Dariusz Pawlos

Überleben in Sobibor

Vernichtung in der „Aktion Reinhardt“

Vor einem Jahr starb Jules Schelvis im Alter von 95 Jahren. Bis zu seinem Tod widmete er sich unermüdlich der Auseinandersetzung mit und der Erinnerung an die präzedenzlosen Verbrechen im Vernichtungslager Sobibor, das er selbst überlebt hatte. Sobibor gehörte neben Belzec und Treblinka zu den großen Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“, in denen 1942/1943 innerhalb weniger Monate mindestens 1.500.000 Jüdinnen und Juden vor allem aus dem von den Deutschen besetzten östlichen Polen, aber auch aus anderen Ländern ermordet wurden.

Vor einem Jahr starb Jules Schelvis im Alter von 95 Jahren. Bis zu seinem Tod widmete er sich unermüdlich der Auseinandersetzung mit und der Erinnerung an die präzedenzlosen Verbrechen im Vernichtungslager Sobibor, das er selbst überlebt hatte. Sobibor gehörte neben Belzec und Treblinka zu den großen Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“, in denen 1942/1943 innerhalb weniger Monate mindestens 1.500.000 Jüdinnen und Juden vor allem aus dem von den Deutschen besetzten östlichen Polen, aber auch aus anderen Ländern ermordet wurden. Die „Aktion Reinhardt“ bildete einen zentralen Aspekt der Shoah, der jedoch in der Erinnerungskultur oftmals nur randständige Beachtung findet.

Am 3. April 2016 verstarb Jules Schelvis, 1921 in Amsterdam in eine humanistisch-jüdische Familie geboren und einer der wenigen Überlebenden des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Sobibor. Jules Schelvis lernten wir Anfang der 2000er Jahre in Sobibor kennen. An „der Rampe“ berichtete er von seiner Ankunft dort. Bis zuletzt hatten die aus den Niederlanden deportierten Juden und Jüdinnen gehofft, in ein Arbeitslager im Osten zu kommen; die Zeit würde sicherlich schwer, doch mit gegenseitiger Unterstützung und ein wenig Ermutigung würden sie es wohl schaffen. Jules Schelvis hatte sich bewusst bei dem wenigen erlaubten Gepäck für seine Gitarre entschieden; sie würde, nach harter Arbeit, in der Freizeit zur geselligen Entspannung und Ablenkung dienen. Doch das, was diese Menschen vor Ort erwartete, entzog sich jeglicher Vorstellung. Ihr Transport hatte einen Mordort zum Ziel — das Vernichtungslager Sobibor.

Es bedeutet etwas Besonderes, den Menschen Jules Schelvis näher kennengelernt zu haben. Bis heute fühlen wir uns freundschaftlich verbunden und in gewisser Weise auch verpflichtet. Wir schätzen ihn als einen sehr speziellen Menschen: selbstbewusst, zielstrebig, engagiert, mutig, freundlich und aufgeschlossen. Gelernter Drucker und Historiker mit Ehrendoktor, ein Liebhaber der klassischen Musik mit Vorliebe für Gustav Mahler und Bewunderer des Malers Marc Chagalls, ein Mensch, der immer auf der Höhe seiner Zeit war, sich den Errungenschaften der Technik stellte und sie zu nutzen wusste. Jules Schelvis ist es durch seinen bemerkenswerten persönlichen Einsatz gelungen, das NS-Vernichtungslager Sobibor vor dem Vergessen zu bewahren. Sein Leben war geprägt durch Sobibor. 2003 gründete er die Stichting Sobibor, in den Niederlanden eine anerkannte Institution; zusammen mit der Stichting und dem Bildungswerk Stanisław Hantz konnten wir die Gedenkallee auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers einrichten. Bis zuletzt war er persönlich involviert und aktiv: Am 30. Juni 2014 begann in Amsterdam die Konzerttournee „Er reed een trein naar Sobibor/Es fuhr ein Zug nach Sobibor“ mit dem Orchester „Het Nationaal Symfonische Kamerorkest“ unter Leitung von Jan Vermaning, die via Berlin nach Lublin führte und den Weg der Deportationen aus dem niederländischen Lager Westerbork nachzeichnete. Das Konzert endete mit Jules Worten: „Mein Wunsch ist, dass ihr in verständlicher Weise euren Kindern berichtet, was den Juden während des 2. Weltkriegs angetan wurde. Diese können es dann, wenn keine Zeitzeugen mehr leben, direkt ihren Kindern weitererzählen und diese dann an die folgende Generation. Wenn ihr das macht, was ich hoffe, dann habe ich mit meinem Zeugnis ein kleines bisschen zum Gedenken an die 34.000 in Sobibor ermorderten Juden aus den Niederlanden beigetragen.

Chronist der Vernichtungspolitik

„Der Drang, genau in Erfahrung zu bringen, wie es meiner Familie ergangen ist, die ich in Sobibor zurücklassen musste“, veranlasste Jules Schelvis, sich einiges zuzumuten. So nahm er als Nebenkläger (ohne juristische Vertretung) am Hagener Sobibor-Prozess gegen Karl Frenzel teil, der von November 1982 bis zum 4.Oktober 1985 stattfand. Dadurch erhielt er Akteneinsicht — für ihn von großer Bedeutung, denn so konnte er Kontakt zu den wenigen Menschen aufnehmen, die Sobibor überlebt hatten und nun verstreut in der ganzen Welt lebten. Er besuchte sie, führte ausführliche Interviews, die neben persönlichen Erlebnissen und umfangreichem Archivmaterial als Grundlage für sein Buch über das Vernichtungslager Sobibor dienten — bis heute ein Standardwerk, das auch in englischer und deutscher Übersetzung erschienen ist. Der historisch-politische Hintergrund, zum Beispiel die Aussiedlungspläne der Nationalsozialisten oder der Beginn der „Endlösung“, finden ebenso gründlich Beachtung wie der konkrete Ablauf des Mordgeschehens oder der Häftlingsaufstand im Vernichtungslager. Jules Schelvis setzt sich zudem mit dem SS-Personal auseinander. Selbstverständlich ist allen bekannten Sobibor-Überlebenden ein Kapitel gewidmet. Zusammengetragen und geschrieben worden ist das Werk aus der Perspektive des Opfers, des historischen Zeitzeugen, auch wenn es „für uns, die Überlebenden, eine fast nicht zu bewältigende Aufgabe ist, die Geschichte zu rekonstruieren“.

Der niederländische Jude Jules Schelvis lebte mit seiner Frau Rachel in Amsterdam, als sie am 26. Mai 1943 aus ihrer Wohnung ins Lager Westerbork deportiert wurden. 19 Transporte mit 34.313 Personen (offizielle Angabe des Roten Kreuzes) verließen Westerbork in Richtung Sobibor. Niemand hatte eine Ahnung, was sie am Ende des Transportes erwartete. Jules Schelvis wurde direkt nach seiner Ankunft in Sobibor für ein Arbeitskommando selektiert. Er überlebte in der Folge mehrere Lager. Seine Frau Rachel, ihre Brüder und die Schwiegereltern wurden wie alle anderen Menschen aus diesem Transport direkt in den Gaskammern ermordet.

Aufstand in Sobibor

Sobibor ist neben Belzec und Treblinka einer jener vergessenen Orte der „Aktion Reinhardt“, wie der Tarnname der Nazis für die vollständige Ermordung der Jüdinnen und Juden aus dem Generalgouvernement (heutiges Ostpolen) lautet. Mehr als 1.750.000 Menschen nicht nur aus Polen wurden in den Gaskammern der „Aktion Reinhardt“ ermordet. Im März 1942 begann der Bau des Vernichtungslagers Sobibor in Ostpolen an der Bahnlinie Chelm-Wlodawa in einem dünn besiedelten, sumpfigen Waldgebiet. Erster Kommandant und mit der Fertigstellung betraut war ab März 1942 SS-Obersturmführer Franz Stangl, der vorher im „Euthanasie“-Programm in der Anstalt Schloss Hartheim bei Linz eingesetzt gewesen war. Aus den aus ganz Europa ankommenden Transporten wurden mehrere hundert Menschen zur Arbeit in den Werkstätten gezwungen, als Schneider etwa, Schuster, Schreiner; insgesamt waren es etwa 1.000 Häftlinge, darunter 150 Frauen. 200 bis 300 Häftlinge mussten die Leichen der Ermordeten aus den Gaskammern holen und in die Massengräber schaffen. In den wenigen Monaten von Mai 1942 bis zum Oktober des Jahres 1943 wurden in Sobibor jeweils binnen zwei Stunden nach ihrer Ankunft etwa 250.000 Menschen ermordet. Am Ende des Sommers 1942 wurden die Massengräber geöffnet und die Leichen auf Scheiterhaufen verbrannt, um die Spuren der Vernichtung zu beseitigen.

Der Gedanke an Flucht, Aufstand und Revolte kam unter den Funktionshäftlingen des Lagers immer wieder zur Sprache. Ihnen war klar, dass sie als Zeugen des Mordprozesses in jedem Fall getötet würden. Ein Aufstand wurde von einer kleinen Häftlingsgruppe minutiös geplant, mit Unterstützung weiterer eingeweihter Häftlinge vorbereitet und schließlich am 14. Oktober 1943 erfolgreich durchgeführt. Durch Täuschungsmanöver wurde ein großer Teil der SS-Männer in Hinterhalte gelockt und von Häftlingen heimlich getötet. Den etwa 650 Arbeits- oder Funktionshäftlingen, davon 50 unerreichbar in der Todeszone, zumeist unbewaffnet und kampfunerfahren, standen neben den 17 SS-Offizieren der Lagerleitung weitere 120 gut bewaffnete und militärisch ausgebildete Bewacher gegenüber.

Der Ausbruch des Aufstands

Als der Aufstand begann, schlossen sich viele der Gefangenen an; ungefähr 300 Häftlinge konnten aus Sobibor fliehen. Etwa 50 bis 55 ehemalige Häftlinge erlebten das Kriegsende. Der Häftlingsaufstand in Sobibor ist für Schelvis — ganz wie der Aufstand im Warschauer Ghetto im April und Mai 1943 — ein Beispiel für erfolgreichen jüdischen Widerstand: Nach ihm wurden keine Jüdinnen und Juden mehr nach Sobibor deportiert, es fanden dort keine Vergasungen mehr statt. Und nur durch den Aufstand konnten über 50 Personen dem sonst sicheren Tod in Sobibor entkommen. Die SS ließ das Gelände einebnen — alle Spuren des Mordens sollten beseitigt werden — und richtete dort einen Bauernhof ein.

„Reise durch die Finsternis“

Westerbork, Sobibor, Dorohucza, Radom, Lublin, Tomaszow, Auschwitz, Vaihingen an der Enz: Auch Jules Schelvis waren diese Orte unbekannt, bevor er sie auf seiner absurden Odyssee durch die diversen NS-Lager kennenlernen musste, die am 1. Juni 1943 mit der Deportation von Westerbork nach Sobibor begann. Seine Erfahrungen dokumentieren konkret und drastisch die Verflechtung der unterschiedlichen NS-Lagertypen und ihre engmaschige Vernetzung. So überlebt er die Ghettoisierung in den Niederlanden, Konzentrations- und Deportationslager wie Westerbork, Vernichtungslager wie Sobibor, das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, das Konzentrations- und Zwangsarbeitslager „Alter Flugplatz“ in Lublin, Ghettos und Arbeitslager wie Radom oder Tomaszow, Arbeitslager wie Dorohucza oder Vaihingen an der Enz, zudem Todesmärsche von einem Lager zum anderen, Erschießungsaktionen und „Vernichtung durch Arbeit“. Immer leiden die Häftlinge unter der Willkür ihrer Bewacher, insbesondere der SS, immer sind sie konfrontiert mit den denkbar ungünstigsten Bedingungen: mangelhafte und unzureichende Ernährung, keine Krankheitsversorgung, mehr als unzureichende hygienische Bedingungen. Ständige Begleiter sind Läuse, Typhus, die SS, ukrainisches Wachpersonal. Dabei variieren die Bedingungen in den diversen Lagern graduell. Das Arbeitslager Vaihingen an der Enz — , die entkräfteten Häftlinge mussten dort in einem Steinbruch Schwerstarbeit verrichten — bezeichnete Jules Schelvis auch als Vernichtungslager. „Hier kämpfte jeder um das nackte Überleben. Man musste aus eigener Kraft, mit bloßen Händen, geschwollenen Füßen und leerem Magen den Kampf gegen die SS, die Einsamkeit, die Menschen ringsum, die Läuse, das Wetter und die Zeit führen. Für die Schwächsten, von denen die meisten schon drei Jahre oder länger unter der Naziherrschaft gelitten hatten, war es eine Frage, wie lange sie noch durchhalten konnten. Die Sterberate stieg rapide“, und das kurz vor Kriegsende.

Wie konnte Jules Schelvis, wie konnten Menschen diese erbarmungslose Verfolgung und Ausbeutung bis zum Letzten überleben? Es gibt keine eindeutige Ursache, eher günstige Umstände wie die tiefe Freundschaft zwischen den drei deportierten Niederländern Jules Schelvis, Leo de Vries und Joop Wins, die versuchten, während ihrer sinnlosen Odyssee nicht getrennt zu werden, um sich gegenseitig moralischen und auch praktischen Halt zu geben. Das Erleben von Solidarität in äußerst prekären Verhältnissen, immer wieder auch unberechenbares Glück und unvorhersehbare Zufälle hatten kurzfristig erst einmal das Leben — was für eines auch immer — statt des Todes zur Folge. Auch der Taschenspiegel mit dem Porträt Rachels, Jules Schelvis’ erster Ehefrau, scheint eine Rolle zu spielen. Unmittelbar nach der Ankunft in Sobibor wird das Ehepaar Schelvis plötzlich getrennt — ein unerwarteter Abschied für immer, denn „Chel“ wird, wie fast alle Menschen dieses Transportes aus den Niederlanden, sofort in der Gaskammer von Sobibor ermordet. Jules Schelvis gelingt es, dieses Liebespfand während der gesamten folgenden Zeit bei sich zu behalten; immer wieder findet er neue Verstecke für seinen Talisman. Am 8. April 1945 erlebt er, aufgrund von Typhus mit dem Tode ringend, in Vaihingen die unspektakuläre Befreiung durch die französische Armee. Während der Rekonvaleszenz im Krankenhaus vergisst er den Taschenspiegel vergisst ihn auf der Ablage vor dem Duschen. „Ich hatte das Kostbarste verloren, was ich in jenem Moment besaß“, ein Erinnerungsstück an das alte Leben, das komplett ausgelöscht war. Keine Anknüpfung an Vertrautes war jemals wieder möglich.

Unzureichende juristische Aufarbeitung

Nur durch die Aussagen der Überlebenden wissen wir von den Ereignissen in den Lagern, in Sobibor; die Täter zogen es vor, zu schweigen oder zu leugnen. Einige wurden erst durch Überlebende identifiziert und dann vor Gericht gebracht. Jules Schelvis kritisierte die juristische Verfolgung der Täter als unzureichend. In der Bundesrepublik mussten sich vom 6. September 1965 bis zum 20. Dezember 1966 elf SS-Männer aus Sobibor in Hagen vor Gericht verantworten; ihnen wurde „gemeinschaftlicher Mord“ bzw. „Beihilfe zum Mord“ vorgeworfen. Einer der Angeklagten, Heinz Kurt Bolender, hatte den Mordprozess bei den Gaskammern in Sobibor beaufsichtigt. Nach dem Krieg ließ seine Ehefrau ihn für tot erklären, 1961 wurde er unter anderem Namen verhaftet. Kurz vor der Urteilsverkündung begingn er Selbstmord. Kurt Frenzel, den Häftlingen als Sadist und Mörder in Erinnerung, wurde erst 1962 festgenommen. In Hagen wurde er zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt, aber schon im Dezember 1976 entlassen. Frenzel saß Anfang der 1980er Jahre noch einmal kurz in Haft. Trotz erneuter Verurteilung in der Revision wurde vom Vollzug der Freiheitsstrafe aufgrund seines angeblich schlechten Gesundheitszustandes abgesehen. Fünf weitere Angeklagte erhielten Haftstrafen zwischen drei und acht Jahren, vier wurden freigesprochen. Franz Stangl floh mit Unterstützung des Bischofs Alois Hudal über Syrien nach Brasilen; dort wurde er 1967 festgenommen und 1970 in Düsseldorf zu lebenslanger Haft verurteilt., Er starb 1971 in Haft.

Anders als der Hagener Sobibor-Prozess erhielt der Prozess gegen den 89-jährigen Iwan Demjanjuk, einen ehemaligen ukrainischen Wachmann in Sobibor, der Ende 2009 in München begann, große internationale Aufmerksamkeit: Erstmalig wurde ein untergeordnetes Mitglied des Wachpersonals eines NS-Lagers in Deutschland vor Gericht gestellt; ihm wurde vorgeworfen, „Beihilfe zum Mord“ geleistet zu haben. Im Mai 2011 wurde Demjanjuk vom Landgericht München zu eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt, da er „Teil der Vernichtungsmaschinerie“ gewesen sei. Iwan Demjanjuk starb, bevor über die gegen das Urteil eingelegte Revision entschieden war.

Jules Schelvis war einer der 19 niederländischen Nebenkläger; ihm lag auch im Prozess viel daran, der in Sobibor Ermordeten zu gedenken. „Was ich verlange, ist Wahrheit und Gerechtigkeit über Sobibor. […] John Iwan Demjanjuk war Wachmann in Sobibor. Bei allen, die in Sobibor Dienst leisteten — ihnen fehlte jede Spur von Humanität. John Iwan Demjanjuk war da keine Ausnahme. […] Ich vergaß zu sagen: Meine Mutter überlebte den Zweiten Weltkrieg, aber mein Vater wurde 1944 in Sachsenhausen ermordet. Im Gedenken an meine humanistischen Eltern bitte ich die Richter, diesem alten Mann, der so lange inhaftiert war, keine Freiheitsstrafe aufzuerlegen.“

Jules Schelvis wurde 95 Jahre alt. Lieber Jules, wir vergessen dich nicht.

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