„Jüdischer Hitlerjunge? Das passt ja gar nicht zusammen.“

Interview mit Sally Perel

„Ich war Hitlerjunge Salomon“, die Geschichte des jüdischen Jungen Sally Perel, der den Nationalsozialismus unter falscher Identität in der Uniform seiner Feinde überlebte, ist heute eines der meistgelesenen Bücher im Schulunterricht zum Thema Nationalsozialismus und wurde 1990 verfilmt. Als einer der letzten Zeitzeugen besucht Sally Perel seit Jahren auf Lesetouren Schulen in Deutschland. Wir haben Sally getroffen und über sein Leben als Hitlerjunge und seinen Umgang mit der Vergangenheit gesprochen.

„Ich war Hitlerjunge Salomon“, die Geschichte des jüdischen Jungen Sally Perel, der den Nationalsozialismus unter falscher Identität in der Uniform seiner Feinde überlebte, ist heute eines der meistgelesenen Bücher im Schulunterricht zum Thema Nationalsozialismus und wurde 1990 verfilmt. Als einer der letzten Zeitzeugen besucht Sally Perel seit Jahren auf Lesetouren Schulen in Deutschland. Wir haben Sally getroffen und über sein Leben als Hitlerjunge und seinen Umgang mit der Vergangenheit gesprochen.

Du hast den Nationalsozialismus unter falschem Namen als Hitlerjunge überlebt. Wie kam es dazu, dass aus dem von den Nazis verfolgtem Sally Perel der Hitlerjunge Josef wurde?

Das Leben erfindet manchmal Geschichten, die nur das Leben erfinden kann. Jüdischer Hitlerjunge? Das passt ja gar nicht zusammen. Aber ich war wirklich vier Jahre lang in der Hitlerjugend. Wegen der Nürnberger Rassengesetze musste ich die Schule verlassen und wegen der Rassenverfolgung flüchte ich mit meinen Eltern und meinen Geschwistern nach Polen, meine Kindheit ist eine Geschichte der Flucht. Also erst drei Jahre nach Polen, da war ich zwölf Jahre alt. Und als plötzlich am 1. September 1939 Deutschland Polen überfiel und die Juden ins Ghetto mussten, musste ich mit meinem Bruder wieder fliehen. In den auf Grund des Hitler-Stalin-Paktes von der Roten Arme besetzten Osten Polens. Dort lebte ich in einem sowjetischen Kinderheim und wurde natürlich sozialistisch erzogen, im Geiste Marx’, Engels’, Lenins, Stalins. Bis heute bin ich Sozialist geblieben, die ganze Zeit.

Nach dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion musste ich wieder flüchten. Das war eine sehr grausame Flucht, an deren Ende ich in die Hände der deutschen Wehrmacht fiel. Juden und politische Kommissare der Roten Arme wurden nicht in Gefangenschaft genommen, sondern sofort erschossen. Ich hatte zwei Möglichkeiten, ich konnte meinem jüdischen Glauben treu bleiben und sagen „Ja, ich bin Jude“ und würde erschossen werden, oder mein Leben retten, indem ich meine wahre Religion, meine wahre Identität verleugnete. Und mir schien, dass das Recht auf Leben über jegliche Form von Glauben geht, der Mensch ist der Mittelpunkt des Daseins und keine Religion. Da hab ich wie ein Ertrinkender, der sich an einem Strohalm festhält, gesagt: „Ich bin kein Jude, ich bin Volksdeutscher.“ Und mein großes Glück war, dass mir geglaubt wurde. So wurde ich ein anderer. Ich musste natürlich auch einen anderen Namen annehmen, von da an war ich Josef Perjell. Mit meinen 16 Jahren war ich als Dolmetscher in der Wehrmacht und habe den Vormarsch bis nach Moskau mitgemacht. Dort habe ich gelernt, was Krieg bedeutet und dass das eines der größten Verbrechen ist, die es auf der Erde gibt. Nach einem knappen Jahr an der Front wurde ich in ein Internat der Hitlerjugend geschickt.

Wie war es für dich, eigentlich die ganze Zeit von deinen Feinden umgeben zu sein? Wie hast du diesen Zwiespalt erlebt, wie hast du das ausgehalten?

In dem Internat lernte ich nun diese andere Ideologie. Dreieinhalb Jahre lernte ich jeden Tag diese NS-Ideologie, und so langsam fängt man an daran zu glauben. Ich hab mich verwandelt in den Hitlerjungen Jupp. Ich hatte mich eingelebt, sodass die HJ für mich meine natürliche Umgebung wurde, ich gehörte dazu. Im tiefsten Innern wusste ich natürlich um die Gefahr. In meinen Träumen kam immer die Angst. Aber tagtäglich war ich ein echter Hitlerjunge. Man denkt nicht immer an die Gefahr. Wir haben gemeinsame Erlebnisse, die jede Jugend hat, wir gingen mit Mädchen aus, fuhren zusammen aufs Sommer- und Winterlager. Die Gefahr habe ich immer irgendwie verdrängt.

Im Winter 1943 bist du in den Ferien nach Łódź gefahren, um deine Eltern im Ghetto zu suchen. Als Hitlerjunge Jupp bist du dann jeden Tag mit der Straßenbahn durch das Ghetto gefahren. Wie war es für dich, mit der Situation der Jüdinnen und Juden im Ghetto konfrontiert zu sein?

Ich bin nach Łódź gefahren mit der einzigen Idee, meine Eltern zu sehen und vielleicht irgendwie dort zu bleiben, ich wusste ja gar nicht wie so ein Ghetto aussieht. Dort sind meine beiden Identitäten frontal zusammengestoßen. Ich habe mich gefragt, bin ich nun Jupp oder bin ich Sally. Aber der dominante war der Jupp. Als ich in Łódź war, kam auch der Sally wieder hervor, ich wollte Papa und Mama sehen. Ich stand mit meinen beiden Identitäten vor einer Zerreißprobe. Aber als ich wieder zurück nach Braunschweig kam, war ich wieder der Hitlerjunge, da hab ich umgeschaltet. Ich hatte eine wahnsinnige Begabung, mich verschiedenen Situationen anzupassen. Das hat mir vielleicht meine Mutter mitgegeben, als sie mir sagte, dass ich leben sollte.

Du wolltest deine Eltern suchen. Hast du deine Eltern nochmal wiedergesehen?

Nein. Zwei Brüder haben überlebt, meine Eltern und meine Schwester nicht, sie sind im Ghetto umgekommen. Ich hab eine Frau im Ghetto gesehen, ich war mir sicher, dass es meine Mutter war. Sie war mit einem Kopftuch umhüllt, daher weiß ich nicht, ob sie es wirklich war. Und das werde ich auch nie wissen.

Wie hast du dann das Ende des Krieges erlebt?

Am Ende des Krieges war ich noch im Volkssturm. Mit einer Panzerfaust ausgerüstet hielt ich Wache an einer Brücke der Autobahn, und da kamen dann die Amerikaner und nahmen uns in Gefangenschaft. Da die HJ nicht als kriegsverbrecherische Organisation eingestuft wurde, wurden wir nach ein paar Tagen freigelassen. Am nächsten Tag habe ich wirklich etwas Erschüttertes erfahren. Dass nur 40 Kilometer von meinem Internat entfernt das Konzentrationslager Bergen-Belsen lag. Das wusste ich ja gar nicht, das hat mich wirklich schockiert. Ich lebte dort jahrelang, verbrachte die Zeit schön mit Mädels und neben mir gingen die Transporte zur Vernichtung. Dann fuhr ich direkt nach Bergen-Belsen bei Celle. Ich wollte damals nicht in Deutschland bleiben, ich wollte nie wieder einer nationalen Minderheit angehören. Ich war kein Zionist, ich bin bis heute kein Zionist. Aber ich wollte mein eigenes Land. Ich wollte nicht nach Amerika, nicht nach Australien, nicht nach Südafrika oder Kanada. Ich wollte nach Israel.

40 Jahre bist du mit deiner Geschichte nicht an die Öffentlichkeit gegangen. Warum hast du das für dich behalten?

Ich wollte alle meine Energien und meine Kräfte für meine neue Existenz haben. Um ein neues Leben aufzubauen, musste ich diese Vergangenheit verdrängen. Und außerdem war meine Geschichte nicht nur eine traumatische, sondern auch eine problematische. Ich lebte in der Uniform meiner Feinde und habe „Heil Hitler“ geschrien. Ich war in keinem Lager, ich war nicht in Auschwitz. Deshalb habe ich geschwiegen, bis es dann heraus musste. Solange ich gearbeitet habe, gab es die Möglichkeit es zu verdrängen, ich war andauernd mit der Arbeit beschäftigt. Als ich in den Ruhestand ging, hatte ich das Gefühl, wenn ich das weiter verdränge, muss ich in die Irrenanstalt. Da hab ich dann als Selbsttherapie das Buch geschrieben. Ohne zu ahnen, dass es ein Bestseller wird.

Wie ist deine Familie damit umgegangen, als sie deine Geschichte erfuhr?

Ich hab zwei Söhne und als ich das Buch schrieb, haben sie erstmals Einzelheiten erfahren. Da sagte mein jüngerer Sohn: „Warum hast du mir das früher nicht erzählt? Dann hätte ich gewusst, dass mein Vater ein Held ist.“ Schön gesagt. Er hält mich für einen Helden. Ich persönlich halte mich eher für einen Anti-Held. Ich habe ja nicht als Partisan gekämpft oder Sabotage verübt, ich habe nur mein Leben gerettet. Ich bin kein Held. Allerdings gibt es Menschen, die nur schwarz und weiß sehen. Sie können nicht begreifen, dass ich in der Hitlerjugend war. Einer sagte mir: „Ich an deiner Stelle würde Selbstmord begehen“. Es ist leicht, mir gegenüber in einem bequemen Sessel zu sitzen und zu sagen, dass es besser wäre zu sterben als das Hakenkreuz zu tragen, da kannst du heute leicht ein Held sein. Würdest du vor dem Tod stehen wie ich damals, würdest du genauso handeln wie ich es tat.

Hast du später, nachdem du nach Israel ausgewandert bist, noch Kontakt zu deinen ehemaligen HJ-Kameraden gehabt?

Ja, auch jetzt noch, natürlich werden das immer weniger, diese Generation. Aber es gibt noch ein paar, mit denen ich in den letzten Jahren noch zusammen war. Die glauben das bis heute nicht. Für die bin ich der Jupp. Die sagen: „Jupp, wir waren jahrelang zusammen, wir haben nie etwas Verdächtiges an dir gemerkt.“ Die können das nicht begreifen.

Wie hat sich dein Verhältnis zu Deutschland entwickelt und wie hast du den Umgang der Deutschen mit der NS-Vergangenheit erlebt?

Meine Verbundenheit zu Deutschland ist immer geblieben. Deutschland blieb doch mein Mutterland. Trotz Hitler. Hier bin ich geboren, hier hab ich das erste Mal „Mama“ und „Papa“ gesagt, hier fing ich an Fragen zu stellen, als Kind will man die Welt kennenlernen. Diese Kindheit, die Kultur hat mich schon geprägt. Jedoch muss man sagen, dass Deutschland sich mit dieser Ver­gan­gen­heit nicht ernsthaft auseinandersetzte. Beispielsweise dieser NS-Richter Hans Karl Filbinger wurde Ministerpräsident in Baden-Württemberg. Oder Hans Globke, der die Nürnberger Rassengesetze formulierte, war später Chef des Bundeskanzleramts unter Konrad Adenauer. Und es wurden viele Naziverbrecher freigelassen, weil sie im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion gebraucht wurden, also das war keine ernsthafte Auseinandersetzung. Und die Folgen sehen wir heute. Hätte sich Deutschland damals ernsthaft mit dem NS auseinandergesetzt, wäre heute vielleicht dieser aufkeimende Neonazismus nicht so stark.

Seit Jahren bist du regelmäßig unterwegs, um in Schulen deine Geschichte zu erzählen. Was ist es, was du den Schüler*innen mit auf den Weg geben möchtest?

Ich habe in meinem Leben noch zwei Missionen. Eine ist, mich in Israel für den Frieden mit den Palästinensern einzusetzen. Was mich der Holocaust lehrte, und deswegen hab ich mich auch der Friedensbewegung in Israel angeschlossen, wenn ich mein eigenes Land haben will, dann müssen auch die Palästinenser ihr Land bekommen, denn Gerechtigkeit kann man nicht teilen. Und zum zweiten die Aufklärung junger Menschen über den NS. Zeit meines Lebens war ich für den Frieden aktiv. Kritisches Denken ist wichtig. Die Jugend soll kritisch denken, nicht wie Lämmer alles hinnehmen, was man ihnen sagt, und sich mutig gegen den aufkeimenden Neonazismus stellen. Wenn sie friedlich zusammen leben wollen, müssen sie daran erinnert werden, dass Verfolgung des Andersseins, dass der Hass gegen Fremde zu Verbrechen führt. Das ist meine ganz klare Botschaft.

Herzlichen Dank für das Interview.

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