Fluchten aus Deportationszügen

Ein wichtiger Aspekt jüdischen Widerstandes

Von März 1942 bis Herbst 1943 wurden anderthalb Millionen Juden und Jüdinnen, die meisten ehemalige polnische Staatsangehörige, in die NS-Vernichtungslager Treblinka,Belzec und Sobibor deportiert und dort ermordet. Nachdem die Funktion der Lager bekannt geworden war, bereiteten sich viele Jüdinnen und Juden auf eine Flucht vor und sprangen unter Lebensgefahr aus den schnell fahrenden schwer bewachten Todeszügen.

Von März 1942 bis Herbst 1943 wurden anderthalb Millionen Juden und Jüdinnen, die meisten ehemalige polnische Staatsangehörige, in die NS-Vernichtungslager Treblinka,Belzec und Sobibor deportiert und dort ermordet. Nachdem die Funktion der Lager bekannt geworden war, bereiteten sich viele Jüdinnen und Juden auf eine Flucht vor und sprangen unter Lebensgefahr aus den schnell fahrenden schwer bewachten Todeszügen.

„Vor dem Fenster — wie in Warschau 1939 — Belagerung wie vor einer Bäckerei, die Menschen stehen in der Schlange. Diese Menschen zögern in keiner Weise, einer nach dem anderen springt aus dem fahrenden Zug. Auf jeder Seite [des Fensters] steht ein junger Mann, der jedem hilft, sich zur Höhe der Öffnung hochzuziehen. Zuerst streckt die Person die Beine hinaus, als nächstes greift sie mit den Händen das Fensterbrett, einen Moment lang hängt sie in der Dunkelheit, lässt dann los und verschwindet. […] Die Menschen fliegen hinaus wie Bälle und Bereitwillige zur Flucht rücken ständig nach. Es springen Männer, es springen Frauen. Einer steckt den anderen an. Die Epidemie des Fliehens nimmt einen massenhaften Charakter an. Die Schlange wird länger. Neben mir im Waggon wird es immer leerer, man kann schon drei Schritte frei tun. […] Das Fieber erfasst alle. Fliehen! Selbst alte Leute stellen sich in die Schlange. Wenn es so weitergeht, wird der ganze Waggon leer sein.“ So beschrieb Marian Berland, der mit 21 Jahren am 30. April 1943 aus dem Warschauer Ghetto Richtung Majdanek deportiert wurde, die Flucht aus einem Waggon.

Die „Aktionen“ im Warschauer Ghetto

Im größten Ghetto Europas, dem Warschauer Ghetto, lebten im Herbst 1940 etwa 380.000 Jüdinnen und Juden. Während der „Großen Aktion“ zwischen dem 22. Juni 1942 und dem 24. September 1942 wurden etwa 300.000 Menschen von dort nach Treblinka deportiert und vergast. Zu diesem Zeitpunkt war vielen noch nicht bekannt, wohin die Deportationszüge fuhren. Doch schon bald erreichten die ersten Berichte über die Massenmorde die noch im Ghetto verbliebenen Jüdinnen und Juden. Die organisierten Gruppen im Ghetto verbreiteten die Nachrichten und forderten die Menschen auf, sich gegen die Deportation zu wehren. Doch auch im Ghetto hielten viele Menschen die Wahrheit für unglaubwürdig und sahen zudem keine Möglichkeiten, ihre ganze Familie zu retten. Dennoch versuchte die Mehrheit, wenn es irgend ging, sich der Deportation zu entziehen.

Nach der „Großen Aktion“ waren viele der 60.000 bis 70.000 im Ghetto verbliebenen Menschen im Schockzustand. Aufgrund der Selektionskriterien der Nationalsozialisten während der „Großen Aktion“ handelte es sich um überdurchschnittlich viele junge Menschen und deutlich mehr Männer, die vor allem über handwerkliche oder andere wichtige Fertigkeiten und Kompetenzen verfügten, etwa Ärzte oder Krankenpfleger.

Insgesamt baute sich im Ghetto eine Stimmung auf, dass man sich gegen die Vernichtungspolitik der Nazis zur Wehr setzen müsse. Die Untergrundgruppierungen reorganisierten sich. Bereits seit der Einrichtung des Ghettos hatten sie Strukturen außerhalb des Ghettos aufgebaut und die Ghettos verschiedener Städte miteinander vernetzt. Sie organisierten Waffen, und es gründete sich die Żydowska Organizacja Bojowa (ŻOB, „Jüdische Kampforganisation“). Die ŻOB setzte sich unter anderem aus Hashomer Hatzair, Dror, Akiba, PPR und Bund zusammen. Zur Vorbereitung auf die nächste „Aktion“ trainierten Aktivist*innen der ŻOB die Flucht aus den Zügen und besorgten sich Sägeblätter, die sie immer in ihren Stiefeln bei sich trugen, um nötigenfalls die Gitter vor den Fenstern oder Luken der Waggons zu durchtrennen.

Aufstand im Warschauer Ghetto

Als im Januar 1943 die nächste größere Deportation aus dem Warschauer Ghetto durchgeführt werden sollte, stießen die Nazis auf bewaffneten Widerstand. Bei den Deportationen im Januar sprangen bereits deutlich mehr Menschen aus dem Zug: sowohl Mitglieder des Widerstandes als auch einzelne Personen, die sich selbst um Werkzeug gekümmert hatten und zum Teil mit ihren kleinen Kindern sprangen. Die „Januaraktion“ wurde von den Nazis aufgrund der Gegenwehr vorzeitig abgebrochen. Dieser Erfolg beflügelte die Menschen im Ghetto — die Autorität der Organisierten stieg: Alle wussten nun, wer die ŻOB war — viele nannten sie nur „Die Partei“. Es wurden Bunker und Verbindungstunnel zwischen den Häusern gebaut sowie Verstecke auf der „arischen Seite“ Warschaus gesucht. Die ŻOB hatte großen Zulauf, konnte jedoch nicht alle Aktivist*innen bewaffnen.

Am 19. April 1943 begann die finale Vernichtungs-„Aktion“ der Nazis und damit der Aufstand im Warschauer Ghetto (vgl. LOTTA #53 und LOTTA #54). Marian Berlands Familie wurde in einem Bunker gefunden und auf den „Umschlagplatz“ gebracht, wo die Jüdinnen und Juden aus dem Ghetto zusammengetrieben wurden. Dort mussten sie bisweilen tagelang ohne Essen und Trinken, ohne Möglichkeiten, auf die Toilette zu gehen oder sich zu waschen, auf die Deportation warten. Die meist verletzten Menschen waren ständigem Mord und Totschlag von Seiten der Wachmannschaften ausgeliefert.

Marian Berlands Familie schmiedete Pläne für die Flucht: Auch falls sie getrennt werden sollten, sollte jeder unbedingt, wenn die Gelegenheit gekommen sei, springen und nach Warschau zurückkehren. Am 30. April 1943 um 16 Uhr wurden sie zu den Waggons getrieben. Im Durcheinander wurde Marian von seiner Frau Maria und dem Rest seiner Familie getrennt.

Die Situation im Deportationszug

Berland wurde zusammen mit etwa 130 Personen in einen Waggon gepfercht, in dem es völlig dunkel war. Insgesamt gab es vier Fenster, zwei waren so dicht verdrahtet, dass kaum Luft in den Waggon drang. Die anderen beiden hatten hölzerne Fensterläden, die sie von innen aufbrechen konnten. Der Zug setze sich in Bewegung und erreichte eine hohe Geschwindigkeit. Durch ein Fenster sah Berland, dass bewaffnete Ukrainer auf beiden Seiten der Waggons, wohl auf Trittbrettern, standen und sie bewachten. Es war eng und stickig, es gab kaum Luft. Alle schwiegen. Von Zeit zu Zeit fielen auf beiden Seiten des Zuges Schüs­se. Als sie bei einem Halt Wasser von einem Bauern erhielten, seien Rangeleien um das Gefäß entstanden, schlussendlich habe ein Mann den Krug in einem Zug geleert. Viele Menschen hatten seit Tagen nichts getrunken, waren verletzt und physisch wie psychisch völlig erschöpft. Berland kommentierte: „Danach war ein Gefühl der Scham wegen dieses Verhaltens spürbar. Aber was soll man tun, Verrohung ist eine verständliche Folge des Unglückes und der Situation, in der wir uns befinden.“

Der Zug überquerte die Weichsel, und sie passierten die kleinen Städte vor Warschau. Im Waggon realisierten die Gefangenen, dass sie Richtung Lublin fuhren. „Nicht alle im Waggon haben die Absicht, sich wie Schafe nach Lublin oder irgendwohin in den Tod fahren zu lassen. Diejenigen, die am meisten am Leben hängen, sind die jungen Leute. Die Jugend spinnt als erstes den Plan zur Flucht und geht ihn an“, berichtet Berland, in dessen Nähe sich eine Gruppe von zehn jungen Männern und Frauen formierte, die „angeblich“ zur „Partei“ gehörten. „Diese Angelegenheiten sind ein gehütetes Geheimnis. Solche Begriffe wie Partei, Partisanen besitzen für uns gewöhnliche Sterbliche einen tiefen Zauber. Für jeden von uns ist es ein Traum, […] zur Partei zu gehören. Diese jungen Leute machen sich völlig ernst an die Sache.“

Der massenhafte Sprung aus dem Deportationszug

Diese Gruppe wollte versuchen, die Tür zu öffnen, und dann zu springen. Ein Mann aus dieser Gruppe wandte sich an seine Kameraden: Wenn sie sich nicht wiederfänden, müssten sich alle einzeln in die Lubliner Wälder durchschlagen, wo sie sich den Partisanen anschließen sollten. Sie hatten sich vorbereitet, einer zündete eine Kerze an, ein anderer zog aus dem Stiefelschaft ein Messer oder eine Säge. Die ganze Gruppe begab sich zur rechten Tür und schob energisch die anderen Menschen zur Seite, wobei sie sämtliche Flüche in ihre Richtung ignorierten. Sie wollten ein Stück Holz aus der Tür so herausbrechen, dass man mit einer Hand von außen an den Riegel der Tür gelangte, um sie zu öffnen. Im Waggon regte sich jedoch immer mehr Widerstand, Stimmen wurden laut, die forderten, man müsse die jungen Leute aufhalten, denn sie würden alle gefährden. Langsam, so Berland, bildeten sich im Waggon zwei Lager.

„Auf der einen Seite befindet sich die Jugend, die fliehen will. Auf der anderen Seite haben wir die alten Leute und Frauen, die nicht die Kraft haben zu fliehen, und selbst wenn sie es wollten, wüssten sie nicht, wohin und wozu.“ Im größten Geschrei fuhr der Zug plötzlich langsamer und hielt an. Schüsse waren zu hören. Die Tür ging auf, zum Glück an der anderen Seite, ein Ukrainer leuchtete hinein und kontrollierte den Waggon, bemerkte jedoch nichts Verdächtiges. Er forderte Gold und Wertsachen und verschwand wieder. Als der Zug weiter fuhr, wollten die jungen Leute weiter sägen, aber eine Mauer älterer Menschen versperrte ihnen nun den Weg zur Tür. „Jetzt ruft praktisch der ganze Waggon im Chor: ‘Lasst sie nicht die Tür öffnen. Sie werden fliehen, aber uns lassen sie zurück, und wir zahlen mit unseren Köpfen für sie. Die Ukrainer werden uns alle erschießen.’“ Es kam beinahe zu einer Schlägerei. Die Alten schlugen vor, sie sollten durch das Fenster fliehen und die Tür in Ruhe lassen. Die jungen Leute wollten sich darauf nicht einlassen, da das Springen durch das Fenster viel gefährlicher sei. Doch wer springen wollte, musste einen anderen Weg als die Tür finden. Es wurde wieder dunkel im Waggon, die Kerze war heruntergebrannt. Draußen hörte man ununterbrochen Schüsse. Berland und sein Kamerad standen am Fenster und mussten vor den vorbeizischenden Kugeln immer wieder den Kopf zurückziehen. In einer Stunde würde es hell werden. Die Streitigkeiten verebbten.

Berland ging davon aus, dass die jungen Leute aufgegeben hätten, registrierte dann aber, dass am Fenster am anderen Ende des Waggons Bewegung entstand. Mit dem Kameraden begab er sich dorthin. Es folgte die eingangs zitierte Szene. Am Fenster stand ein Mädchen, das aus einem Korb jedem Springer zwei Stücke Zucker gab. Berland steckte die Portion in die Hosentasche. Er umarmte sie herzlich. Er kletterte hinaus, musste jedoch zurück, unter anderem, weil der Zug anhielt. Dann der zweite Versuch: „Jemand stützte mich beim Hochziehen, jemand stützte meine Hand ab, damit ich nicht abrutschte. Ich bin draußen. Der Wind pfeift. Ich befinde mich auf der Kante des Waggons. Mit einer Hand halte ich mich am Fenster fest. Mit dem ganzen Körper neigte ich mich nach vorne. Ich stieß mich kräftig vom Waggon auf die Seite ab und sprang nach vorne in Fahrtrichtung.“

Motive für die Flucht

Der Bericht Berlands veranschaulicht, dass es organisierten Fluchtwiderstand gab, den Jüdinnen und Juden einzeln oder in Gruppen initiierten, die zum Beispiel vorher in Widerstandsaktivitäten involviert waren. Aber auch spontan wurden Gelegenheiten genutzt oder sich einer Flucht im Waggon angeschlossen.

Die Motivation der Springer*innen reichte vom Kampf ums Überleben und die eigene Würde zu bewahren über den Wunsch, zur Familie, die im Versteck, im Ghetto oder in einem der noch verbliebenen Arbeitslager geblieben war, zurückzukehren, bis hin zu dem Bedürfnis, in einer fast ausweglosen Situation, den eigenen Tod selbst bestimmen zu wollen. Für einige war die Flucht aus den Waggons auch die Voraussetzung, um mit den Partisan*innen den Kampf gegen die Mörder ihrer Familien, Freun­d*in­nen und Bekannten fortzusetzen oder aufzunehmen.

Flucht als Widerstand

Fluchten sind ein bislang zu wenig beachteter Aspekt des jüdischen Widerstandes gegen die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten. Der polnische Historiker und ehemalige jüdische Partisan Szymon Datner bezeichnete die Fluchten aus den Ghettos und aus den Todestransporten als „nicht adäquat gewürdigte Aspekte des [jüdischen] Kampfes im letzten Krieg“. Bereits während der Besatzungszeit sei die Bedeutung der Flucht erkannt und als „Kampfhandlung“ verstanden worden. Als Beleg zitierte Datner aus der Hechaluc Halochem [hebr.: Der kämpfende Pionier], der Schrift der zionistischen Jugendorganisation Akiba in Krakau, vom August 1943: „Juden — wem die Kraft fehlt zum aktiven Kampf, wer nicht fähig ist, zu den Waffen zu greifen, der soll das eigene Leben retten. Jede Flucht aus den Händen der Folterknechte ist heute eine kämpferische Handlung. [...] Legt nicht selbst den Kopf unter das Beil!“

Früh schon verwiesen polnisch-jüdische wie christliche Zeitzeug*innen und zeitgenössische jüdische Historiker*innen auf Fluchten aus den Deportationszügen. Im Oktober 1942 schrieb der Historiker und Mitbegründer des Untergrundarchivs des Warschauer Ghettos, Emanuel Ringelblum, in seinem Tagebuch: „Hunderte Juden sprangen aus den Waggons, sie zogen es vor, durch die Kugel eines ukrainischen Wachmannes, der den Zug begleitete, zu sterben als in den Getrieben der Todesmaschine Treblinka.“ Im Schwarzbuch über die Ermordung der sowjetischen Juden, für das ab 1942/1943 unter anderem Ilja Ehrenburg Berichte zusammenstellte, findet sich in einem Text zur Geschichte der Juden von Lemberg über die Deportationen in das Vernichtungslager Belzec die Passage: „Die Züge wurden nachts abgefertigt, nachdem den Leuten zuvor alle Kleidungsstücke abgenommen worden waren. Viele rissen unterwegs Bretter aus den Waggonwänden und sprangen aus den Zügen. Nackt liefen sie über die Felder. Die deutschen Wachen, die sich gewöhnlich im letzten Waggon befanden, feuerten ganze Salven auf sie ab. Der Bahndamm von Lemberg bis Rawa Ruska war mit Leichen von Juden bedeckt.“

Die Bewertung von Fluchten als Widerstand soll allerdings nicht das Verbleiben im Waggon denunzieren. Die polnische Soziologin Barbara Engelking schreibt zu dem als „Passivität“ ausgelegten Verhalten, dem sogenannten widerstandslosen Einsteigen in die Waggons und Betreten der Gaskammer, dass angesichts der extrem geringen Überlebenschancen viele von sehr menschlichen und zutiefst sozialen Werten angetrieben wurden: „Im Angesicht des täglichen Todes, als die letzte Quelle von Rettung vielleicht nur noch die Verbindung mit anderen [Menschen] war, wollten die Menschen mit ihren Nächsten zusammen sein und ihnen damit einen Beweis ihrer Liebe, Verbundenheit, Treue und Mutes geben.“

Marian Berland und seine Frau Maria, die aus einem anderen Waggon sprang, überlebten beide den Krieg auf der „arischen Seite“ Warschaus, er in einem Versteck, sie mit polnischen Papieren.

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