Rechter Frei-Raum Dorstfeld?

Auswirkungen rechter Raumaneignung und Gegenstrategien

Mit einer Demonstration durch die Stadtteile Dorstfeld und Marten, auf der massiv antisemitische Parolen gerufen werden, steht Dortmund wieder einmal im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Die Dortmunder Zivilgesellschaft weiß von der Versammlungsanmeldung, lässt es geschehen. Antifaschistische Interventionen bleiben aus. Doch ist Dorstfeld wirklich der „Nazikiez“, den die Nazis selbst propagieren? Eine jüngst vorgestellte Sozialraumanalyse der „Quartiersdemokraten“ beschäftigt sich mit „zivilgesellschaftlichen Problem- und Handlungsfeldern“ in Dorstfeld.

Mit einer Demonstration durch die Stadtteile Dorstfeld und Marten, auf der massiv antisemitische Parolen gerufen werden, steht Dortmund wieder einmal im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Die Dortmunder Zivilgesellschaft weiß von der Versammlungsanmeldung, lässt es geschehen. Antifaschistische Interventionen bleiben aus. Doch ist Dorstfeld wirklich der „Nazikiez“, den die Nazis selbst propagieren? Eine jüngst vorgestellte Sozialraumanalyse der „Quartiersdemokraten“ beschäftigt sich mit „zivilgesellschaftlichen Problem- und Handlungsfeldern“ in Dorstfeld.

21. September 2018, ein Freitagabend in einer deutschen Großstadt. Menschen ziehen unbehelligt mit schwarz-weiß-roten Flaggen umher und brüllen: „Wer Deutschland liebt, ist Antisemit“, und es ist nicht Chemnitz, sondern Dortmund. 100 Nazis erhalten mit ihrer Pyroshow maximale Aufmerksamkeit. Eine direkte Konsequenz des ausbleibenden Protests: Die Polizei minimiert ihre Gefahrenprognose, die Nazis laufen fast ohne Begleitung, sie erzeugen eine Drohkulisse. Wie sich neonazistische Raumnahme auswirkt und was passiert, wenn Neonazis der Raum — wenn auch nur temporär — überlassen wird, zeigte sich in diesen Tagen wiederholt im Stadtteil Dorstfeld. Dortmund hat eine verfestigte, professionalisierte und gewaltbereite Naziszene mit bundesweiter Anziehungskraft (vgl. Lotta #71, S. 17). Doch ist Dortmund ein Frei-Raum für die extreme Rechte, also ein Ort „der politischen Sozialisation des Nachwuchses und der identitären Selbstvergewisserung“ mit „szeneeigenen Immobilien, Vertrieben und Verlagen“? Oder ein Dominanzraum, also ein Ort, wo „die öffentliche Repräsentanz und Verankerung der extremen Rechten dafür sorgt, dass ihre soziale Praxis als Normalität legitimiert oder hingenommen wird“? (Siehe Lotta #53, S. 17) Auf Dorstfeld treffen beide Aspekte begrenzt zu.

Auswirkungen rechter Raumaneignung

Die Wahrnehmung des Stadtteils Dorstfeld ist eine Frage der Perspektive und von subjektiven Erfahrungen abhängig. In den Straßen rund um den Wilhelmplatz finden sich zahlreiche Raummarkierungen. Mit Graffitis, Aufklebern, Beflaggung und Präsenz im öffentlichen Nahraum suggerieren die Nazis, Dorstfeld sei ihr Viertel. Sie haben Teile Dorstfelds als Lebens- und Aktionsmittelpunkt gewählt, es gibt dort seit mittlerweile zehn Jahren Nazi-WGs. Die von Neonazis angemieteten Räumlichkeiten in der Thusneldastraße, in denen die Partei Die Rechte Veranstaltungen durchführt, wurden jüngst umgestaltet und mit einem Schild „Alt Dorstfeld“ und rot-weißer Blumendekoration versehen. Neonazis beanspruchen den Raum auf dem und um den Wilhelmplatz, unter anderem für Informationsstände der Die Rechte. Bei gutem Wetter ist eine Alki-Nazi-Clique um Siggi Borchardt ab vormittags beim täglichen Bierkonsum zu beobachten. Obwohl der Stadtteil unbestreitbar eine gewisse Anziehungskraft für die extreme Rechte bundesweit hat, ist die Beschreibung Dorstfelds als „Hochburg der Neonaziszene“ — wie es mitunter in der Presse geschieht — nicht ganz zutreffend. In Dorstfeld leben sehr viele verschiedene Menschen aus unterschiedlichen Milieus — Alteingesessene, Studierende, Arbeiter*innen, Migran­t*in­nen. Und abseits der von ihnen bewohnten Straßen können die Nazis ihre inszenierte Hegemonialstellung im Alltag nicht aufrechterhalten.

Sozialraumanalyse der „Quartiersdemokraten“

Räume sind Ergebnisse sozialer, kultureller und politischer Praxen. Die Dorstfelder*innen sind frustriert von der Wahrnehmung ihres Stadtteils als „Nazikiez“. 2017 ist ein neues Modellprojekt namens „Quartiersdemokraten“ ins Leben gerufen worden, dessen Träger der Verein zur Förderung von Respekt, Toleranz und Verständigung in Dortmund-Dorstfeld e.V. ist. Im Rahmen des Programms „NRWeltoffen“ wird es gefördert vom nordrhein-westfälischen Ministerium für Kultur und Wissenschaft. Die „Quartiersdemokraten“ haben eine Sozialraumanalyse durchgeführt, um Einblicke in die subjektive Lebenswelt der Bewohner*innen im Stadtteil zu gewinnen. Dabei geht es nicht um einen geographisch oder stadtpolitisch abgesteckten, sondern um einen von den handelnden Akteur*innen konstituierten Raum, der die soziale Alltagspraxis und Perspektive der dort lebenden Menschen explizit in den Fokus nimmt. Die Sozialraumanalyse zeigt, wie Kämpfe um reale Orte und die Möglichkeit ihrer Nutzung durch bestimmte Milieus ausgehandelt werden, sowie die diskursive Deutung dieses Raumes. Wichtig im Untersuchungsansatz war, dass verschiedene Milieus befragt werden, da sie ganz unterschiedliche Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit Rechts haben.

„Seit vielen Jahren guckt Dortmund hin“

Die Sozialraumanalyse wurde Anfang September in den Räumlichkeiten des CVJM unweit des zentral gelegenen Wilhelmplatzes vorgestellt. Mit etwa 60 Gästen war die Veranstaltung gut besucht. Auf dem Podium saßen Vertreter*innen der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Arnsberg und des Runden Tisches Dorstfeld, die SPD-Politikerin Nadja Lüders und die Sozialpsychologin Beate Küpper. Küpper war voll des Lobes für die Stadt Dortmund. Dortmund sei ein Positivbeispiel, der „Saal ist voll“ und „seit vielen Jahren guckt Dortmund hin“. Viele Kommunen seien neidisch.

Die Ergebnisse der Analyse zeigen, dass der extrem rechte Raumkampf immer noch stark präsent ist und als eine Herausforderung für die Zivilgesellschaft gilt. Viele Menschen im Stadtteil fühlten sich vom Dominanzverhalten der Neonazis belästigt und sind verängstigt. Gerade der Wilhelmplatz sei für viele Bewohner*innen des Stadtteils ein „Angstraum“, also ein Raum, den Menschen meiden, die sich als potenzielle Betroffene von rechter Gewalt wahrnehmen. Angst und die reale Gefahr von rechten Angriffen sei ein Hemmnis im zivilgesellschaftlichen Engagement gegen Rechts, so die Studie. Darin liege die geringe Beteiligung an Aktivitäten gegen Rechts begründet. Die Befragten gehen aber davon aus, dass es teilweise auch ein geringes Interesse gibt, sich mit dem Naziproblem in Dorstfeld auseinanderzusetzen. Die „Quartiersdemokraten“ benennen Handlungsfelder, die ein demokratisches Dorstfeld gegen Rechtsextremismus stärken sollen: Öffentliche Kampagnen, Imagewechsel des Stadtteils, mehr Angebote der politischen Bildung in Schulen und Jugendeinrichtungen, Einbindung anderer Akteur*innen sowie mehr Informations- und Sensibilisierungsarbeit.

Diskussion der Ergebnisse

Entscheidend ist, welche Handlungen aus den Empfehlungen abgeleitet werden, insbesondere was die Sichtbarkeit der Zivilgesellschaft betrifft. Ein zentraler Kritikpunkt der Sozialraumanalyse ist der Runde Tisch Dorstfeld. Dieser spreche in erster Linie „ein eher bürgerliches Milieu“ an oder sei gänzlich unbekannt. Es ist hingegen durchaus wahrnehmbar, dass die Stadt nicht länger versucht, die Präsenz von Nazis zu verschweigen, sondern dass in Dorstfeld etwas passiert. An städtischen Einrichtungen, beispielsweise Schulen, wurden Transparente für „Vielfalt, Toleranz und Demokratie“ angebracht, und auf dem Wilhelmplatz finden hin und wieder Veranstaltungen der Dorstfelder Vereine statt. Ein Bürgerzentrum ist in Planung. Auf die Frage, wie man die Leute, die Angst haben, unterstützen könne, antwortete Lüders bei der Vorstellung der Sozialraumanalyse sinngemäß, auch die demokratischen Parteien im Landtag seien gerade hilflos und hätten nach einem Jahr AfD noch keine Antworten auf rechte Hetze gefunden. Dieser Zustand ist symptomatisch.

Problematisierung einer „Zivilgesellschaft von oben“

Unter dem Motto „44149 — Platz für Vielfalt“ fand am 15. September 2018 auf dem Wilhelmplatz ein „Demokratiefest“ der Dorstfelder Vereine statt, das auch vom Dortmunder Oberbürgermeister Ullrich Sierau besucht wurde. Dabei kam es infolge von Provokationen und Beleidigungen zu Ingewahrsamnahmen am Rande des Festes. Die Demonstration der Nazis wenige Tage später war eine direkte Reaktion darauf. Auf der Straße wurde den Nazis — wieder einmal — nichts entgegen gesetzt. Die Antifaschistische Union Dortmund fasst die Ereignisse in einem Statement treffend zusammen: „Während sich [auf dem] Demokratiefest noch die Prominenz aus Stadtverwaltung und Lokalpolitik die Klinke in die Hand gab und nicht müde wurde zu betonen, wie engagiert man in Dortmund sei und zugleich die Dorstfelder Vereine und EinwohnerInnen mit dem Fest ein vermeintlich vielfältiges Dorstfeld präsentieren wollten, passiert wenn es wirklich darauf ankommt: nichts. Zivilgesellschaftliches Engagement in Dortmund bleibt daher weiterhin in Symbolpolitik behaftet.“

Die Angst der verantwortlichen Lokalpolitiker*innen, die Deutungshoheit zu verlieren, stellt ein weiteres Hemmnis für aktives Engagement dar. Ob eine Zusammenarbeit mit Antifaschist*innen gewünscht ist, ist auch fraglich. Fatal ist, dass eine inhaltliche Positionierung vielerorts ausbleibt. Warum gab es nach dem Aufmarsch von Nazis, der bundesweite Aufmerksamkeit erregt hat, keine Stellungnahme des Runden Tisches oder der Dorstfelder Vereine? Der einem Zitat entlehnte Titel der Sozialraumanalyse ist jedenfalls treffend: „Da müsste viel mehr ein Zeichen gesetzt werden, dass man so etwas nicht haben will“.

Ausbleiben linker Positionierung

Die rechte Hegemonie in den Köpfen und auf der Straße ist weder zufällig noch neu. Rassistische Hetzer*innen arbeiten seit Jahren an der Verschiebung der Grenzen des Sagbaren, Ressentiments sind mit der AfD salonfähig geworden. Das schafft den Boden für Ereignisse wie in Chemnitz oder Köthen, auf die Neonazis in Dortmund und vielen anderen Regionen sich positiv beziehen. Auch in der Linken wird Dorstfeld sehr häufig als „Angstraum“ beschrieben, in den Leute sich nicht mehr hin trauen, aus Angst vor Übergriffen und Bedrohungen. Es ist ein schmaler Grad zwischen der Anerkennung der realen Gefahr und der Reproduktion des Mythos eines „Nazikiezes“ — ein Ort, der ohnehin schon verloren ist und wo niemand mehr hingeht.

Die radikale Linke, die derzeit wenig Diskurs mitbestimmend ist, und die an vielen Stellen schwach und unsichtbar erscheint, muss sich hier deutlicher positionieren. Erforderlich ist eine systematische Aufklärung über die völkischen und antisemitischen Implikationen der Provokation der Partei Die Rechte und die Gründe für deren Wirkungsmächtigkeit. Letztlich fußt die Dominanz der Nazis an dieser Stelle auf der Bereitschaft und Fähigkeit, Gewalt auszuüben. Es braucht also neue Strategien gegenüber einer Naziszene, die Mörder in ihren Reihen hat und aktiv die Selbstbezeichnung „Nazis“ wählt. In Dortmund müssen Antworten auf die Dauerpräsenz der extremen Rechten gefunden werden. Es ist offenkundig, dass Antifa-Arbeit in Dortmund weiterhin notwendig ist. Spontane Proteste in der Nordstadt und im Kreuzviertel zeigen hierfür Handlungsmöglichkeiten auf.

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