„Erschießt die Verräter!“

Der Hindunationalismus greift in Indien immer weiter um sich

In Indien erstarkt der Hindunationalismus seit Jahren. Er richtet sich vor allem gegen die muslimische Minderheit, die wachsender Gewalt und Repression ausgesetzt ist. Der seit 2014 regierende Premierminister Narendra Modi treibt das Land nach rechts.

Måns Molander war not amused. Am 25. April hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Gespräche in Indiens Hauptstadt New Delhi geführt — und was hatte sie, fleißig Süßholz raspelnd, in aller Öffentlichkeit über das Land gesagt? Es sei eine „lebendige Demokratie“, und als solche teile es viele „Werte“ mit der EU. Molander, als Nordic Director der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in Skandinavien tätig, sah sich am 3. Mai zu öffentlichem Widerspruch genötigt. Schließlich stand ein Besuch des indischen Premierministers Narendra Modi in Dänemark unmittelbar bevor, und da wollte Molander die Sache mit der „Demokratie“ und den „Werten“ nicht ganz unkommentiert stehen lassen: Sie reflektiere „die Realität zunehmender Übergriffe und diskriminierender Politik“ unter der Regierung Modi nicht. Europas Staaten müssten überlegen, ob sie die zunehmenden Menschenrechtsverletzungen in Indien weiterhin umstandslos tolerieren wollten.

Menschenrechtsverletzungen in Indien? Molander hatte ein Beispiel parat. Neun Tage vor von der Leyens Besuch war es in Jahangirpuri, einem muslimisch dominierten Stadtviertel im Norden von Delhi, zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen. Bewaffnete Hindus, wohl vor allem Aktivisten der hindunationalistischen Jugendorganisation Bajrang Dal, hatten im Rahmen einer Prozession vor einer Moschee Halt gemacht und, während dort Muslime das traditionelle Ramadan-Fastenbrechen vorbereiteten, antiislamische Parolen gebrüllt. Das löste — wie zu erwarten und wohl auch wie beabsichtigt — wilde Unruhen aus; Steine flogen in alle Richtungen, Verletzte waren zu beklagen. Am 20. April reagierte die Stadtverwaltung. Sie rückte mit Bulldozern an, riss am Schauplatz der Unruhen reihenweise Läden ab, die Muslim*innen gehörten — eine unmissverständliche Strafmaßnahme, absolut im Sinne der straflos bleibenden Hindu-Provokateure. Die Verwaltung, wie es der Zufall will, wird von der hindunationalistischen BJP (Bharatiya Janata Party, Indische Volkspartei) kontrolliert.

„Das Blut der mächtigen Rasse“

Seine Ursprünge hat der moderne Hindunationalismus, der in Indien von Jahr zu Jahr mehr provoziert und auch zunehmend Gewalt hervorbringt, in den 1920er Jahren. Als einer seiner Gründerväter gilt der 1883 geborene Vinayak Damodar Savarkar, der 1923 in seinem Buch „Hindutva: Wer ist ein Hindu?“ die Kernelemente hindunationalistischer Ideologie formulierte. Ihm zufolge muss ein Hindu Hindus als Eltern haben und Indien als Land seiner Vorfahren verehren; Hindus hätten, schrieb er, „in ihren Adern das Blut der mächtigen Rasse, die in den vedischen Vätern verkörpert war und von ihnen abstammt“. Damit grenzte Savarkar, der erbittert dafür kämpfte, die britische Kolonialherrschaft abzuschütteln, Indien von den Christ*innen ab, die mit den Kolonialmächten ins Land gekommen waren, zugleich und vor allem aber auch von den traditionell in Indien ansässigen Muslim*innen. Bei alledem war der herrschaftsfreie Diskurs nicht sein Ding: Bereits als Jugendlicher, berichtete er später stolz, habe er sich an der Verwüstung einer Moschee in seinem Herkunftsort beteiligt.

Organisatorischer Kern des Hindunationalismus ist bis heute der 1925 gegründete RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh, Nationale Freiwilligen-Organisation), der ideologisch im Kern auf Savarkars Gedankengut basiert und in den 1930er Jahren gewisse Sympathien für Deutschland entwickelte. Er ist in Indien landesweit in rund 60.000 lokalen Ablegern präsent; die Zahl seiner Mitglieder wird gegenwärtig oft mit um die sechs Millionen angegeben. Berücksichtigen muss man dabei freilich, dass in Indien fast 1,4 Milliarden Menschen leben. Der RSS ist viermal verboten worden, zum ersten Mal von der britischen Kolonialmacht, dann dreimal im unabhängigen Indien. Das erste nachkoloniale Verbot wurde 1948 kurz nach dem Mord an Mahatma Gandhi verhängt. Der Grund: Dessen Mörder Nathuram Godse, der seine Tat unter anderem mit Gandhis angeblicher Nachgiebigkeit gegenüber Indiens Muslimen begründete, war nicht nur ein ehemaliger Mitarbeiter von Savarkar, sondern auch ein Ex-Mitglied des RSS.

Aus dem RSS, einer Kaderorganisation, sind im Lauf der Jahrzehnte eine ganze Reihe weiterer hindunationalistischer Zusammenschlüsse entstanden. Die Studierendenorganisation ABVP (Akhil Bharatiya Vidyarthi Parishad, Gesamtindischer Studentenrat) gehört dazu, die laut Berichten etwa drei Millionen Mitglieder haben soll; diverse Politiker, darunter der derzeitige Innenminister Amit Shah, sind einstige ABVP-Aktivisten. Auch der VHP (Vishwa Hindu Parishad, Weltrat der Hindus) und dessen Jugendorganisation Bajrang Dal (Hanumans Brigade) sind einst von Kadern des RSS gegründet worden. Der ging zudem bereits in den 1950er Jahren dazu über, sich ein Standbein in der Parteipolitik zu verschaffen, wenngleich er diese eigentlich als korrupt verachtet. Aus seinen Reihen heraus wurde — im Jahr 1980 — auch die BJP gegründet, die seit 2014 mit Modi Indiens Premierminister stellt. Modi wiederum hatte bereits im Alter von acht Jahren angefangen, für den RSS zu arbeiten; er war bald in dessen Hierarchien aufgestiegen.

Ayodhya

Die BJP verdankt ihren Durchbruch gegen Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre vor allem einer Kampagne, die der VHP 1984 lostrat. Dabei ging es um die Babri-Moschee in Ayodhya, einer Stadt im Norden Indiens, die frommen Hindus als Geburtsort des Gottes Ram gilt. Genau an der angeblichen Stelle seiner Geburt war im 11. Jahrhundert ein Tempel errichtet worden, den der Gründer des muslimisch beherrschten Mogulreichs, Babur, 1528 niederreißen und durch eine Moschee ersetzen ließ. Die VHP-Kampagne zielte nun darauf ab, den Spieß umzudrehen und anstelle der Moschee wieder einen Tempel zu errichten. Sie verschaffte der BJP erheblichen Aufschwung; die Partei konnte ihre Ergebnisse bei den indischen Parlamentswahlen von 7,4 Prozent im Jahr 1984 über 11,4 Prozent 1989 auf 20,1 Prozent 1991 steigern. Dann krachte es gewaltig: Am 6. Dezember 1992 trafen Aktivisten von RSS, VHP und BJP in Massen in Ayodhya ein und zerstörten die Moschee. Es folgten landesweite Unruhen, bei denen mehr als 2.000 Menschen ums Leben kamen — mehrheitlich Muslim*innen.

Der Popularität der BJP hat dies keinen Abbruch getan — im Gegenteil: Die Partei konnte ihre Wahlergebnisse weiter steigern und erreichte im Jahr 1998 25,6 Prozent; das genügte, um mit Atal Bihari Vajpayee — auch er hatte einen Hintergrund im RSS — erstmals einen BJP-Politiker ins Amt des Premierministers zu bringen. 2004 war mit der BJP-Regierung allerdings schon wieder Schluss. Den nächsten großen Umschwung brachte Modi, unter dessen Führung die BJP bei der Wahl 2014 31,3 Prozent, 2019 gar 37,5 Prozent erreichte. Die Grundlage seines Erfolgs: War die BJP eine Partei, die traditionell vor allem bei den oberen Kasten Anklang fand — kein Wunder, schließlich predigt sie sozialen Konservatismus inklusive der bereitwilligen Einordnung in das indische Kastensystem –, so gelang es Modi, auch die unteren Kasten und die Kastenlosen, die untersten Schichten der indischen Gesellschaftshierarchie, anzusprechen und zu mobilisieren. Das sichert ihm bis heute solide Mehrheiten.

Pogrome in Gujarat

Wie schafft es Modi, die unteren Kasten zu agitieren? Eine Besonderheit liegt darin, dass er selbst einer der unteren Kasten entstammt; er kommt deshalb mit seinem Sprachgebrauch und mit seiner Körpersprache authentisch herüber. Eine zweite Ursache liegt darin, dass er sich die Polarisierung zwischen Hindus und Muslim*innen — erstere machen annähernd 80 Prozent der indischen Bevölkerung aus, letztere fast 15 Prozent — geschickt zunutze macht und diese auf die Spitze treibt. Das war bereits so, als er im Oktober 2001 den Chief Minister — in Deutschland wäre dies ein Ministerpräsident — des Bundesstaates Gujarat vorzeitig abgelöst hatte und sich auf die nächste reguläre Wahl vorbereitete. Am 27. Februar 2002 traf ein Zug mit heimreisenden Hindunationalisten, die sich gerade im Namen des VHP in Ayodhya für den Bau des Tempels am Standort der zerstörten Babri-Moschee stark gemacht hatten, in der Großstadt Godhra in Gujarat ein. Die Hindunationalisten grölten antimuslimische Parolen, zwangen eine junge Muslima an Bord; es wurde chaotisch: Der Zug fuhr weiter, die Notbremse wurde gezogen, ortsansässige Muslime attackierten die Waggons, einer geriet — aus bis heute nicht geklärter Ursache — in Brand. 59 Hindus starben.

Das war freilich nur der Beginn. In der aufgeheizten Stimmung folgten in ganz Gujarat Pogrome, bei denen Hindus Muslim*innen angriffen; mehr als 2.000 Menschen kamen zu Tode, die meisten von ihnen Muslim*innen. Die Polizei fiel in vielen Fällen durch Untätigkeit auf. „Wir können euch nicht helfen“, äußerte ein Polizist damals: „Wir haben Befehle von oben.“ „Oben“, das war in letzter Instanz Chief Minister Modi. Seine nie gänzlich geklärte Rolle bei den Pogromen war die Ursache dafür, dass er in vielen Ländern bis 2014, als er zum Premierminister gewählt wurde, persona non grata war. In Gujarat aber wirkten sich die damaligen Ereignisse prägend aus. „Nach den Unruhen gab es Wahlen“, berichtete später einmal ein Informant, der einer der unteren Kasten angehörte; durch die Unruhen aber seien „die Vankars und die Chamars“, zwei der untersten Kasten, „Hindus geworden“, also hätten ihre Angehörigen bei den Wahlen „den Hindu“ — Modi — gewählt. Selbstverständlich waren sie bereits vorher Hindus gewesen. Die Polarisierung durch die Pogrome jedoch hatte bei ihnen das Gefühl der Zugehörigkeit zu den Hindunationalisten gestärkt.

„Werft sie ins Meer!“

Seit Modi in New Delhi regiert, treibt er die Polarisierung in ganz Indien energisch voran. Mitglieder seiner Regierung und andere einflussreiche BJP-Politiker tun sich regelmäßig mit antiislamischer Agitation bis hin zu offener Hetze hervor. Innenminister Shah, ein hindunationalistischer Hardliner, der Modi schon zu dessen Zeit als Chief Minister in Gujarat politisch eng begleitete, hat muslimische Einwanderer*innen aus Bangladesch 2019 in einer Wahlkampfrede als „Termiten“ beschimpft, die man am besten „in den Golf von Bengalen werfen“ solle. Informationsminister Anurag Thakur stimmte Anfang 2020, als viele Muslim*innen zumeist friedlich gegen ein sie diskriminierendes Gesetzesvorhaben protestierten, den aussagekräftigen Demoslogan an: „Erschießt die Verräter!“ Zur selben Zeit warnte der BJP-Parlamentsabgeordnete Parvesh Singh Verma Hindu-Männer, Aktivisten aus einem Protestcamp in Shaheen Bagh, einem Stadtviertel im Süden Delhis, wollten ihre Frauen vergewaltigen und ermorden. Nebenbei: Das friedliche Protestcamp wurde vorwiegend von Frauen betrieben.

Die Hetze kommt an. Bereits 2015, ein Jahr nach Modis Amtsantritt in New Delhi, flammten in Indien Angriffe hindunationalistischer Mobs auf Muslim*innen auf, denen unterstellt wurde, Kühe zum Schlachten gebracht zu haben; Kühe sind den Hindus heilig. Allein bis Ende 2018 dokumentierte Human Rights Watch 36 Fälle, in denen Muslim*innen sogar gelyncht wurden. Anfang 2020 — es war die Zeit, als Thakur und Verma gegen protestierende Muslime hetzten — kam es in Delhi zu Unruhen, bei denen Hunderte verletzt und mindestens 53 Menschen getötet wurden, über zwei Drittel von ihnen Muslim*innen. Sogar die staatlichen Repressionskräfte scheuen nicht davor zurück, in aller Öffentlichkeit Muslime anzugreifen. Als im Juni Proteste entbrannten, nachdem die BJP-Sprecherin Nupur Sharma den Propheten Mohammed verklausuliert als „Kinderschänder“ bezeichnet hatte — die BJP hat Sharma mittlerweile entlassen –, prügelten indische Polizisten auf verängstigte muslimische Passanten ein, bewarfen sie mit Steinen, schossen ohne Anlass mit scharfer Munition in die Luft. Und nicht nur dorthin: Zwei junge Muslime kamen durch Polizeikugeln ums Leben.

Modis Regierung und BJP-Regierungen in einzelnen indischen Bundesstaaten sorgen nicht nur dafür, dass — auch staatliche — Gewalt gegen Muslim*innen allzu oft nicht unterbunden und nicht geahndet wird. Sie weiten die Repression inzwischen aus und attackieren alle, die sich aus welchen Gründen auch immer ihrer Politik entgegenstellen — protestierende Sikh-Bauern, studentische Aktivist*innen, Menschenrechtler*innen. Im September 2020 musste Amnesty International ihre Arbeit in Indien einstellen, nachdem das Finanzministerium in New Delhi die Bankkonten der Organisation hatte sperren lassen. BJP-Regierungen gießen ihre diskriminierende hindunationalistische Ideologie zunehmend auch in Gesetzesform. Mehrere indische Bundesstaaten haben inzwischen Gesetze verabschiedet, die formal eine erzwungene Glaubenskonversion verbieten. Praktisch richten sie sich freilich nicht gegen tatsächlichen Zwang, sondern gegen den sogenannten „love jihad“. Gemeint ist die unter Hindunationalisten verbreitete Behauptung, muslimische Männer heirateten gezielt hinduistische Frauen, um dem Hinduismus die Kinder zu nehmen und ihm so den Garaus zu machen. Interreligiöse Liebesbeziehungen geraten dadurch unter Druck.

Streit um die Staatsbürgerschaft

Womöglich am weitesten reicht ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz, das — eine Premiere in Indien — die Staatszugehörigkeit unter bestimmten Umständen von der Religion abhängig macht. Formal erleichtert es Angehörigen nichtmuslimischer Minderheiten aus den islamisch dominierten Nachbarstaaten — Pakistan, Afghanistan und Bangladesch –, die indische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Muslim*innen sind ausgenommen. Das Gesetz hat die heftigen Proteste Anfang 2020 ausgelöst, dies übrigens auch, weil die Regierung in New Delhi parallel die Erstellung eines neuen Bevölkerungsregisters und eines Bürgerregisters vorantreibt. Das Bevölkerungsregister entspricht im Kern dem deutschen Melderegister: Wer in Indien lebt, soll dort eingetragen werden. Umstritten ist es, weil es der Sache nach mit dem geplanten Bürgerregister zusammenhängt. Und wozu ein Bürgerregister dienen kann, das lässt sich im BJP-regierten nordostindischen Bundesstaat Assam beobachten.

Historisch bedingt leben in Assam — oft schon seit Jahrzehnten — viele Menschen mit Hintergrund im heutigen Bangladesch. Da die bisherigen Bevölkerungsregister in Indien, höflich formuliert, nicht perfekt sind, sind viele von ihnen nirgends registriert, haben also keinen Nachweis für eine indische Staatsbürgerschaft. Seit in Assam im Jahr 2019 ein Bürgerregister fertiggestellt wurde, sind sie als Nichtbürger*innen identifizierbar und im Grundsatz von der Abschiebung bedroht. Assams Regierung hat begonnen, Internierungslager für angeblich illegal im Land lebende Ausländer*innen zu errichten; Hunderte wurden bereits in ihnen festgesetzt. Betroffen sind nur Muslim*innen; alle anderen können ja dank des neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes relativ problemlos die indische Staatszugehörigkeit erlangen, vor allem Hindus, die die BJP — anders als Muslim*innen — im Land haben will.

Indien — eine „lebendige Demokratie“, die laut von der Leyen die „Werte“ der EU teilt? Molander hatte Anlass für Zweifel, als er der EU-Kommissionspräsidentin am 3. Mai offen widersprach. Freilich machte sich der Human Rights Watch-Mitarbeiter keine Illusionen: Dass die EU die hindunationalistischen Auswüchse in Indien ignoriert, liegt ganz einfach daran, dass sie Indien als Verbündeten im globalen Machtkampf gegen China braucht. Und da passt es dann natürlich nicht, wenn man Modi verprellt, indem man auf Menschenrechten besteht. Die USA halten es ähnlich. Ende April hatte Außenminister Antony Blinken kurz gedroht, man könne die „Zunahme von Menschenrechtsverletzungen“ in Indien durchaus auch mal thematisieren. Das war zu der Zeit, zu der Washington mit aller Macht versuchte, Indien zur Einführung von Russland-Sanktionen zu bewegen. Das gelang bekanntlich nicht, und die USA, gegen China ebenfalls auf Zusammenarbeit mit Indien setzend, haben die Sache mit den Menschenrechten denn auch rasch wieder vergessen.

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