch unklar für den Ausschuss. Denn acht der Polizist*innen, die die Inhaftnahme vor Ort beschlossen hatten, machten im November 2019 vor dem PUA von ihrem Recht auf Zeugnisverweigerung Gebrauch. Gegen sie ermittelte zu diesem Zeitpunkt die Staatsanwaltschaft, die das Verfahren aber wenige Tage später einstellte. Der Vorwurf, sich durch Freiheitsberaubung einer Straftat im Amt schuldig gemacht zu haben, wurde für alle Polizist*innen, die am 6. Juli 2018 an der Inhaftierung von Amad A. konkret beteiligt waren, fallengelassen.

Schließlich befragte der PUA im Dezember eine Tarifbeschäftigte des LKA Hamburg, ihren Vorgesetzten, sowie eine Rechtspflegerin und den für Vollstreckungsverfahren zuständigen Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Hamburg. Die Hamburger*innen berichteten, dass sie nach der Überstellung des Haftvollstreckungsbescheides aus Geldern, also nach der „Papierlage“ aus NRW, am 9. Juli 2018 bei sich die Akten ergänzt, bislang nicht bekannte Alias-Namen des in Hamburg gesuchten Mannes nachgetragen und den offenen Haftbefehl als vollstreckt abgelegt hätten. Dass dem Fax aus Geldern ein Auszug aus der polizeilichen Datenbank aus NRW beziehungsweise aus der Datenbank INPOL beigelegen hätte, habe in Hamburg jedoch niemand bemerkt. Solche Datenbankauszüge, erläuterte der Erste Oberstaatsanwalt M., lese in Justizbehörden niemand. Es sei schließlich noch nie ein Fehler daraus entstanden, dass man der Polizei in ihrer Datenarbeit vertraue. Nachfragen, warum in den Datensätzen der Inhaftierte einmal als Syrer heller Haut, einmal als Malier dunkler Hautfarbe beschrieben wurde, stellten die mit dem Fall in Hamburg befassten nicht.

Dass in den Haftvollzugsunterlagen, die die Polizei Geldern zur Inhaftierung von Amad A. in die dortige JVA mitgebracht hatten, diese unterschiedlichen Namen und Datensätze ebenfalls enthalten waren, hatten indes die Justizvollzugsmitarbeitenden sehr wohl bemerkt. Aber Amad A. habe nichts zu korrigieren gehabt, als man ihm die Namen vorgelesen habe, berichtete der damals diensthabende Justizbeamte dem Ausschuss. Auch einen anwaltlichen Beistand habe der „von seiner Situation sichtbar beeindruckte“ Mann nicht anrufen wollen. Aber selbst, wenn er dies gewünscht hätte, hieß es weiter, hätte er entsprechende Kontaktmöglichkeit nicht gehabt. Denn die JVA halte keine Kontaktlisten zu Anwält*innen bereit. Eine etwaige Telefonnummer hätte der Inhaftierte da schon selbst beisteuern müssen – so, wie er eingeliefert worden war: in der Badehose. Da er im Aufnahmegespräch Suizidgedanken geäußert habe, sei Amad A. für die nächsten drei Nächte in einem „besonders gesicherten Haftraum“ eingeschlossen worden, so die Zeug*innen einstimmig. Rund um die Uhr werden die Gefangenen dort von Kameras überwacht, der Raum selbst ist ausgestattet mit einem Tisch, einer offenen Toilette, einer Matratze und einem Schlafanzug. Ein Ort, der jede*n Gefangene*n maximal belastet.

Am darauf folgenden Dienstag sei Amad A. dann in die JVA Kleve verlegt worden. Die Polizei in Geldern, die ihn eigentlich noch habe verhören wollen, weil sie ihn als tatverdächtig für eine im Mai verübte Vergewaltigung hielt, hätte ihn dann doch nicht weiter befragen wollen. In der JVA Kleve blieb Amad A., bis er am 17. September 2018 durch den Brand in seinem Haftraum lebensgefährlich verletzt wurde. Über zwei Monate übersahen oder ignorierten alle, die mit Amad A. als Person und Mensch – und mit seinen Haftpapieren – in Kontakt waren, dass sie den Falschen, einen Unschuldigen, eingesperrt hatten. Amad A. blieb extralegal in Haft, niemand will das bemerkt haben.

Wie weiter im PUA?

Der Untersuchungsausschuss wird sich 2020 mit der Haftzeit von Amad A. in der JVA Kleve beschäftigen. Auch der Brand in seiner Zelle wird dann Thema werden. Inzwischen haben die Angehörigen von Amad A. auf dem Rechtsweg Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen gegen die Polizeibeamt*innen in Geldern eingelegt.

Ungewiss ist, ob der PUA Kleve zur Aufklärung der Umstände und des Behördenhandelns, die zur unrechtmäßigen Inhaftnahme und zum Brandtod von Amad A. führten, beitragen kann. Bisher ist vor allem sichtbar, dass die Oppositionsparteien im Ausschuss den „Fall Amad A.“ nutzen, um die CDU/FDP-Regierung in Zweifel zu ziehen und an den Stühlen des Innen- wie des Justizministers zu sägen. Die Atmosphäre im Ausschuss lässt dabei die Annahme zu, dass parteipolitische Interessen im Vordergrund stehen. Die Politiker*innen sprechen – ebenso wie der größte Teil der Medien – immer noch von der „tragischen Verwechslung“, die nicht hätte verhindert werden können.

Doch inzwischen ist mehr als deutlich: Dass Amad A. Geflüchteter war, hat wesentlich dazu beigetragen, dass er inhaftiert wurde. Keine „Datenpanne“, keine unpräzisen Routinen im Strafvollzug, kein Kommunikationsversagen werden ursächlich dafür gewesen sein, dass Amad A. eingesperrt wurde. Es wird der rassistische Blick auf Geflüchtete gewesen sein, der die Handelnden in den Ermittlungs- und Strafjustizbehörden davon überzeugt sein ließ, zwar vielleicht nicht den Richtigen, aber wohl auch nicht den Falschen eingesperrt zu haben. Rassismus, dabei wird es bleiben, tötet. Am Ende.

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