„Schuldig sind nicht nur die reaktionären Klassen“

Über Paul Merker, den NS und die Parteilinie aus Moskau

„Hatten Sie Verbindung zu jüdischen Organisationen in der DDR?“, „Kennen Sie den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde?“, „Sind Sie Mitglied jüdisch-zionistischer Organisationen?“, „Forderten Sie die Rückgabe kapitalistischen Besitzes von Juden?“ — Diese und ähnliche Fragen stellten Mitarbeiter\_innen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) dem am 30. November 1952 verhafteten Paul Merker während seiner Untersuchungshaft in Hohenschönhausen. Während der Verhöre wurde er als „Judenknecht“ beschimpft. Doch nicht, weil er Jude gewesen wäre, was ohnehin nicht zutraf.

„Hatten Sie Verbindung zu jüdischen Organisationen in der DDR?“, „Kennen Sie den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde?“, „Sind Sie Mitglied jüdisch-zionistischer Organisationen?“, „Forderten Sie die Rückgabe kapitalistischen Besitzes von Juden?“ — Diese und ähnliche Fragen stellten Mitarbeiter_innen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) dem am 30. November 1952 verhafteten Paul Merker während seiner Untersuchungshaft in Hohenschönhausen. Während der Verhöre wurde er als „Judenknecht“ beschimpft. Doch nicht, weil er Jude gewesen wäre, was ohnehin nicht zutraf. Vielmehr bestrafte man ihn — vor dem Hintergrund seiner Abweichung von der aus Moskau vorgegebenen Parteilinie — für seine Haltung in Bezug auf den Holocaust und die Entschädigung der jüdischen NS-Opfer.

Paul Merker, 1894 geboren, war gelernter Kellner. 1920 trat er in die KPD ein, für die er vier Jahre später als Abgeordneter in den Preussischen Landtag einzog. 1927 wurde er das erste Mal in das ZK gewählt, 1930 jedoch aufgrund einer „linksopportunistischen Abweichung“ wieder ausgeschlossen. Ab 1931 war er für die Komintern als Berater der Kommunistischen Partei der USA aktiv. 1933 ging er in die Sowjetunion, im Jahr darauf kehrte er nach Deutschland zurück und wurde Mitglied der illegalen KPD-Leitung. Zwei mal noch, 1935 und 1939, wurde er erneut sowohl in das ZK als auch in das Politbüro gewählt. 1941 wurde er in Frankreich interniert, konnte aber 1942 nach Mexiko fliehen. Als er hier zu den anderen deutschen kommunistischen Exilant_innen stieß, war er als Mitglied des Politbüros und des ZK das ranghöchste Parteimitglied. Als solches beanspruchte er die Führung vor Ort, die bereits seit einiger Zeit heiß umkämpft war, für sich.

Machtkampf im Exil

Ihren Führungsanspruch hatten vor Merker bereits Alexander Abusch, Georg Stibi und Otto Börner angemeldet, die schon im Dezember 1941 in Mexiko angekommen waren und sich sogleich gegen die bisherige Leitung der Gruppe wandten. Diese bestand aus André Simone, Leo Katz, Bruno Frei und Rudolf Feistmann. Da Abusch, Börner und Stibi weiter oben in der Parteihierarchie standen, machten sie ihren Anspruch auf die Führung geltend. Vor allem Simone attackierten sie heftig mit Verleumdungen, er sei ein hochbezahlter anglo-amerikanischer Spion. Wenige Monate vor Merkers Ankunft gelang es ihnen schließlich, den Machtkampf für sich zu entscheiden und eine neue Leitung zu bilden. Merker bemühte sich, diesen Konflikt zu schlichten, doch es gelang ihm nicht. Zwar nahm er Börner und Stibi in die Leitung mit auf, arbeitete aber zugleich eng mit Simone zusammen, was ihm übel genommen wurde. Der persönliche Machtkampf wurde durch inhaltliche Auseinandersetzungen noch verschärft. Merker bezweifelte, dass es in Deutschland eine „stetig wachsende Widerstandsbewegung“ gegen Hitler gebe, was von Stibi und Börner als „sektiererisch“ und „links“ kritisiert wurde. Im Januar 1943 rang sich die deutsche Gruppe der Kommunist_innen in Mexiko schließlich dazu durch, Börner und Stibi all ihrer politischen Funktionen zu entheben. Stattdessen sollten sie sich wieder dem Schreiben widmen. Die neue Leitung aus Merker, Abusch, Erich Jungmann und Walter Janka bestand bis zum Kriegsende. Simone kümmerte sich von nun an gemeinsam mit Katz und Zuckermann um die Öffentlichkeitsarbeit, Vernetzung und den Kontakt zur mexikanischen Regierung, der Gewerkschaft und weiteren wichtigen Organisationen. Die kaltgestellten Stibi und Börner sannen auf Rache.

Das „Freie Deutschland“

Die Handlungsspielräume der deutschen Kommunist_innen im mexikanischen Exil waren von Beginn an eingeschränkt. Sie waren der Kommunistischen Partei Mexikos als eigenständige Gruppe zugeordnet, aber auch untergeordnet. Zwar ließen sich kulturell und sozial orientierte Gruppierungen wie die Liga pro Cultura Alemana en Mexico oder der Heinrich-Heine-Klub ins Leben rufen, die sich aber in erster Linie nur an die „eigenen“ Leute richteten. Das Bedürfnis, gegen die Nationalsozialisten zu kämpfen, konnten derartige Initiativen aber nicht befriedigen. Da ein Großteil der Beteiligten entweder einen journalistischen oder schrifstellerischen Hintergrund hatte, wurde daraufhin der Gedanke geboren, eine Zeitschrift zu gründen. Im November 1941 erschien unter dem Titel Freies Deutschland — Revista Antinazi — Alemania Libre (FD) deren erste Ausgabe. Zum festen Kern der Zeitschrift gehörten Simone, Abusch, Bodo Uhse, Anna Seghers und ihr Mann László Radványi sowie Theodor Balk und Egon Erwin Kisch. Chefredakteur war Bruno Frei. Nach seiner Ankunft in Mexiko wurde auch Merker Teil dieses bis Juni 1946 bestehenden Projekts. Die Zeitschrift erschien monatlich und beinhaltete ein breites Spektrum an Beiträgen. Kurzmeldungen hielten die Leser_innen über Ereignisse aus der ganzen Welt auf dem Laufenden, politisch-analytische Artikel vertieften die Hintergründe. Dank Kisch fand auch eine zumindest rudimentäre Auseinandersetzung mit Mexiko statt. Poesie und fiktionale Prosatexte fanden ebenso ihren Platz wie langanhaltende und teils sehr verbissene Diskussionen. Die Kernthemen dieser Auseinandersetzungen wiederholten sich: Zumeist ging es um Auslands- und Exildeutsche, den Widerstand in Deutschland sowie darum, wie es nach dem Krieg weitergehen könnte — und dank Merker auch um das Schicksal der Jüd_innen.

Über die Verfolgung und Ermordung vom NS als jüdisch gekennzeichneter Menschen berichtete das FD von Anfang an, auch wenn nicht immer korrekte Informationen vorlagen. In der ersten Ausgabe vom November 1941 gab Bodo Uhse einen Überblick über die sich „unablässig und rastlos“ fortsetzende Verfolgung in Deutschland und be- richtete unter anderem über das Schicksal der Jüd_innen Hannovers, die von den Nazis aus ihren Wohnungen geholt und in das Totenhaus des jüdischen Friedhofs getrieben worden waren. Charakteristisch nicht nur für diesen Artikel ist, dass an seinem Ende auf die Solidarität und Unterstützung der „Deutschen“ verwiesen wurde. Uhse berichtete davon, dass Nachbarn Obst und Gemüse gebracht und sogar die Abfälle wieder abgeholt hätten, damit die Übertretung des Verbots unbemerkt bleiben konnte.

Antisemitismus und Verantwortung

Im Januar 1942 erschien dann der erste analytische Artikel zum Thema Antisemitismus von Leo Katz. Er beschreibt diesen als „politisches Banner des deutschen Imperialismus“ und als „Barometer“, an dem man den Zustand einer Gesellschaft ablesen könne. Er zeigte sich gleichzeitig überzeugt, dass „mit dem Verschwinden des Nazismus, mit dem Verschwinden aller Ursachen, die zum Nazismus geführt haben, (…) der Antisemtismus in Deutschland und im übrigen Europa ebenso verschwinden“ werde, „wie mit dem Untergang des Zarenreichs in Russland Antisemitismus und Pogrome ihr endgültiges Ende gefunden haben“. Kurzmeldungen hielten die Leser_innen auf dem Laufenden über Deportationen und Morde an Jüd_innen und anderen. Angeprangert wurde aber auch der „antideutsche Chauvinismus mancher Juden“.

Im Oktober 1942 änderte sich dieser Ton. Paul Merker, dessen erste Artikel im Sommer 1942 erschienen waren, in denen er die Eröffnung einer zweiten Front durch die Allierten gefordert hatte, um die Sowjetunion zu unterstützen und einen vermeintlichen innerdeutschen Widerstand zu befeuern, schrieb: „Auch das deutsche Volk hat, da es die Verbrechen seiner herrschenden Klasse gegen die jüdische Bevölkerung zuließ, eine drückende Verantwortung auf sich geladen. Denn schuldig sind nicht nur die reaktionären Klassen (…). Verantwortlich für diese Schandtaten sind auch alle, die sich nicht der Schmutzwelle des Antisemitismus entgegenwarfen.“ Im Gegensatz zur sonst vorherrschenden Linie des FD erklärte Merker das Verhalten der Betroffenen als Reaktion auf das erlittene Leid. Er forderte die Errichtung eines jüdischen Staates, die Entschädigung der Jüd_innen für erlittene wirtschaftliche Schäden und die Möglichkeit der Auswanderung für Jüd_innen in ein Land eigener Wahl — bei Übernahme der Kosten für den Lebensunterhalt bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Auswanderer_innen sich selbst finanzieren könnten.

Die Gegenargumente kamen schnell: Man könnte doch nicht einfach so „alle Juden entschädigen“, es seien „Klassenzugehörigkeit“ und „Moral des Einzelnen“ zu berücksichtigen. Überdies hätten all diejenigen, die Widerstand leisten würden, ebenso ein Recht auf Entschädigung. Merker konterte: Die Nazis machten bei ihren jüdischen Opfern keinerlei Unterschiede bei der Ausplünderung, also dürfe auch keiner bei der Entschädigung gemacht werden. Nichtjüdische Widerstandskämpfer_innen würden allein deswegen von den Nazis gehasst, da sie diese bekämpften — folglich bestünde ihre Belohnung im Sieg über die Nazis. Im Mai 1943 folgte ein Artikel Merkers zur Frage der Wiedergutmachung der im Krieg in den einzelnen Ländern angerichteten Zerstörung. Er argumentierte scharf gegen eine Reparationszahlung durch Abtransport von Maschinen und Fabriken — wie sie dann später in der Sowjetischen Besatzungszone erfolgte.

Weitere Konflikte zwischen Merker und der sowjetischen Linie zeichneten sich ab, als in Moskau das Nationalkomittee der Freien Deutschen gegründet wurde. Hier ließen sich deutsche Kriegsgefangene im Austausch für ein weitaus angenehmeres Leben als das in einem Kriegsgefangenenlager für die sowjetische Propaganda einspannen. Merker bezweifelte die Aufrichtigkeit ihrer Gegnerschaft zum Hitlerregime und wandte sich vehement gegen jede Zusammenarbeit mit ihnen. Das gab Börner und Stibi erneut Munition gegen Merker, die sie sofort nach ihrer Rückkehr nach Deutschland nach Kriegsende einsetzten.

Merkers tiefer Fall

Merker kehrte nach Kriegsende als letztes Mitglied des ZK der KPD nach Deutschland zurück. Er wurde zwar erneut ins ZK gewählt, aber von Anfang an von der politischen Entscheidungsfindung ausgeschlossen. Seine Analyse des NS-Staats, in der die Ideologie der Nationalsozialisten eine große Rolle spielt, wurde zwar verlegt, aber bald von Ulbrichts eigener Interpretation, die vom „falschen Sozialismus“ spricht, verdrängt. 1950 wurde Merker im Zusammenhang mit der „Field-Affäre“ als „imperialistischer Agent“ aus der SED ausgeschlossen. Nachdem im Prager „Slánský-Prozess“ sein Name erneut gefallen war, wurde er am 30. November 1952 verhaftet. Vorgeworfen wurde ihm, sein Engagement gegen Antisemitismus sei prozionistisch und diene somit dem amerikanischen Imperialismus. Am 13. Dezember 1952 erging im MfS der Auftrag, aus seinen Schriften entsprechende Belege herauszusuchen. Mit Stalins Tod endeten die antisemitischen Kampagnen im sowjetischen Machtbereich zwar, Merker aber profitierte hiervon nicht. Er selbst sah den Grund für seine weitere Verfolgung darin, dass sich Ulbricht den ehemaligen Auftrag aus Moskau persönlich zu eigen gemacht hätte. 1955, als die ersten Opfer der antisemitischen Kampagnen, soweit sie noch lebten, wieder frei kamen, wurde Merker in einem Geheimprozess verurteilt — unter anderem aufgrund angeblicher „Bekundung von Rassenhass“.

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