Kundgebung "Solidarität mit Israel - gegen Antisemitismus und Terror" am 10. Oktober 2023 in Dortmund.
Paulina Bermúdez

„Kein Tag ohne einen antisemitischen Vorfall“

Interview zur Situation in NRW nach dem 7. Oktober

Seit dem 7. Oktober kommt es auch in Deutschland zu einem massiven Anstieg antisemitischer Vorfälle und Übergriffe. Über die aktuelle Situation in NRW sprach unser Gastautor Johannes Gleitz mit Stella Shcherbatova, die als Psychologin für die „Fachstelle gegen Antisemitismus im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln“ arbeitet, sowie dem Sozialpädagogen Micha Neumann von der Beratungsstelle ADIRA („Antidiskriminierungsberatung und Intervention bei Antisemitismus und Rassismus“).

Aktuell wird viel über die Zunahme antisemitischer Straftaten und Übergriffe in Deutschland seit dem Oktober diskutiert. Ich würde gern etwas zurückblicken. Antisemitische Einstellungen und Übergriffe sind ja ein konstantes Problem. Wie war die Situation vor dem 7. Oktober?

Micha Neumann: Sitz unserer Beratungsstelle ist Dortmund, hier gibt es auch die größte jüdische Gemeinde in Westfalen-Lippe. Mit einer virulenten neonazistischen Szene, die auch immer durch antisemitische Aktionen oder Artikulation in Erscheinung getreten ist, war Dortmund immer ein Katalysator des Antisemitismus der extremen Rechten. In den vergangenen Jahren gab es im Zuge der „Corona-Proteste“ sowohl in den größeren Städten in Westfalen wie Dortmund und Bielefeld, als auch in den ländlichen Regionen Ostwestfalens immer wieder unterschiedliche Formen von Shoa-Relativierungen. Darüber hinaus sind die Vorfälle sehr unterschiedlich. Im Erzbistum Paderborn sind im vergangenen Jahr stärker antijudaistische Darstellungen an Kirchen in die Öffentlichkeit gerückt. Ansonsten gab es häufig Schmierereien im öffentlichen Raum, oft israelbezogener Antisemitismus. Aber auch Schändungen von ehemaligen jüdischen Friedhöfen oder Erinnerungsstätten gab es. Auch vor dem 7. Oktober war Antisemitismus in der Region präsent, aber eben nicht so, wie es aktuell der Fall ist.

Stella Shcherbatova: Laut unserer Statistik wurden im Jahr 2022 83 antisemitische Vorfälle in Köln dokumentiert. Im vorherigen Jahr, also 2021, waren es 45 Vorfälle. Das bedeutet, dass wir 2022 schon einen Anstieg von fast 50 % erfasst haben. Die gemeldeten Formen des Antisemitismus waren außerdem deutlich gewalttätiger. Es gab insgesamt drei gewalttätige Angriffe und Bedrohungen und viele Sachbeschädigungen. In meiner psychosozialen Beratung für Betroffene von Antisemitismus waren 34 Personen bei mir, insgesamt habe ich mit diesen Menschen 75 Beratungen durchgeführt. Und das ist auch schon mehr als 2021.

Wie ist die Situation aktuell in den Regionen, für die ihr zuständig seid?

Stella Shcherbatova: Allein bis zum 7. Oktober nahmen 37 Personen meine Beratung in Anspruch und seitdem kamen weitere 27 Personen neu dazu. Wenn wir uns die Statistik anschauen, dann kann man sagen, dass es seit dem 7. Oktober eigentlich keinen Tag ohne einen antisemitischen Vorfall gab. Von den in Köln dokumentierten Vorfällen zwischen Oktober und November handelte es sich bei 76 % um israelbezogenen Antisemitismus und bei zirka 24 % um andere Erscheinungsformen des Antisemitismus.

Micha Neumann: Auch bei uns haben die Beratungsanfragen zugenommen. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Nordrhein-Westfalen (RIAS NRW) hat zwischen dem 8. Oktober und dem 9. November fast genauso viele antisemitische Vorfälle wie im ganzen Jahr 2022 dokumentiert. Etwa 10 % dieser Vorfälle haben sich in Dortmund zugetragen. Nicht nur direkt von antisemitischen Vorfällen Betroffene oder Zeug*innen wenden sich an uns, sondern auch Einrichtungen, vorwiegend Schulen, in denen sich antisemitische Vorfälle zugetragen haben. Es sind aber auch Vereine und Institutionen, in denen antisemitische Äußerungen auffallen und die dann Rat suchen, wie sie damit umgehen können. Das ist der Bereich unserer Fachberatung. Juden und Jüdinnen in der Region sind von ganz unterschiedlichen Vorfällen betroffen. Es gibt viele Schulen, in denen jüdische Schülerinnen, sofern sie als jüdisch bekannt sind, angegangen oder zu einer Positionierung gezwungen werden — und wenn sie sich dann proisraelisch positionieren, dafür angefeindet werden. Auch die Eltern suchen dann unsere Beratungsstelle auf. Des Weiteren sind Juden und Jüdinnen mit verschiedenen antisemitischen Äußerungen im öffentlichen Raum konfrontiert, etwa mit Vernichtungsfantasien in Bezug auf Israel als Graffiti oder als Sticker. Antiisraelische Demonstrationen und Versammlungen gab es auch in Dortmund, Bielefeld und Münster, aber in Westfalen-Lippe waren es nicht so viel wie in Köln und Düsseldorf.

Was bedeutet diese Situation für jüdisches Leben in NRW?

Stella Shcherbatova: Es gibt aktuell in der jüdischen Community viele Ängste und Unsicherheiten. In meine Beratungsstelle kommen viele Eltern und fragen: Wie kann ich mein Kind jetzt noch in den Kindergarten schicken? Die Eltern, die ihr Kind in den jüdischen Kindergarten schicken und unsicher sind, ob das Kind sicher ist, weil es eine jüdische Einrichtung ist. Eltern, deren Kinder in anderen Kindergärten oder Schulen angemeldet sind, kamen zu mir und sagten: Hoffentlich wird mein Kind nicht als Jude erkannt. Das sind Familien, die eigentlich sehr aktiv in den Gemeinden sind und sich sehr als Jüdinnen*Juden identifizieren.

Micha Neumann: Gleichzeitig gibt es ein abstraktes Bedrohungspotenzial. Wir lesen von geplanten Anschlägen, von Hamas-Sympathisantinnen. Auch wenn in den Gemeinden erhöhte Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden und zumindest in Dortmund der Kontakt zur Polizei ganz gut ist, können auch die besten Sicherheitsmaßnahmen das Gefühl der Unsicherheit nicht komplett abwenden. Es ist für viele aus der jüdischen Gemeinde, so mein Eindruck, ganz schwierig, damit umzugehen. Es sind nach dem 7. Oktober auch weniger Leute in die Gottesdienste gekommen oder haben an Veranstaltungen und Angeboten teilgenommen. Jetzt nimmt das aber wieder zu.

Könnt ihr sagen, wie die propalästinensischen Demonstrationen in den jüdischen Gemeinden wahrgenommen werden?

Micha Neumann: Das wird natürlich schon mit Sorge betrachtet. Es ist völlig nachvollziehbar, dass Menschen Anteil nehmen wollen an dem Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung. Aber was bei diesen Demonstrationen stattfindet, ist oft problematisch. Wir sehen bei den meisten Demonstrationen Formen einer Dämonisierung Israels. Wir sehen eine Gleichsetzung von Juden und Jüdinnen mit Israel. Wir sehen Vernichtungsandrohungen gegen Israel. Und antisemitische Darstellungen, mal mehr, mal weniger intensiv, je nachdem, wer da aufruft. Es sind ja unterschiedliche Gruppierungen. Die hohen Teilnehmerzahlen bei diesen Versammlungen sind besorgniserregend. Die Demonstrationen sind eben nicht pro-palästinensisch in dem Sinne, dass die Hamas beseitigt und den Menschen im Gazastreifen ein friedvolles Leben zugestanden wird, sondern es geht häufig darum, Ressentiments gegen Israel oder gegen „die Juden“ loszuwerden. Das ist wie eine Gelegenheitsstruktur für Antisemitismus. Im Zweifelsfall suchen sich solche Demonstrationen auch tatsächlich jüdische Einrichtungen als Ziel. Ich erinnere mich an einen Vorfall aus Gelsenkirchen 2021, wo eine solche Demonstration vor die jüdische Gemeinde gezogen ist und dort antisemitische Parolen skandierte. Ich glaube, dafür sind die Sicherheitsbehörden dieses Mal ein bisschen besser sensibilisiert. Aber die Notwendigkeit höherer Schutzmaßnahmen macht das Leben wieder anstrengender.

Stella Shcherbatova: Als Psychologin arbeite ich mit Gefühlen. Und in meiner Beratung gibt es verschiedene Gefühle von totaler Angst bis Zorn. Viele Menschen ärgert, dass es nicht einfach Demonstrationen für Frieden sind, sondern dass es in Richtung der Delegitimierung und Dämonisierung des Staates Israel geht. In die Kölner Synagogengemeinde wurden muslimische Organisationen eingeladen, unter anderem der Zentralrat der Muslime, die islamische Religionsgemeinschaft DITIB und verschiedene Verbände der Islamischen Kulturzentren. Es wurde eine Erklärung erarbeitet und betont, wie wichtig ein interreligiöser Dialog ist. Viele muslimische Organisationen sagten, dass sie in dem Konflikt auf der Seite Israels stehen und sich gegen die Hamas positionieren. Der nächste Schritt sollte sein, diese Erklärung unter ihren Mitgliedern zu verbreiten und zu bewerben. Solidarität sollte nicht nur auf Papier formuliert, sondern mit Taten verbunden sein. Und das ist nicht passiert.

In einigen Städten gab es Solidaritätsdemonstrationen mit Israel und gegen Antisemitismus, könnt ihr sagen, wie die wahrgenommen werden?

Stella Shcherbatova: Die Demonstrationen werden natürlich positiv wahrgenommen. Viele dieser Versammlungen wurden nicht von jüdischen Gemeinden organisiert, sondern von anderen Organisationen. Am 8. November gab es etwa einen Schweigemarsch, den kirchliche Strukturen organisiert haben. Viele unserer Gemeindemitglieder waren auch dabei. Schwierig ist nur, wenn solche Demonstrationen am Samstag organisiert werden, wegen des Shabbat.

Micha Neumann: In Dortmund gab es schon am 10. Oktober eine Kundgebung, die aus dem zivilgesellschaftlichen Netzwerk zur Bekämpfung von Antisemitismus in Dortmund, in dem wir auch beteiligt sind, organisiert wurde. Auch eine Vertreterin der jüdischen Gemeinde hat dort gesprochen. Ich glaube, das war für viele Gemeindemitglieder in Dortmund ein sehr wichtiges Signal. Es sind auch durch Schreiben oder andere Formen Solidarität und Anteilnahme ausgedrückt worden, etwa durch ein Solidaritätskonzert von israelischen Musikern im Konzerthaus in Dortmund. Gleichwohl stellen sich vielen auch Fragen: Wenige Tage nach dem Angriffskrieg auf die Ukraine kamen zu einer Kundgebung in Dortmund an die 9.000 Menschen. Bei der Solidaritätskundgebung nach dem Angriff auf Israel waren es 300 bis 400 Menschen. Da fragen sich viele, warum es da vergleichsweise wenig sichtbare Solidarität gab — zumal sie weiter schwindet und die Ereignisse vom 7. Oktober immer mehr in den Hintergrund geraten.

Stella Shcherbatova: Bei unserer Synagoge wurden Fotos von den durch die Hamas entführten Geiseln aufgehängt. Neben der Wand mit den Fotos werden jeden Tag Blumen abgelegt. Und wenn man in die Synagoge kommt, sieht man immer frische Blumen. Das bedeutet für mich, dass die Menschen außerhalb der Gemeinde Solidarität zeigen. Seit Kurzem hängt ein großes Banner in der Synagogengemeinde Köln, das fordert, dass alle noch entführten Geiseln zurückgeholt werden sollen. Das ist unser Ziel. Es wäre schön, wenn solche Banner als solidarisches Zeichen zum Beispiel in kirchlichen Gemeinden hängen würden.

Was gibt es noch an Selbstorganisierung von Jüdinnen*Juden in NRW?

Stella Shcherbatova: Wir in der Gemeinde haben offene Treffen organisiert, bei denen es das Angebot gab, mit Psychologinnen über Ängste und Unsicherheiten zu sprechen. Das war sehr hilfreich für die Menschen. Es hilft, zu sehen, dass man nicht allein ist, dass viele sich betroffen sehen. Und es empowert, sich zu organisieren und gemeinsam etwas zu unternehmen. Das schafft Resilienz in der aktuellen Situation. Bei vielen Menschen ist ihre jüdische Identität sogar stärker geworden. Das habe ich bei Chanukka gesehen: Ich wohne hier seit fast 25 Jahren und ich habe noch nie erlebt, dass jeden Tag an Chanukka so viele Menschen in die jüdischen Einrichtungen kommen. Die Menschen fühlen sich stärker, wenn sie zusammenkommen und sehen, dass sie nicht allein sind. Darüber hinaus hat die jüdische Gemeinde viele Spendenaktionen organisiert, bei denen Geld- und Sachspenden gesammelt wurden: für Soldaten, die gegen Terrororganisationen kämpfen, für die betroffenen Menschen oder für die Familien, die Unterstützung benötigen. Es haben sich viele jüdische und nicht-jüdische Menschen an der Aktion beteiligt.

Micha Neumann: Ich glaube, am größten oder wahrnehmbarsten ist derzeit die Selbstorganisierung jüdischer Studierender. Der jüdische Studierendenverband in NRW und jüdische Hochschulgruppen an verschiedenen Hochschulstandorten machen momentan unheimlich viel Öffentlichkeitsarbeit in Bezug auf israelbezogenen Antisemitismus an Hochschulen. Sie versuchen, sichere Orte für jüdische Studierende anzubieten, aber gleichzeitig das Thema an den Unis zu setzen. Sie haben teilweise auch selbst Kundgebungen organisiert. Ich nehme da eine junge jüdische Generation wahr, die versucht, offensiv mit der aktuellen Situation umzugehen und sich des Themas anzunehmen. Das nehme ich momentan als sehr präsent wahr. Ich würde auch sagen, dass das Gemeinschaftsgefühl in jüdischen Communitys wieder wächst. Ich weiß nicht genau, ob in Dortmund bei Chanukka deutlich mehr Leute da waren als sonst, aber mein Eindruck ist schon, dass solche Feste Anlass geben, näher zusammenzurücken und zu sagen: jetzt erst recht, wir stehen zusammen. Dass jüdische Identität vielleicht auch gestärkt wird, ist sicherlich eine Beobachtung, die man machen kann, auch wenn der Anlass dafür ein ganz schrecklicher ist.

Welche Rolle spielen zivilgesellschaftliche Bündnisse und Aktivitäten in der aktuellen Auseinandersetzung mit Antisemitismus?

Stella Shcherbatova: Ein Teil der Leute scheint gleichgültig gegenüber antisemitischen Vorfällen, andere sind es aber auch nicht. Das ist aber durchaus Thema in meiner Beratung. Es beschäftigt Betroffene, warum die Gesellschaft teilweise gleichgültig reagiert. Auch in konkreten Fällen: Warum haben Menschen nicht reagiert, geschwiegen, die Betroffenen nicht geschützt, wenn sie Zeug*innen waren? Gleichzeitig kommen in meine Beratung gerade mehr nicht-jüdische Menschen, die sich melden, weil sie Zeuginnen geworden sind und die sich auch fragen: Warum ist das passiert und wie kann ich die jüdische Gemeinschaft unterstützen?

Micha Neumann: Seit dem 7. Oktober haben sich einige zivilgesellschaftliche Initiativen geründet, etwa in Bielefeld. Dort hat sich ein neues Bündnis gegen Antisemitismus gegründet, um sich gegen antisemitische und antiisraelische Demonstrationen zu positionieren. In der Auseinandersetzung mit Antisemitismus fände ich es gut, wenn Zivilgesellschaft und antifaschistische Gruppen sichtbarer wären. Auch, um linken Antisemitismus besser thematisieren zu können. Nicht um eine gesellschaftliche Externalisierungslogik nach dem Motto „es sind nur die Linken, die jetzt antisemitisch sind“, zu bedienen, sondern selbstkritisch. Denn es sind ja einmal auch linke antiimperialistische Gruppen, die momentan auf der Straße unterwegs sind und antisemitische Positionen verbreiten. Da ist es sinnvoll, wenn antifaschistische Gruppen stärker intervenieren und sich dieser Thematik annehmen. Bei der Kundgebung am 10. Oktober in Dortmund hat auch ein Vertreter von antifaschistischen Gruppen aus Dortmund gesprochen. Er hat linken Antisemitismus zum Thema gemacht, gleichzeitig aber betont, dass es jetzt auch nicht darum gehen kann, in rassistischen Kampagnen das Staatsbürgerrecht an irgendwelche Bekenntnisse zu koppeln oder Menschen auszuweisen und das als Engagement gegen Antisemitismus zu verkaufen. Es sollte eine wichtige Aufgabe für zivilgesellschaftliche Initiativen und Antifa-Gruppen sein, in diesem Spannungsfeld der Kritik am linken und auch islamischen Antisemitismus einerseits und an rassistischen Kampagnen und Mobilisierungen andererseits Position zu beziehen. Es braucht eine Haltung, die beidem eine Absage erteilt und Antisemitismus in allen Milieus problematisiert.

Danke, dass ihr euch die Zeit für das Interview genommen habt.

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Fachstelle gegen Antisemitismus im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

ADIRA („Antidiskriminierungsberatung und Intervention bei Antisemitismus und Rassismus“)

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