Polizei und Gewahrsam: für PoC lebensgefährlich!

Erste Befunde der Kampagne „Death in Custody“

Regelmäßig sterben in Deutschland Menschen in Gewahrsam oder durch Polizeischüsse. Offizielle Statistiken werden dazu nicht veröffentlicht. Die Todesfälle der letzten Zeit — Hussam Fadl, Amad A., Matiullah Jabarkhil, Rooble Warsame, William Tonou-Mbobda, Aman A., Adel B., um nur einige der Opfer zu nennen, deren Namen bekannt sind — legen indessen nahe, dass People of Color (PoC) ein besonders hohes Risiko laufen, in staatlicher „Obhut“ ihr Leben zu verlieren oder durch die Polizei getötet zu werden; ein Hinweis auf rassistische Strukturen.

Regelmäßig sterben in Deutschland Menschen in Gewahrsam oder durch Polizeischüsse. Offizielle Statistiken werden dazu nicht veröffentlicht. Die Todesfälle der letzten Zeit — Hussam Fadl, Amad A., Matiullah Jabarkhil, Rooble Warsame, William Tonou-Mbobda, Aman A., Adel B., um nur einige der Opfer zu nennen, deren Namen bekannt sind — legen indessen nahe, dass People of Color (PoC) ein besonders hohes Risiko laufen, in staatlicher „Obhut“ ihr Leben zu verlieren oder durch die Polizei getötet zu werden; ein Hinweis auf rassistische Strukturen.

Was in Gewahrsam passiert, entzieht sich äußerer Kontrolle. Das hat zur Folge, dass bei Todesfällen Polizei und Wachpersonal entscheiden können, was über das Geschehene berichtet wird. Immer wieder führt dies zur Kriminalisierung der Opfer, da diese, um die Polizei zu entlasten, nach ihrem Tod selbst als Täter*innen dargestellt werden. Staatsanwaltschaften, Gerichte und Politik setzen ihrerseits alles daran, die Versäumnisse und Verbrechen von Bediensteten des Staates zu vertuschen. Ermittlungen werden unterminiert und verschleppt, bis ihre Einstellung kaum mehr mediales Interesse erzeugt. Verantwortliche müssen so gut wie nie mit Konsequenzen rechnen, wie unter anderem auch schon in dem von der Kampagne für die Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) herausgegebenen Sammelband „Alltäglicher Ausnahmezustand“ anhand der verschiedenen Ebenen des institutionellen Rassismus in deutschen Strafverfolgungsbehörden aufgezeigt wurde.

Während das öffentliche Interesse ausbleibt und Verbrechen unter den Tisch gekehrt werden, verbreitet die systematische Gewaltsamkeit von Tod in Gewahrsam bei den Hinterbliebenen und Communitys of Color Angst, Schrecken und Fassungslosigkeit. „Deutschland macht uns Angst. Und unsere Angst hat einen realen Hintergrund. All die alltäglichen, oft verharmlosten rassistischen Beleidigungen, Abwertungen, Ausschlüsse finden nämlich in ihrer Eskalation eine [furchteinflößende] Gestalt: Mord und Totschlag, der in großen Teilen von den weißen dominanzgesellschaftlichen Institutionen gedeckt, wo nicht [gar] offen unterstützt wird. Angst vor Rassismus ist die Angst, getötet zu werden, eine Angst, dass bald wieder Geschwister sterben werden“. So die Worte eines Redebeitrages des Migrationsrats Berlin e.V., Each One Teach One (EOTO) e.V. und der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V. anlässlich einer Demonstration zum Internationalen Tag gegen Polizeigewalt am 15. März 2020 in Berlin, der zur Eindämmung der SARS-CoV-2-Pandemie abgesagt wurde.

„Death in Custody“

Die Kampagne Death in Custody recherchiert und dokumentiert Todesfälle von PoC in Gewahrsamssituationen, die sich in Deutschland ereignen. „Sich in Gewahrsam zu befinden“ wird dabei allgemein als Situation verstanden, in der sich Personen in einem geschlossenen Raum befinden, in dem sie abhängig von anderen Personen sind. Dazu gehören Polizeistation und Gefängniszelle, aber auch Psychiatrien, Krankenhäuser oder Pflegeeinrichtungen. In diesen Situationen sind Menschen anderen Menschen (Polizist*innen, Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen…), die oft mit mehr Macht bekleidet sind, ausgeliefert.

Die Recherche der Kampagne rückt Todesfälle von 1990 bis heute ins mehrheitsgesellschaftliche Bewusstsein — das Tod in Gewahrsam bislang als unglückliche Einzelfälle bewertet — und ist die erste systematische Aufarbeitung der rassistischen Dimension von Todesfällen in Gewahrsam in Deutschland. Vorläufiger Stand der noch nicht abgeschlossenen Recherche sind 139 Fälle von 1990 bis heute (Stand 31.03.2020). Zentrale Informationsquellen sind die Dokumentation der Antirassistischen Initiative (ab 1993) und die Liste polizeilicher Todesschüsse der Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/CILIP. Die Analyse legt offen, was Betroffene und Unterstützer*innen nur allzu gut wissen: Tod in Gewahrsam hat System und verläuft nach typischen Mustern. Dass allein in dem Zeitraum von 1. Januar 2019 bis zum 31. März 2020 (mindestens) zehn People of Color in Gewahrsam um ihr Leben gekommen sind, macht das Ausmaß des Problems deutlich.

Erste Befunde einer neuen Recherche

Die im Rahmen der Kampagne aufgenommene Recherche verweist auf generelle Muster, nach denen sich Todesfälle in deutschen Gewahrsamsinstitutionen ereignen, wie sie legitimiert und vertuscht werden. So sind Prozesse der Kriminalisierung der Opfer, die nachträgliche Inszenierung von Notwehrsituationen, die Tötungen notwendig gemacht haben sollen, sowie der schnelle, unverhältnismäßige Einsatz von Schutzwaffen wiederkehrend, wenn People of Color zu Tode kommen. Rassistische Stereotype von People of Color als ‚gefährlich‘ spielen in diese Argumentationen hinein und spielen die Ungeheuerlichkeit der Tötungen herunter. In Bezug auf die Strafverfolgung ist festzuhalten, dass Staatsanwaltschaften und Landeskriminalämter unzulänglich ermitteln und die Täter*innen straffrei bleiben. „Suizid“ in Haft und Erschießung durch Polizeibeamt*innen sind derweil Todesumstände, die des Öfteren vorkommen. Am Beispiel der im Folgenden dargestellten Todesfälle werden die beschriebenen Muster deutlich.

„Suizid“ im Knast

Vier Menschen of Color kamen von 2019 bis heute aufgrund von „Suizid“ zu Tode. Wir setzen „Suizid“ im Kontext von Gewahrsam in Anführungszeichen, um uns von der Rhetorik von Er­mitt­ler*innen, die die Todesfälle über diesen Begriff vorschnell als Eigenverschulden abtun, zu distanzieren. Der Behauptung von Ermittlungsbehörden, eine Person sei in Gewahrsam durch „Suizid“ ums Leben gekommen, ist im Kontext institutionellen Rassismus‘ nicht unmittelbar zu trauen. Der Vorwand „Suizid“ ist ein typisches und international wie hierzulande wiederkehrendes Argument, mit dem Polizeimorde vertuscht werden. Einer der der bekanntesten Fälle ist die proaktive Verschleppung der Ermittlungen und Vertuschung von Indizien zum Mord an Oury Jalloh in Dessau im Jahre 2005. Durch die langjährige Arbeit und Dokumentation der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh erlangte diese Vertuschung eine hohe mediale Aufmerksamkeit.

Aber auch die Darstellung des Todes von Rooble Warsame als „Suizid“ ist so nicht hinzunehmen. Rooble Warsame starb am 26. Februar 2019 im Alter von 22 Jahren in einer Polizeistation in Schweinfurt. In der Nacht hatten Polizeibeamt*innen den geflüchteten Mann aus Somalia nach einem Streit vor einem Ankerzentrum in Schweinfurt auf die örtliche Wache gebracht. Wenige Stunden später war er tot. Kurz darauf erklärte die Polizei, er habe sich in seiner Zelle das Leben genommen. Doch die Umstände seines Todes lassen dies mehr als zweifelhaft erscheinen. So gab es in der Zelle keine Möglichkeit sich zu strangulieren, was als angebliche Todesursache angegeben worden war. Bei der Waschung des Leichnams fielen den Angehörigen des Verstorbenen Wunden auf, die vermuten lassen, dass Rooble Warsame auf den Boden geworfen und geschleift wurde. Ermittlungen zur Todesursache wurden durch das LKA Bayern geführt, bisher sind keine Ergebnisse bekannt. Ein Fremdverschulden wurde jedoch von dieser Seite von Anfang an ausgeschlossen.

Wichtig ist zum anderen, dass sich die Bedeutung von Suizid verändert, wenn sich Menschen in Gewahrsam befinden. Kann es überhaupt einen Freitod geben, wenn eine Person eingesperrt, also unfrei ist? Diese Frage stellt sich umso mehr, wenn die Haftumstände menschenunwürdig sind.

Unterlassene Hilfeleistung

Menschenunwürdige Haftbedingungen eskalieren derweil auch in unterlassene Hilfeleistung, wenn es Gefangenen gesundheitlich nicht gut geht. Abwertende und nachlässige Behandlung in Behörden, Schulen und Institutionen sind für Menschen of Color Alltag. In Haft können sie zudem lebensbedrohlich sein. Am 20. Juli 2019 starb ein 32-jähriger Mann aus Algerien. Er war zuvor am Hauptbahnhof Erfurt nach einem versuchten Rucksackdiebstahl festgenommen worden. Er hatte Substitutionsmedikamente bei sich. Ein beauftragter Notarzt attestierte Gewahrsamstauglichkeit und er wurde mit auf die Wache genommen. Bei der Befragung schlief er immer wieder ein, trotzdem wurde er in eine Zelle gesperrt. Später ordnete die Staatsanwaltschaft an, ihn freizulassen. Er schlief in der Zelle und wurde nicht geweckt. In der Nacht stellten Beamt*innen fest, dass seine Vitalfunktionen ausgesetzt hatten, reanimierten ihn und brachten ihn ins Krankenhaus, wo er verstarb. Untersuchungen zur Todesursache dauern an (Stand 06.10.2019). Ermittlungen gegen die diensthabenden Beamt*innen wurden gar nicht erst geführt, da laut Staatsanwaltschaft „kein Anfangsverdacht bestünde“. Ebenso wirft der Tod des rumänischen Schlossers Mariusz Krischan Fragen auf. Er starb am 27. März 2020 nach 14 Jahren Haft in der JVA Tegel durch einen Zellenbrand. Er wurde 42 Jahre alt. Die Ermittlungen zur Brandursache dauern an. Laut Feuerwehr gibt es jedoch keine Anzeichen, dass der verstorbene das Feuer selbst gelegt hat. In diesen beiden Beispielen hätte der Tod von zwei Menschen verhindert werden können, wären die Betroffenen mit mehr Achtung behandelt worden.

Eilige Schüsse

Drei Menschen of Color kamen seit dem 1. Januar 2019 durch Polizeischüsse ums Leben. Der Tod von Adel B. legt auf besonders explizite Weise offen, wie Polizist*innen lügen und Beweismittel vernichten können, um ihre Verbrechen zu vertuschen. Am 18. Juni 2019 wurde in Essen-Altendorf der 32-jährige Adel B. von der Polizei durch eine geschlossene Tür erschossen. Zuvor hatte der Mann nach Angaben der Polizei diese selbst gerufen und angegeben, sich umbringen zu wollen. Er habe auf offener Straße gestanden und sich ein Messer an den Hals gehalten. Als Adel B. weglief, verfolgte ihn die Polizei mit gezogener Waffe mindestens eine halbe Stunde lang. Er erreichte seine Wohnung, betrat diese und schloss die Tür hinter sich. Kurze Zeit später wurde er erschossen. Die Polizei behauptete zunächst, von Adel B. mit einem Messer angegriffen worden zu sein. Ein später aufgetauchtes Video beweist, dass Adel B. die Tür bereits hinter sich verschlossen hatte und ein Polizist erfolglos versuchte, diese mit einem Tritt zu öffnen, bevor der Schuss durch die Glasscheibe der Tür fiel. Zuvor hatte die Polizei das Video auf dem Smartphone des Urhebers gelöscht. Der Beweis für das Vorgehen der Polizei kam nur an die Öffentlichkeit, weil es automatisch in einer Cloud gespeichert wurde. Die Ermittlungen gegen die Polizist*innen des tödlichen Einsatzes wurden eingestellt.

Auch der der 19-jährige Aman A. starb am 17. August 2019 durch Polizeischüsse. Nach einem Konflikt unter Bewohner*innen in der Flüchtlingsunterkunft Bützfleth in Stade (Niedersachsen) wurde von einem der Bewohner*innen die Polizei gerufen, offenbar mit der Absicht Aman A., der als traumatisiert galt und an diesem Abend unter dem Einfluss eines akuten psychotischen Schubs stand, zu helfen. Aman A. ging mit einer Hantelstange auf die Besatzung von zwei Streifenwagen zu, woraufhin die Polizist*innen zunächst Pfefferspray gegen ihn einsetzten, das jedoch deren Aussage nach keine Wirkung zeigte. Daraufhin schoss einer der Beamt*innen mit seiner Dienstwaffe auf Aman A. Der junge Mann erlag kurze Zeit später seinen Verletzungen. Gegen den Beamten, der geschossen hat, wird wegen Verdachts auf Totschlag bisher ergebnislos ermittelt (Stand 06.10.2019), die Beweisaufnahme wurde vom Flüchtlingsrat Niedersachsen als unzureichend kritisiert.

Bisher ohne Ergebnis ist auch das Verfahren wegen Verdachts auf Totschlag gegen einen Polizeianwärter in Gelsenkirchen. Dort starb am 5. Januar 2020 ein 37-jähriger türkischer Mann durch vier Polizeischüsse. Zuvor soll er mit einem Knüppel auf ein Polizeiauto eingeschlagen und die danebenstehenden Beamt*innen, nach Aussagen der Polizist*innen, mit einem Messer bedroht haben. Es fielen vier Schüsse. Zunächst wurde der Getötete verdächtigt, ein IS-Terrorist zu sein, da Zeug*innen ihn angeblich „Allahu Akbar“ rufen hörten. Die Aussage ließ sich nicht bekräftigen. Inzwischen spricht die Polizei von einem psychisch kranken Einzeltäter.

Ausstehende Ermittlungen: Was zu tun bleibt

Allein zwischen 1. Januar 2019 und 31. März 2020 sind, soweit wir wissen, zehn People of Color in Deutschland bei Polizeieinsätzen oder in Gewahrsam getötet worden. Jedes Leben wurde zu früh genommen, keine Wiedergutmachung kann die Zeit zurückdrehen. Für uns Communitys of Color und solidarische Initiativen bleibt dafür zu sorgen, dass die Hinterbliebenen nicht allein gelassen, Todesfälle aufgeklärt und Täter*innen zur Rechenschaft gezogen werden. Sodass sich Tod in Gewahrsam nicht mehr ereignet. Nur durch Zusammenhalt können wir dem Systemproblem des institutionellen Rassismus‘ entgegenwirken. Aufeinander aufpassen, solidarische Unterstützungsstrukturen aufbauen, uns mit unterschiedlichen Betroffenencommunitys verbinden, sind hierfür Schlüssel. Tod in Gewahrsam bedeutet etwa auch für psychisch erkrankte bzw. als psychisch erkrankt geltende Menschen ein hohes Risiko. Die Geschichten von Aman A. und Adel B., die intersektional von beiden Diskriminierungsdimensionen betroffen sind, zeugen davon.

Die Kampagne Death in Custody fordert Gerechtigkeit für Menschen, die in Gewahrsam und aufgrund rassistischer Zuschreibungen ums Leben kamen. Dafür müssen alle Fälle vollständig aufgeklärt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Zur Verhinderung weiterer Fälle müssen effektive Schutzmaßnahmen wie unabhängige Ermittlungsinstanzen installiert werden. Auch eine rassistische und allgemein diskriminierende Grundhaltung in Behörden darf nicht geduldet werden, damit es zu keinen weiteren Todesfällen in Gewahrsam und ähnlichen Situationen kommt.

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Kampagnen-Bündnis „Death in Custody“

Die Kampagne Death in Custody. Aufklärung der Todesfälle in Gewahrsam jetzt! ist ein antirassistisches Bündnis aus Berlin und wurde im Black History Month 2019 gegründet um der Menschen of Color zu gedenken, die in Gewahrsam ums Leben kamen, und zu verhindern, dass dies weiterhin passiert.

Kern der Kampagne ist die bundesweite Vernetzung von Betroffenen-Gruppen, solidarischen Initiativen und Unterstützer*innen, die zum Thema Rassismus und institutionelle Gewalt arbeiten oder sich im Anschluss an einen Todesfall gebildet haben. Ihre Arbeit zur Unterstützung von Hinterbliebenen, Aufklärung von Todesumständen und Schutzstrukturen für Menschen in Gewahrsam soll so gebündelt und gestärkt werden.

Betroffene und Aktive, die sich uns anschließen wollen, können sich unter: death-in-custody@riseup.net an uns wenden. An diese Adresse können auch neue Informationen zu bereits dokumentierten Fällen oder Hinweise auf bisher nicht dokumentierte Fälle gesendet werden. Auf der Website deathincustody.noblogs.org wird über den Verlauf der Kampagne informiert und demnächst die Recherche veröffentlicht. Auch die Termine für eine Vernetzungskonferenz zu dem Thema und eine bundesweite Demonstration werden hier zu finden sein.

Teil des Bündnisses sind: Kampagne für die Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP), Each One Teach One (EOTO), Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD), Justizwatch, Bündnis gegen Rassismus, We Are Born Free Community Radio, Migrationsrat Berlin, Hände weg von Wedding, Oury Jalloh Initiative, Rote Hilfe Berlin, Gefangenengewerkschaft Bundesweite Organisation, BDB e.V.