„If you see something – say something”

Racial Profiling als Prinzip rassistischer Polizeigewalt

Neuerdings häufen sich Berichte von organisiertem Widerstand gegen rassistische Polizeikontrollen: von der Selbstorganisierung von Hamburger Jugendlichen und ihren Familien in Altona-Altstadt über Proteste in Offenbach bis hin zu wochenlangen Spontandemonstrationen gegen die auf sogenannte „Lampedusa-Flüchtlinge“ abzielenden rassistischen Polizeikontrollen in Hamburg. Die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt unterstützt in Berlin Betroffene von Racial Profiling und dokumentiert die Folgen und Dimensionen dieser polizeilichen Praxis.

Neuerdings häufen sich Berichte von organisiertem Widerstand gegen rassistische Polizeikontrollen: von der Selbstorganisierung von Hamburger Jugendlichen und ihren Familien in Altona-Altstadt über Proteste in Offenbach bis hin zu wochenlangen Spontandemonstrationen gegen die auf sogenannte „Lampedusa-Flüchtlinge“ abzielenden rassistischen Polizeikontrollen in Hamburg. Die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt unterstützt in Berlin Betroffene von Racial Profiling und dokumentiert die Folgen und Dimensionen dieser polizeilichen Praxis.

Am Nachmittag des 25. Mai 2010 will Amare B. eine Wohnung am Tempelhofer Damm besichtigen und wartet vor der Wohnung auf seinen Makler, der sich verspätet hat. Mit dem Makler telefonierend, läuft er kurz darauf auf dem Fußweg auf und ab, als er plötzlich angegriffen wird. Jemand reißt ihm das Handy aus der Hand, ein anderer packt ihn und dreht seinen linken Arm schmerz­haft auf seinen Rücken. Zu Boden geworfen, befürchtet er einen Nazi­angriff. Erst als ihm Handschellen angelegt werden, begreift er, dass es sich bei den Angreifern um Polizisten handeln muss. Einer der Männer kniet auf seinem Rücken, sodass er keine Luft mehr bekommt. Amare B. wird vom Boden hochgezerrt und in einen parkenden PKW gestoßen. Man durchsucht seine Jacke nach Personalien. Es kommen weitere Polizeibeamte hinzu. Nach einiger Zeit werden seine Handschellen geöffnet, und man weist ihn an zu gehen. Auf seine Frage, warum er geschlagen wurde, antwortet ihm sein Angreifer in etwa: „Wir haben jemanden gesucht, du hast hier gestanden und mit dem Handy telefoniert, in dem Moment hast du uns angeschaut, und das war verdächtig.“

Amare B. leidet unter einer Augenverletzung und Prellungen, Ärzte vermuten zudem einen Rippenbruch. Er steht unter Schock und ist nach dem Angriff monatelang krankgeschrieben. Er erstattet Anzeige wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung im Amt. Die beiden angeklagten Polizisten erklären den Angriff im darauf folgenden Prozess mit dem Versuch eines Süßig­keitendiebstahls, der kurz zuvor durch zwei „südländisch aussehende“ Männer in einem Supermarkt unternommen worden sei. Während sie sich auf die Verfolgung der Süßigkeitendiebe vorbereitet hätten, sei ihnen Amare B. aufgefallen, der telefonierend in der Nähe eines Hauses stand, in das einer der Diebe verschwunden sein soll. Sie hätten vermutet, dass er von den Dieben als Späher geschickt wurde.

Die Verknüpfung von Kriminalität und zugeschriebener Herkunft ist kein Einzelfall. Rassistische Polizeigewalt reicht von körperlichen und psychischen über sexuelle Misshandlungen bis hin zu Mord. Ihr voraus geht die Praxis des Racial Profiling. Im polizeilichen Kontext wird damit die bewusste oder unbewusste Erstellung eines Verdächtigenprofils bezeichnet, bei dem rassialisierte Merkmale wie eine bestimmte „Hautfarbe“, Haarfarbe oder religiöse Symbole maßgeblich handlungsleitend für polizeiliche Maßnahmen wie Kontrollen, Durchsuchungen, Ermittlungen und/oder Überwachung werden. Die Diskriminierung, Stigmatisierung und Gefährdung von Schwarzen Menschen, People of Color und Migrant_innen durch die polizeiliche Praxis des Racial Profiling beschränken sich daher nicht auf die rassistische Kontrollsituation. Sie gehen weit darüber hinaus: weil auf die Kontrolle nicht selten physische Polizeigewalt und Beleidigungen folgen, weil der Korpsgeist im Polizeiapparat die Täter schützt, weil rassistische Rechtsprechung die Opfer oftmals als Täter_innen abstempelt und weil Medienbilder und rassistische oder Rassismus-offene Gesetze die Praxis legitimieren.

Gesetzliche Legitimationsgrundlagen

So ermöglicht etwa die Schleierfahndung Kontrollen im bundesdeutschen Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 Kilometern, ebenso auf Transitstrecken und in öffentlichen Einrichtungen des internationalen Verkehrs, zum Beispiel auf Bahnhöfen oder Flughäfen. In der Öffentlichkeit wurde Racial Profiling vor allem über die Praxis der Bundespolizei bekannt. Ende Februar 2012 urteilte das Verwaltungsgericht Koblenz, dass Beamte der Bundespolizei auf Bahnstrecken, „die Ausländern zur unerlaubten Einreise oder zu Verstößen gegen das Aufenthaltsgesetz dienen, verdachtsunabhängig kontrollieren“ dürfen und die Auswahl der Anzusprechenden „auch nach dem äußeren Erscheinungsbild“ getroffen werden kann. Seit dem Koblenzer Urteil wurde jedoch die gesetzliche Grundlage (§ 22 Abs. 1a des Bundespolizeigesetzes) vermehrt öffentlich kritisiert und in Frage gestellt. Rassismus ist aber nicht nur Teil des Polizeiapparats, sondern fließt auch in der Justiz systematisch in Urteile und Bewertungen mit ein. Denn auch wenn dieses Urteil in der nächsten Instanz gekippt wurde, ist die nachträgliche rechtliche Legitimation einer rassistischen polizeilichen Handlung eher Normalfall als Ausnahme.

Auch in den Landespolizeigesetzen enthalten die Paragrafen zur Identitätsfeststellung die Möglichkeit, an Orten, die polizeiintern als „kriminalitätsbelastet“ oder „Gefahrengebiete“ bezeichnet werden, Personen ohne konkreten Verdacht zu kontrollieren und zu durchsuchen. Dass dies ein Einfallstor für die Orientierung an rassistischen Kriterien bietet, zeigt sich bei Betrachtung konkreter von KOP dokumentierter Fälle. Handlungsleitend für die Polizei ist oft die rassistische Verknüpfung von Kriminalität und zugeschriebener Herkunft oder Hautfarbe oder die Annahme, Nicht-Weiße seien per se rechtliche „Ausländer“ und daher besonders kontrollwürdig, um Aufenthaltsverstöße festzustellen.

Strategien der Diskreditierung

Die Erfahrungen von Betroffenen gaben 2002 in Berlin den Anlass für die Gründung der „Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt“ (KOP) in Form eines Rechtshilfefonds. Betroffene konnten keine finanzielle Unterstützung in juristischen Verfahren erwarten, wenn sie durch eine Strafanzeige belastet waren. Betroffene rassistischer Polizeipraxis sind aber fast ausnahmslos mit Strafanzeigen konfrontiert: weil sie von Polizist_in­nen angezeigt werden, nachdem sie deren rassistische Praxis beim Namen nennen („Beleidigung“) oder weil sie deren Gewalt nicht regungslos hinnehmen („Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“). Hinzu kommt die Macht der Polizeibehörden, eine Anzeige wegen erlittener rassistischer Polizeigewalt nicht aufzunehmen, die Möglichkeit zu behaupten, dass der rassistischen Kontrolle eine Ordnungswidrigkeit vorausging, und der Schutz durch polizeilichen Korpsgeist, Staats­anwält_innen und Richter_innen.

Auf welche Weise die Justiz die Zusammenarbeit von Betroffenen rassistischer Polizeigewalt mit KOP zu sanktionieren versucht, zeigt das Beispiel von Ayfer H., die im März 2012 zu einer Schulkonferenz eingeladen war. Im Laufe des Gesprächs mit dem Schulleiter und Lehrer_innen kommt es zu einer verbalen, rassistisch beleidigenden Auseinandersetzung, infolge derer der Direktor Ayfer H. und ihre Freundin des Raumes verweist und mit der Polizei droht. Die Frauen rufen ihrerseits Polizeibeamte zur Hilfe. Die anrückenden Polizisten nehmen die beiden nicht ernst und sehen offensichtlich in Ayfer H. die Täterin. Ein Polizeibeamter schlägt sie mehrmals, bevor sie festgenommen wird. Nach der Festnahme muss Ayfer H. aufgrund ihrer Verletzungen ins Krankenhaus gebracht werden.

Ayfer H. zeigte die beteiligten Polizisten wegen „Körperverletzung im Amt“ an, doch das Verfahren wurde eingestellt. Stattdessen wurde sie als Täterin angeklagt und im März 2013 zu einer Geldstrafe von 1.600 Euro verurteilt. Gleichzeitig wurde sie als Lügnerin diffamiert, die Gruppen wie KOP manipuliere, um sich als hilfloses Opfer zu inszenieren. Ayfer H. wurde für ein Vergehen, das sie nicht begangen hat, umso härter bestraft, weil sie sich Unterstützung suchte und genau die Schritte ging, zu denen Gewaltbetroffenen regelmäßig geraten wird. Auch in der zweiten Instanz wurde sie verurteilt. 

„Antirassistin, also unglaubwürdig“

Ähnlich und doch anders reagierte das Gericht auf die Prozessbegleitung von KOP im Fall Abasi O.. Dieser reinigt an einem Nachmittag im August 2011 eine Friedrichshainer Telefonzelle, als ein Polizeiwagen neben ihm stoppt und zwei Beamte ihm mitteilen, dass sie beobachtet hätten, wie er ohne Sicherheitsgurt seinen Dienstwagen gefahren habe. Abasi O. erklärt, er sei angeschnallt gewesen. Nachdem ein Beamter seinen Führerschein und Fahrzeugpapiere geprüft hat, ein anderer rechtswidrig seinen Kofferraum durchsucht hat, drohen beide ihm mit einem Ordnungsgeld. Als Abasi O. betont, dass er nichts falsch gemacht habe und sie ihn nur kontrollieren würden, weil er Schwarz sei, wird er von den Beamten beleidigt und anschließend wegen „Beleidigung“ angezeigt. Gegen einen Strafbefehl legt Abasi O. Einspruch ein, wird aber dennoch im März 2011 verurteilt. Im Prozess wird die Augenzeugin, eine Aktivistin von KOP, wegen ihres antirassistischen Engagements für unglaubwürdig erklärt. Ihr wird unterstellt, Abasi O. für eigene politische Zwecke instrumentalisiert zu haben. Das Berufungsverfahren vor dem Landgericht Berlin endet mit einer Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen.

Beide Fälle zeigen: Die Unterstellung von Manipulation und Instrumentalisierung durch Zeug_innen oder Betroffene wird seitens der Gerichte strategisch eingesetzt, um den Vorwurf der rassistischen Polizeigewalt unglaubwürdig zu machen.

Auf Seiten der Polizei ist nach dem Bekanntwerden rassistischer Ermittlungen im Fall der NSU-Morde der Rechtfertigungsdruck gestiegen. Das Prinzip der Täter-Opfer-Umkehr ist eine Reaktion auf die Dokumentation rassistischer Polizeigewalt. So äußert Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), der Vorwurf des Rassismus sei „heftig, schmerzhaft und bösartig“.

Solidarität ist eine Waffe

Die Arbeitsbereiche von KOP umfassen Rechtshilfe, Beratung, Prozessbeobachtung, Dokumentation, Bildungs-, Bündnis- und Öffentlichkeitsarbeit. Das Wissen über die Realität rassistischer Polizeigewalt liegt bei den Menschen, die alltäglich davon betroffen sind. Entscheiden sich diese, mittels der Chronik von KOP ihre Erfahrungen zu dokumentieren und öffentlich zu machen, kann ihr Widerstand auch andere dazu anregen, Sand im Getriebe des institutionellen Rassismus zu sein. Das Ziel ist somit auch, ein gesellschaftliches Klima zu erzeugen, das dazu führt, dass Menschen stehen bleiben, wenn sie Racial Profiling beobachten und nach dem Grund der Kontrolle sowie nach Dienstnummern fragen, sich den Betroffenen als Zeug_in zur Verfügung zu stellen und Gedächtnisprotokolle schreiben – Reaktionen, von denen KOP seit einiger Zeit häufiger hört. „If you see something – say something“, forderte eine US-amerikanische Anti-Terror-Kampagne – und bringt damit unwissentlich auch die Maxime antirassistischer Polizeibeobachtung auf den Punkt.

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