Ärzt*innen im Kreuzfeuer

Der §219a und die Kriminalisierung von Abtreibungen

Am 24. November 2017 warteten etwa 300 Demonstrant\*innen vor dem Amtsgericht im hessischen Gießen auf eine Urteilsverkündung. Angeklagt war die Ärztin Kristina Hänel, weil sie Schwangerschaftsabbrüche durchführt und dies auch auf ihrer Homepage aufführt. Letzteres ist laut §219a StGB als unerlaubte Werbung für Abtreibungen verboten. Anders als viele ihrer Kolleg\*innen entfernte Hänel die Informationen nicht, wehrte sich juristisch und ging an die Öffentlichkeit.

Am 24. November 2017 warteten etwa 300 Demonstrant*innen vor dem Amtsgericht im hessischen Gießen auf eine Urteilsverkündung. Angeklagt war die Ärztin Kristina Hänel, weil sie Schwangerschaftsabbrüche durchführt und dies auch auf ihrer Homepage aufführt. Letzteres ist laut §219a StGB als unerlaubte Werbung für Abtreibungen verboten. Anders als viele ihrer Kolleg*innen entfernte Hänel die Informationen nicht, wehrte sich juristisch und ging an die Öffentlichkeit.

In Deutschland hat die Kriminalisierung von Abtreibung eine lange Geschichte. Auch wenn der Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen heute gegeben ist, bleiben Abtreibungen auf Grundlage des §218 verboten und nur unter bestimmten Voraussetzungen für die schwangere Person und die behandelnden Ärzt*innen straffrei. Das Werbeverbot für Abtreibungen findet sich im §219a, einem Paragrafen, der 1933 als Teil der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik installiert wurde und insbesondere jüdische, kommunistische und liberale Ärzt*innen kriminalisieren sollte. Der Paragraf differenziert jedoch nicht zwischen kommerzieller Werbung und sachlicher Information. Dies führt zu einer absurden Situation: Wer sich online informieren möchte oder Adressen von Ärzt*innen sucht, wird auf deren Webseiten nicht fündig, weil diese nicht einmal erwähnen dürfen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Stattdessen landet man schnell auf den Webseiten von Abtreibungs­gegner*in-

nen, die mit moralischen Vorhaltungen und Bildern von zerstückelten Föten Fehlinformationen verbreiten und ungewollt Schwangere gezielt zu verunsichern versuchen. Und der Fall Kristina Hänel macht noch etwas deutlich: Es sind Abtreibungsgegner*innen, die den §219a StGB zunehmend dafür benutzen, gezielt Ärzt*innen anzuzeigen und einzuschüchtern.

Selbsternannte „Lebensschützer“

Abtreibungsgegner*innen bezeichnen Schwangerschaftsabbrüche als Mord und inszenieren sich damit als „Lebensschützer“. Unter diesem Label sammeln sich Personen und Gruppen aus unterschiedlichen politischen Spektren: christliche Fundamentalist*innen, Rechtskonservative und Teile der „Neuen Rechten“. Neben der fundamentalen Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts schwangerer Personen eint sie tiefsitzender Sexismus, Homo- und Trans*feindlichkeit: eine Feindschaft gegenüber geschlechtlicher und sexueller Vielfalt, die Ablehnung von gleichgeschlechtlicher Ehe und alternativen Familienmodellen sowie von Feminismus und „Gender-Ideologie“. Die Aktivitäten der „Lebensschützer“ umfassen hierzulande unterschiedliche Aktionsfelder. Organisiert als Vereine und Interessengruppen in Verbänden und Parteien betreiben sie Lobbyarbeit, starten Kampagnen und betreiben teilweise sogar eigene Beratungsstellen, in denen ungewollt Schwangere davon überzeugt werden sollen, die Schwangerschaft fortzusetzen.

„1000 Kreuze für das Leben“

Die wohl größte öffentliche Resonanz gab es in den vergangenen Jahren zu Trauermärschen und Gebetszügen, bei denen der „im Mutterleib getöteten Kinder“ gedacht werden soll. Die größte solche Veranstaltung ist der vom Bundesverband Lebensrecht organisierte „Marsch für das Leben“ in Berlin, der vor allem aus dem evangelikalen Spektrum getragen wird. In Münster, Fulda, München und Salzburg (Österreich) tritt Wolfgang Hering mit seinen erzkatholischen Vereinen EuroProLife und Helfer für Gottes kostbare Kinder Deutschland e.V. als Veranstalter von „1000 Kreuze für das Leben“ auf. In Freiburg zeichnet die Pius-Bruderschaft verantwortlich, in Annaberg-Buchholz sind es die Christdemokraten für das Leben.

Relativierung und Instrumentalisierung der Shoah

Die „Lebensschützer“ sind online stark präsent. Der Gießener Prozess hat insbesondere die Website von Klaus Günter Annen und seinem Verein Initiative Nie wieder! aus Weinheim in den Fokus gebracht. Auf babycaust.de und abtreiber.com betreibt Annen eine Art Online-Pranger für seine politischen Gegner*innen und veröffentlicht unter anderem Namen und Daten von als „Tötungsspezialisten“ bezeichneten Ärzt*innen sowie Pharmaver­treter*innen, Politiker*innen, Wissenschaftler*innen und Mitarbeiter*innen von ProFamilia. Zudem ereifert er sich in zahlreichen Anzeigen über Ärzt*innen, unter anderem auf Grundlage des Werbeverbots des §219a. Laut eigener Aussage hat er in den letzten 16 Jahren über 400 Strafanzeigen gestellt, von denen die meisten jedoch im Sande verliefen.

Den Titel der Website babykaust.de hat Annen bewusst gewählt. Er setzt damit die Beendigung einer Schwangerschaft mit dem Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden gleich. Auf der Startseite schreibt er: „Der Holocaust der Nazis ist der Inbegriff des Grauens im Dritten Reich. Gibt es eine Steigerungsform der grausamen Verbrechen? Ja, es gibt sie! Damals KZ`s — heute OP`s“. Damit instrumentalisiert und relativiert er die nationalsozialistischen Verbrechen für die eigene politische Agenda. Aus diesem Grund solidarisierte sich auf der Kundgebung vor dem Gericht in Gießen auch ein Vertreter der Lagergemeinschaft Auschwitz mit der angeklagten Ärztin und verlas einen Redebeitrag. Darin hieß es: „Wer den Schwangerschaftsabbruch mit den Toten von Auschwitz gleichsetzt, handelt zynisch und verhöhnt das Leid der Opfer. Nie, nie, niemals dürfen die Toten von Auschwitz und den anderen Nazi-Vernichtungslagern […] instrumentalisiert werden und schon gar nicht, um einem gesellschaftlichen Rückschritt öffentliches Interesse zu verschaffen.“

Verknüpfung mit völkischem Nationalismus

In Schwangerschaftsabbrüchen sieht Annen nicht nur eine Steigerung der nationalsozialistischen Vernichtungsideologie, er propagiert die Idee eines vom Staat protegierten und durch Abtreibung eingeleiteten Aussterbens der europäischen Völker. „Was wir z. Zt. in Europa erleben, ist ein Genozid der Völker: Wir töten unsere eigene Nachkommenschaft — rechtswidrig aber straffrei — (größtenteils auch noch vom Staat finanziert) und in das Vacuum der fehlenden Kinder lassen die Politiker Flüchtlinge aus ,aller Herren Länder‘ strömen, damit der Exodus des eigenen Volkes möglichst lange unbemerkt bleibt“ (alle Fehler im Original), schreibt Annen auf seiner Seite. Dabei bedient er die bekannten rassistisch-nationalistischen Bilder eines Kulturkampfes, in dem überlebt, wer mehr eigene Nachkommenschaft produziert.

Hetzkampagnen und „Gehsteigberatungen“

Ärzt*innen sehen sich nicht nur online Diffamierungen und Anfeindungen ausgesetzt, einige sind auch an ihren Arbeitsplätzen unmittelbar mit „Lebensschützern“ konfrontiert. In mehreren Städten finden regelmäßig Mahnwachen und „Gehsteigberatungen“ vor Arztpraxen und Kliniken statt, in denen Abtreibungen durchgeführt werden. Die „Lebensschützer“ beten, verteilen Infomaterial und sprechen gezielt Frauen an, die die Praxis betreten oder verlassen. Ziel ist, diese von einer eventuell geplanten Abtreibung sprichwörtlich auf den letzten Metern abzuhalten. Welchen psychischen Druck diese Belästigung auf ungewollt Schwangere in einer außergewöhnlichen Situation ausübt, kann man sich vorstellen.

Im Kreuzfeuer der Abtreibungs­gegner*innen steht seit vielen Jahren eine Münchener Klinik. Zunächst mieteten die bereits erwähnten Vereine um Wolfgang Hering in unmittelbarer Nähe eigene Räumlichkeiten an und errichteten dort das „Lebenszentrum München“. Nachdem die Klinik Anfang 2016 neue Räumlichkeiten bezogen hatte, gab das „Lebenszentrum“, dessen Schaufensterscheiben nach zahlreichen Sachbeschädigungen gar nicht mehr erneuert worden waren, seinen Standort auf und steht nun aktuell ohne eigene Räume da.

Die so entstandene „Lücke“ in der Drangsalierung des Klinikinhabers nutzt derzeit offensiv eine fast in der Versenkung verschwundene Kleinstpartei: die christliche Deutsche Zentrumspartei (Zentrum) unter dem Bundesvorsitz von Gerhard Woitzik, immerhin 20 Jahre lang Vize-Bürgermeister in Dormagen (Rhein-Kreis Neuss). Die mit Kreisverbänden in NRW und Niedersachsen vertretene Partei inszeniert sich neuerdings als „einzige Pro Life Partei Deutschlands“. Auf ihrem youtube-Kanal veröffentlichte sie Aufnahmen einer Mahnwache vor den neuen Klinikräumen, in der „Kinderschlachtung im Akkord“ betrieben würde. Angebliche Passant*innen ereifern sich in einer mise­rablen schauspielerischen Leistung über eine moralische Verwerflichkeit von Abtreibungen. Den bisherigen Höhepunkt an Geschmacklosigkeit erreichte die Partei jedoch Ende November 2017 mit dem Verteilen von Flugblättern gegen die Neueröffnung der Klinik. Das Deckblatt der an zahlreiche Privathaushalte in München verteilten Druckschrift war beschriftet mit den Worten „Neueröffnung“ und „Gutschein für eine Gratis-Pizza Ihrer Wahl“. Auf der Innenseite wurden zwei Pizzen mit zerstückelten Embryonen als Belag abgebildet, darunter die Beschreibung „Hm … lecker! Gemetzgert nach der Absaugmethode“. Auch wenn derartige Aktionen in der breiten Bevölkerung — und wohl auch in der „Lebensschutz“-Szene — nicht auf große Sympathien stoßen, wird an der Drangsalierung und Einschüchterung der Klinik-Mitarbeiter*innen festgehalten.

„Deutsche Staatsjuristen — Macker und Sexisten!“

Im Gießener Prozess sprach das Amtsgericht Kristina Hänel schuldig und verhängte eine Geldstrafe in Höhe von 6.000 Euro. Die Ärztin will das Urteil nicht akzeptieren und notfalls bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Dennoch war es ein durchaus erfolgreicher Tag, denn der Prozess katapultierte das Thema Abtreibung wie lange nicht mehr in eine breite Öffentlichkeit. Selbst die Gießener Bürgermeisterin solidarisierte sich öffentlich mit der Angeklagten — wenn auch nicht in ihrer offiziellen Funktion, sondern „als Frau“. Vor und hinter den Mauern des Gerichtsgebäudes verfolgten über 300 solidarische Menschen die Verhandlung und machten ihrem Unmut nach der Urteilsverkündung mit minutenlangen lauten Sprechchören wie etwa „Deutsche Staatsjuristen — Macker und Sexisten!“ Luft. Eine am Nachmittag geplante Mahnwache von Abtreibungs­gegner*innen neben der Praxis von Frau Hänel hielt einer kurzen antifaschistischen Intervention nicht stand. Klaus Sydow, Beisitzer im Bundesvorstand der „Christen in der AfD“ monierte später auf Facebook den Diebstahl von Flugblättern. Er habe ganz alleine dagestanden, und die hinzu gerufene Polizei habe ihm nicht geholfen. Die Ereignisse des Tages zeigen, wie wichtig es ist, antifaschistische und feministische Kämpfe zusammenzudenken und entsprechende Netzwerke zu (re-)aktivieren.

Eine von Kristina Hänel initiierte Online-Petition wurde letztlich von über 150.000 Personen unterzeichnet und an Vertreter*innen des Bundestages übergeben. Aus den Reihen von Grünen, Die Linke, FDP und SPD sind vermehrt Stimmen zu hören, die eine Streichung des §219a fordern, der Bundesrat wird schon bald über eine erste Initiative beraten. Ob es tatsächlich zu einer Gesetzesänderung kommt, bleibt aber abzuwarten. Für eine Umsetzung der Jahrzehnte alten feministischen Forderung der ersatzlosen Streichung der Paragraphen 218 und 219 wird es in absehbarer Zeit sicherlich nicht reichen. Dabei wäre die vollständige Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen dringend nötig, um ungewollt Schwangeren das Leben zu erleichtern und um Abtreibungsgegner*innen den Wind aus den Segeln zu nehmen.

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Initiative Netzfreiheit (CC BY 2.0)