Jennifer Jane Mills (CC BY 2.0)

Frankensteins Monster

Die „United Kingdom Independence Party“ (UKIP)

Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ist die UKIP zur stärksten Kraft in Großbritannien geworden. Die Partei fällt vor allem mit Stimmungsmache gegen Migrantinnen und Migranten auf.

Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ist die UKIP zur stärksten Kraft in Großbritannien geworden. Die Partei fällt vor allem mit Stimmungsmache gegen Migrantinnen und Migranten auf.

Der Schock saß tief. Es sei die erste landesweite Wahl seit 1906 gewesen, die weder die konservativen Tories noch die Labour Party gewonnen hätten, berichtete die BBC am 26. Mai, einen Tag nach dem Abschluss der Europawahl. Eine Tradition von 108 Jahren sei damit gebrochen – und 108 Jahre sind selbst für britische Verhältnisse eine lange Zeit. Geradezu „zum Sieg gestürmt“ sei die United Kingdom Independence Party (UKIP), notierte der BBC-Kommentator; sie sei mit 27,5 Prozent der abgegebenen Stimmen zur stärksten Kraft geworden und könne nun 24 Mitglieder ins Europaparlament entsenden, fast ein Drittel aller Abgeordneten von der Insel. Das komme einem politischen Erdbeben gleich. UKIP-Chef Nigel Farage jubelte denn auch lauthals über seinen „Durchbruch“, kündigte an, Premierminister David Cameron künftig kräftig „einheizen“ zu wollen, und tönte, es werde seiner Partei bei den nächsten Unterhauswahlen gelingen, auch auf nationaler Ebene eine Reihe Parlamentsmandate zu erkämpfen. Starke Worte – doch ignorieren kann man sie nicht: Die UKIP ist keine beliebige demokratische Partei, die jetzt halt mal das Establishment durcheinandergewirbelt hätte; sie betreibt eine rassistische Politik, und sie hat Kontakte zur extremen Rechten.

„Kriminelle Rumänen“

Der Rassismus der UKIP zeigt sich nicht nur in einzelnen Ausfällen ihrer Mitglieder, die wegen des Imageschadens, den sie mit sich bringen, gelegentlich zu Parteiausschlüssen führen, wenn sie öffentlich werden. Soll der populäre Komiker Lenny Henry in ein „schwarzes Land“ auswandern? Soll er nicht, und der UKIP-Aktivist, der das auf Twitter gefordert hatte, trat nach Bekanntwerden seines Plädoyers umgehend von seiner Europawahl-Kandidatur zurück – wohl nicht ganz freiwillig. Ist der Islam „böse“? Der UKIP-Kandidat, der zu dieser Auffassung gekommen war, wurde von der Parteispitze kurzerhand suspendiert. Das zentrale Angriffsziel der UKIP sind gegenwärtig Migrantinnen und Migranten aus osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten, insbesondere aus Rumänien und Bulgarien, und Attacken gegen sie behält sich Parteichef Farage persönlich vor. Gibt es eine „Kultur der Kriminalität“ unter Rumänen?, wollte eine Reporterin des linksliberalen Guardian im April von Farage wissen. „Bestimmt“, antwortete der: „Ich habe Lager in Rumänien und Bulgarien besucht, ich kenne mich damit gut aus.“ Soll die britische Bevölkerung sich in Acht vor rumänischen Familien nehmen, die in ihre Straße ziehen? „Aber natürlich, ja.“

Britischer Euroskeptizismus

Ihre Ursprünge hat die UKIP, die jetzt mit Agitation gegen Migrantinnen und Migranten aus den östlichen EU-Mitgliedstaaten stark geworden ist, in den euroskeptischen Milieus der frühen 1990er Jahre – in der Zeit, als der Vertrag von Maastricht unterzeichnet wurde (7. Februar 1992) und in Kraft trat (1. November 1993). Der Vertrag schuf aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) beziehungsweise der Europäischen Gemeinschaft (EG) die heutige EU, indem er den Staatenbund unter anderem auf eine gemeinsame Außenpolitik und auf eine gemeinsame Währung, den Euro, festlegte. Das führte in zahlreichen Mitgliedstaaten zu Erschütterungen, vielleicht am stärksten in Großbritannien – aus einer Vielzahl von Gründen, die letztlich tief in der spezifischen Geschichte des Landes verankert sind.

Einer betrifft das bekanntlich stark euroskeptische konservative Establishment des Landes. Großbritannien ist in seiner Geschichte nicht als Kontinental-, sondern als Seemacht erstarkt; von dieser fortwirkenden Prägung zeugen noch heute etwa das Commonwealth oder die enge Bindung an die USA, zentrale Pfeiler der britischen Politik. Darin liegt ein großer Unterschied zu Deutschland: Dort machte sich bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts der einflussreiche Ökonom Friedrich List für einen (kontinental-)europäischen Wirtschaftsbund stark; einen kontinentalen „mitteleuropäischen Wirtschaftsverband ... unter deutscher Führung“, der strukturelle Ähnlichkeiten zur heutigen EU aufgewiesen hätte, zählte Reichskanzler Bethmann Hollweg im September 1914 zu seinen Kriegszielen. Auch wenn die Zeiten sich natürlich geändert haben: Historisch-politische Prägungen sind nicht einfach vom Tisch zu wischen. Im britischen Establishment sind Widerstände gegen die Forderung, sich der kontinental und deutsch geprägten, britischen Zielen oft zuwiderlaufenden EU-Politik unterzuordnen, stets erhalten geblieben. Sie erklären die tiefe Verankerung des Euroskeptizismus in einem signifikanten Teil nicht nur des konservativen Establishments.

Keine Demokratie

Mit den Ursprüngen von UKIP im Euro­skeptizismus der frühen 1990er Jahre hat sich unlängst der Guardian befasst. Dessen Kolumnist Stuart Jeffries traf sich dazu mit UKIP-Gründer Alan Sked, einem Geschichtsprofessor an der renommierten London School of Economics, der sich bitter über die heutige UKIP beklagte: „Die Partei, die ich gegründet habe, ist Frankensteins Monster geworden.“ Sked, in den 1980er Jahren wissenschaftlich mit der damaligen EG befasst, politisch in der Liberal Party aktiv, hatte sich um 1990 zu einem scharfen Gegner der heraufziehenden Maastricht-EU entwickelt. Der Grund? Er sei es leid geworden, „all die Mythen über Europa“ glauben zu sollen, wenn die Wirklichkeit doch ganz anders aussehe, berichtete er später. So habe er nicht eingesehen, wieso er die Brüsseler Bürokratie akzeptieren solle, obwohl sie nie durch demokratische Wahlen legitimiert worden sei. Das Argument, dass die EU nicht demokratisch strukturiert und das gewählte EU-Parlament fast bedeutungslos ist, hat bis heute erhebliches Gewicht im Mutterland der modernen Demokratie, in dem noch jedes Schulkind lernt, dass der letzte englische Monarch, der diktatorische Allüren an den Tag legte und sein Parlament missachtete, 1649 dafür geköpft wurde. Sked verließ 1997 also die Liberals, die die Entwicklung hin zur EU trotz deren undemokratischer Strukturen mittrugen, gründete zunächst eine parteiübergreifende EU-kritische Plattform – die Anti-Federalist League – und dann aus dieser heraus am 3. September 1993 schließlich die UKIP. Das Ziel: Großbritanniens Austritt aus der „nicht demokratischen“ EU.

Die UKIP sei in ihren ersten Jahren keine rassistische Partei gewesen, beteuerte Sked, als Guardian-Kolumnist Jeffries skeptisch nachbohrte. Als Beleg kramte er eine UKIP-Beitrittserklärung von 1993 hervor, auf der neue Mitglieder unterschreiben mussten, die Partei sei „nicht rassistisch und frei von Vorurteilen gegen Ausländer oder Minderheiten jeder Art“. Ihm selbst mag man das mit Blick auf sein politisch-publizistisches Wirken durchaus glauben; jüngst hat er etwa angekündigt, mit einem neuen Buch den eklatanten Rassismus des einstigen US-Präsidenten Abraham Lincoln nachweisen zu wollen, der in der offiziösen Mythologie bis heute als Gegner der Sklaverei gilt. Anders sieht es allerdings mit einigen seiner damaligen Mitstreiter aus. Sked selbst räumte gegenüber Jeffries ein, 1997 mit einem anderen UKIP-Gründungsmitglied namens Nigel Farage hart aneinandergeraten zu sein – über die Frage, ob man ein Ex-Mitglied der faschistischen National Front bei Wahlen als UKIP-Kandidaten aufstellen könne. Farage habe das befürwortet und zur Begründung geäußert: „Es ist nicht nötig, sich um die Stimmen der Nigger Sorgen zu machen. Die werden uns eh nie wählen.“ Ihm sei die Spucke weggeblieben, berichtete Sked. Noch im selben Jahr zog er sich aus der Partei zurück – und muss­te zugeben, einige Mitglieder seiner Partei seien in der Tat „Rassisten und von der extremen Rechten infiziert“.

Die Marxisten und die Migration

Der Flügel um Farage, der seit 2006 mit einer nur kurzen Unterbrechung auch Parteivorsitzender ist, hat seither in der UKIP das Sagen. Entsprechend hat sich deren politische Stoßrichtung immer stärker hin zu rassistischer Agitation entwickelt. Sie wolle „die aktive Förderung der Lehre vom Multikulturalismus durch lokale und nationale Regierungsstellen und alle öffentlich finanzierten Behörden beenden“, erklärte die Partei schon vor Jahren; außerdem verlange sie einen „sofortigen Fünf-Jahres-Stopp für Einwanderung zum Zwecke dauerhafter Übersiedlung“. UKIP-Funktionäre hätten sich mehrfach dafür ausgesprochen, „die Finanzierung von Gruppen zu kürzen, die für Gleichberechtigung eintreten und sich der Verbesserung der Beziehungen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen widmen“, berichtete die britische Antifa-Zeitschrift Searchlight im Juni 2012. Die jüngste Kampagne gegen Migrantinnen und Migranten aus osteuropäischen EU-Staaten führt die rassistische Politik gegenwärtig fort.

Searchlight hat auch dokumentiert, dass die UKIP nach wie vor Kontakte in die extreme Rechte unterhält. Im Mai 2013 berichtete die Zeitschrift von einer Veranstaltung der Bruges Group, einem selbsternannten Think-Tank vom Rechtsaußen-Flügel des britischen Euro­skeptizismus. Die UKIP war laut Searchlight nicht nur mit zahlreichen Parteimitgliedern, sondern auch mit einem Redner auf dem Treffen vertreten – mit dem kürzlich wiedergewählten Europaabgeordneten Gerard Batten, der im EU-Parlament dem „Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres“ angehört. Batten habe sich über eine angebliche „Migrationsflut“ ausgelassen und erklärt, „die Marxisten“ wollten mit Hilfe von „Masseneinwanderung“ die britische Gesellschaft „transformieren“. Beim Publikum, in dem Searchlight auch Personen aus dem Umfeld der faschistischen BNP und Martin Webster, einen ehemaligen Führungsfunktionär der National Front, entdeckte, kam das wohl gut an. Apropos National Front: Ein ehemaliger Funktionär der Organisation, Martyn Heale, gehört nicht nur der UKIP an, er organisierte 2005 sogar den Wahlkampf von Farage persönlich.

Perspektiven

Hat die UKIP mit ihren rassistischen Positionen und ihren Kontakten in die extreme Rechte bei der Europawahl nun den Durchbruch geschafft? Ganz so weit ist es hoffentlich noch nicht. Die UKIP lebt nach wie vor nicht nur von ihrem Rassismus, sondern auch davon, dass sie im viel breiteren britischen Euroskeptizismus zahlreiche Stimmen abgreifen kann. Tatsächlich zeigen Umfragen inzwischen schon wieder einen klaren Rückgang der Zustimmung zu Farage & Co.: Mitte Juli sahen Umfragen die Partei bei nur noch neun Prozent; vor allem die Konservativen hätten vormalige UKIP-Befürworter an sich ziehen können, berichtete das Londoner Umfrageinstitut ICM Research. Einiges spricht dafür, dass ein paar geschickte Schachzüge der Tories konservative EuroskeptikerInnen zumindest vorläufig zurückgewonnen ha­ben, die – von der EU-orientierten Politik des Premierministers abgestoßen – zuletzt zur Stimmabgabe für die UKIP tendierten. Dass Premierminister Cameron sich in den Auseinandersetzungen um den neuen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker als harter Gegner einer weiteren EU-Integration profiliert hat, dürfte ihm in diesem Spek­trum ebenso Sympathien einbringen wie die Ernennung des Euroskeptikers Philip Hammond zum Außenminister. Vor allem aber ist ein zivilgesellschaftlicher Widerstand gegen den Rassismus der UKIP deutlich spürbar. Bleibt zu hoffen, dass er sich durchsetzt.

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