Bruchlose Kontinuität

Die Polizei im NS-Staat und in der Bundesrepublik

„Polizei, dein Freund und Helfer“ — Dieser in den 1920er Jahren etablierte Leitspruch sollte die Idee einer Polizei vermitteln, die nicht mehr vom preußischen Obrigkeitsstaat geprägt sein, sondern einem demokratischen Staatsbürgerschaftsverständnis entsprechen sollte. Nur wenige Jahre später beteiligte sich eben diese Polizei an den Deportationen in die Vernichtungslager und an Massenerschießungen. Dennoch hatte nach 1945 das Bild vom „Freund und Helfer“ weiter Bestand. Viele Polizeibeamte konnten ihre beruflichen Laufbahnen trotz NS-Vergangenheit fortführen.

„Polizei, dein Freund und Helfer“ — Dieser in den 1920er Jahren etablierte Leitspruch sollte die Idee einer Polizei vermitteln, die nicht mehr vom preußischen Obrigkeitsstaat geprägt sein, sondern einem demokratischen Staatsbürgerschaftsverständnis entsprechen sollte. Nur wenige Jahre später beteiligte sich eben diese Polizei an den Deportationen in die Vernichtungslager und an Massenerschießungen. Dennoch hatte nach 1945 das Bild vom „Freund und Helfer“ weiter Bestand. Viele Polizeibeamte konnten ihre beruflichen Laufbahnen trotz NS-Vergangenheit fortführen.

Selbst in antifaschistischen Kreisen beschäftigte man sich lange Zeit eher mit SS, Gestapo und Wehrmacht als NS-Tätergruppen — obwohl es auch Bataillone von grün uniformierten Polizisten waren, die in den von der Wehrmacht „erschlossenen“ Gebieten die Besatzung organisieren sollten. Und sie mordeten dabei. 600.000 ist die Mindestzahl der durch Einheiten der Ordnungspolizei getöteten Menschen. An 62 Prozent der in der Shoah begangenen Morde waren Polizisten unmittelbar, etwa durch Massenerschießungen, oder mittelbar, zum Beispiel durch Bewachung der Ghettos, beteiligt. Sie waren demnach ein entscheidendes Rädchen bei der angestrebten Ermordung aller Jüdinnen und Juden.

Der NSDAP nicht wohl gesonnene Polizeipräsidenten wurden 1933 abgesetzt, beispielsweise in Krefeld. Die mittlere Führungsebene blieb weitgehend unangetastet, Widerstand gegen die Umformung der Polizei zu einem Terrorinstrument des NS-Staates war nicht zu erwarten. Mit den „Notverordnungen“ vom Februar 1933 wurden polizeilichen Willkürmaßnahmen Tür und Tor geöffnet. Organisatorisch wurde die Polizei zunehmend zentralisiert, andererseits wurde die politische Polizei aus dem Polizeiapparat herausgelöst. Mit der Verbindung von Parteiamt des „Reichsführers SS“ und Staatsamt des Chefs der deutschen Polizei wurden 1936 Polizei und SS institutionell zusammengeführt. Heinrich Himmler als „Reichsführer SS“ nahm eine Neuorganisation in uniformierte Ordnungspolizei (Schutzpolizei, Gendarmerie) und nicht-uniformierte Sicherheitspolizei (Kriminalpolizei, Politische Polizei bzw. Gestapo) vor. Die Verschmelzung von SS und Polizei wurde 1939 mit der Einrichtung des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) als zentrale Behörde deutscher Repressionsorgane noch verstärkt.

Im Deutschen Reich verfolgten Polizisten politische Gegner*innen und Minderheiten. Eine „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung“ wurde als Sonderabteilung der Polizei gegründet. Auch bei der Reichspogromnacht am 9. November 1938 waren Polizisten präsent — die Feuerschutzpolizei achtete etwa darauf, dass die Brände von Synagogen nicht auf die umliegenden Häuser übergriffen.

Einsatz im Krieg

Im Zweiten Weltkrieg wurde in den einzelnen Wehrkreisen, die das Reich in verschiedene Verteidigungsbezirke aufteilten, über 100 Polizeibataillone mit je 500 Männern aufgestellt. Diese beteiligten sich trotz individueller Handlungsspielräume in hohem Maße an Kriegsverbrechen. Bei Massenerschießungen konnten Polizisten die Befehlsausführung verweigern, galten dann jedoch als „zu weich für den Sondereinsatz“ und wurden oft versetzt. Diejenigen, die viel schossen, wurden belohnt, durch Beförderung und größere Essens- und Alkoholrationen. Oft agierten sie ohne jede Rücksicht auf ihre Opfer und nahmen ihnen jede Menschenwürde.

Die allermeisten der etwa 24.000 in Polizeibataillonen entsandten Polizisten konnten nach der Gründung der BRD trotz teils belastender Untersuchungsergebnisse im Zuge der Entnazifizierungsmaßnahmen wieder in den Polizeidienst zurückkehren. Den alliierten Siegermächten war zumindest in groben Zügen bekannt, dass die Polizei nicht nur am Aufbau und Festigung des NS-Systems beteiligt war, sondern dass neben Gestapo und SD auch Kriminal- und Ordnungspolizei an der Ausgrenzung, Verfolgung, Deportation und dem Massenmord an politischen Gegner*innen, Sinti*sa und Rom*nja, Jüdinnen und Juden und anderen aus der „Volksgemeinschaft“ Ausgeschlossener beteiligt war. Dennoch wirkten am Aufbau der Polizeibehörden nach 1945 in Westdeutschland schon bald wieder Beamte aus der Reichskriminalpolizei aktiv mit.

Legenden und Seilschaften

Zunächst hatten die Besatzungsmächte die Polizei in ihren jeweiligen Zonen strukturiert und so die zentralisierte Struktur der Polizei im NS aufgehoben. Auch nach der Gründung der BRD blieb die Polizei prinzipiell Ländersache, auf Bundesebene entstanden der Bundesgrenzschutz und das Bundeskriminalamt (BKA). Schon an der Konzipierung des BKA war Paul Dickopf, später Vizepräsident und von 1965 bis 1971 Präsident des Amtes, beteiligt. Der Kriminalkommissar und SS- Untersturmführer hatte seine Polizeilaufbahn als Anwärter für den leitenden Kriminaldienst im Juni 1937 bei der Kriminalpolizei in Frankfurt am Main begonnen. An der „Führerschule“ der Sicherheitspolizei in Berlin-Charlottenburg absolvierte er einen Lehrgang, bevor er im Sommer 1939 als Leiter des Kriminalpolizeilichen Erkennungsdienstes Baden nach Karlsruhe versetzt wurden. Von den Polizeibeamten, die mit Dickopf gemeinsam den Lehrgang in Berlin-Charlottenburg absolviert hatten, fanden sich erstaunlich viele nach dem Krieg in der Führungsriege des BKA wieder. Nach 1945 versuchte sich Dickopf als Widerstandskämpfer gegen den NS zu inszenieren. Dabei war er während seines Jura-Studiums 1933 dem NS-Studentenbund beigetreten. Auch sein Beitritt in die SS war keineswegs ein — wie er später behauptete — automatischer Angleichungsdienstgrad, sondern auf Antrag Dickopfs erfolgt.

Neben Paul Dickopf wirkte Rolf Holler an der Konzipierung und Aufbau des BKA mit. Holler war bereits 1930 dem SS-Schülerbund und der Hitlerjugend beigetreten und ab 1933 Mitglied der SA. Nach dem Lehrgang in Charlottenburg, den er gemeinsam mit Dickopf absolvierte, trat er 1939 der SS bei und wurde 1943 zum SS-Hauptsturmführer ernannt. Dass sich weder Dickopf noch Holle kritisch mit ihrer eigenen NS-Vergangenheit auseinandersetzten, zeigt eine 1971 gemeinsam verfasste Broschüre, in der sie die Sicherheitspolizei der Jahre 1937 bis 1945 als das Nonplusultra der fachlichen Kompetenz und Organisation darstellten. So wundert es auch nicht, dass Dickopf das BKA nach dem Vorbild der Reichskriminalpolizei aufbaute. Organisationsstruktur, Haushaltsberechnungen, Stellenpläne, Formulare und Anweisungen wurden direkt aus dieser Institution übernommen.

„Versorgungsanstalt für alte Nazis und Verbrecher“

Unter Mitwirkung von Dickopf und Holle fanden im 1951 gegründeten BKA zahlreiche Führungskräfte aus dem Reichskriminalpolizeiamt zurück in führende Positionen. Von den insgesamt 47 leitenden Beamten des BKA im Jahr 1959 hatten nur zwei keine NS- Vergangenheit. Von den übrigen 45 waren 33 ehemalige SS-Führer, und fast die Hälfte von ihnen war direkt oder indirekt an NS-Verbrechen beteiligt. Als Beamte im Reichskriminalpolizeiamt wirkten sie daran mit, Homosexuelle, Sinti*sa und Rom*nja, sogenannte „Asoziale“ sowie „Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“ in Konzentrationslager einzuweisen. 15 dieser leitenden BKA-Beamten waren während des NS Mitglieder in Polizeibataillonen und somit sehr wahrscheinlich direkt an Massenerschießungen in Osteuropa beteiligt.

In der Sowjetischen Besatzungszone waren bereits Ende der 1940er Jahre 90 Angehörige des Polizeibataillons 304 durch sowjetische Militärtribunale zum Tode verurteilt worden. Vor bundesdeutschen Gerichten fanden erst in den 1960er Jahren mehrere Strafprozesse gegen Angehörige der für Massenerschießungen verantwortlichen Polizeibataillone statt. Dabei wurden nur in Einzelfällen Täter schuldig gesprochen. So etwa im Prozess gegen Mitglieder des Polizeibataillons 306 vor dem Landgericht Frankfurt am Main. Dem Kompaniechef Günter Waltz konnten mehrere Erschießungen nachgewiesen werden, er wurde 1965 zu 13 Jahren Haft verurteilt. Das Landgericht Wuppertal verurteilte 1968 mehrere Angehörige des Polizeibataillons 309 zu lebenslangen Freiheitsstrafen, doch der Bundesgerichtshof hob die Urteile 1971 weitestgehend wieder auf. Erst zwei weitere Urteile gegen Angehörige des Bataillons ebenfalls vor dem Landgericht Wuppertal 1973 hatten Bestand. Gegen einen weiteren Angeklagten wurde ein Revisionsverfahren vor dem Landgericht Darmstadt 1977 eingestellt. In weiteren Verfahren gegen Angehörige mehrere Polizeibataillone wurden die Angeklagten mit der Begründung, sie hätten im Befehlsnotstand gehandelt, freigesprochen.

Einige der an Massenerschießungen beteiligten Polizeibeamten konnten ihrer Polizeikarriere auch in der BRD weiter fortsetzen. Nicht nur beim BKA sammelten sich Kriminalbeamte mit NS-Vergangenheit, in den Landeskriminalämtern sah es nicht viel anders aus. In NRW waren 50 bis 60 höhere Kriminalbeamte ehemalige SS-Angehörige, so etwa die Chefs der Kriminalpolizei in Aachen, Bonn, Gelsenkirchen, Krefeld, Mönchengladbach, Köln, Essen und Mülheim/Ruhr.

Die „Saubere Ordnungspolizei“

Dass so viele SS-Angehörige und an NS-Verbrechen beteiligte Polizeibeamte nach 1945 wieder in den Polizeidienst eintreten konnten, hing auch mit der Einordnung und Aufsplittung der Polizei im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zusammen. Lediglich die Gestapo, der SD sowie die SS wurden als verbrecherische Organisationen benannt. Kriminal- und Ordnungspolizei galten als „nicht belastet“. Dementsprechend wurde die NS-Vergangenheit der Beamten kaum beleuchtet, die sich zudem gegenseitig „Persilscheine“ ausstellten. Auch Ende der 1960er bestand noch ein Viertel des BKA-Führungspersonals aus ehemaligen SS-Angehörigen, die Hälfte aller Beamten waren zuvor NSDAP-Mitglieder gewesen.

Erst als Anfang der 1970er Jahre der größte Teil der alten noch im NS aktiven Kriminalbeamten in den Ruhestand ging, setzten Reformen ein. Beispielsweise in der Polizeiausbildung, die bis dahin stark militärisch geprägt war. Doch bis sich das BKA kritisch mit seiner NS-Vergangenheit befassen sollte, sollten noch über 30 weitere Jahre vergehen. Erst 2007 setzte man sich in mehreren Kolloquien mit der eigenen Geschichte auseinander und gab eine Studie in Auftrag, die sich mit den NS-Kontinuitäten in der eigenen Behörde beschäftigt. Nur wenige Jahre zuvor war dem Ex-Kriminalbeamten Dieter Schenk, der 2001 seine Studien zu den „Braunen Wurzeln des BKA“ veröffentlichte, eine Einsicht in Akten des BKA noch verweigert worden.

Doch neben der personellen Kontinuität blieben auch polizeiliche Ordnungsvorstellungen und kriminalistische Theorien, die zum Teil nahtlos an die NS-Zeit anknüpften, in den Polizeiapparaten wirksam. Beispielsweise blieb die Kategorisierung von delinquenten Jugendlichen als „asozial“ bestehen, und auch die Verfolgung sogenannter Berufsverbrecher wurde nach 1945 ohne nennenswerte Brüche mit der nationalsozialistischen „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ fortgeführt. Die rassistische Sondererfassung von Sinti*sa und Rom*nja in der „Bayerischen Landfahrerzentrale“ griff direkt auf die im NS erstellten Akten zurück, mit denen die Polizei zum Teil bis in die 1980er Jahre arbeitete.

Insgesamt ging der „Wechsel“ von der Diktatur in die Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg also für die Polizei mit erstaunlichen Kontinuitäten einher, die noch weiterer Aufarbeitung bedürfen.