Der „Dschungel von Calais“

Die Gegend um die nordfranzösische Hafenstadt Calais entwickelte sich ab Mitte der achtziger Jahre zu einem Kristallisationspunkt des französisch-britischen Grenzregimes. Für mehrere Tausend Migrant\_innen war sie eine Durchgangsstation auf dem erhofften Weg nach Großbritannien.

Durch die vorgelagerten Grenzkontrollen im Rahmen des Tunnelbaus unter dem Ärmelkanal und die damit einhergehende zunehmende Beschränkung der Migrationsmöglichkeiten verwandelte sich Calais in eine „Grenzfalle“. Der Weg nach Großbritannien war versperrt.

Auf französischer Seite waren selbst einfachste Einrichtungen der Unterbringung und Daseinsvorsorge nicht vorhanden oder wurden abgebaut. Während die französischen Behörden die Situation der dort Gestrandeten zunächst weitgehend ignorierten oder repressiv reagierten, entstanden prekäre und temporäre Camps. Nach einer langen Folge von Räumungen und Neugründungen konzentrierten die Behörden die Migrant_innen auf einem einzigen Siedlungsplatz, der ab 2015 als „Jungle von Calais“ internationale Aufmerksamkeit und eine Welle von Solidarität aus ganz Europa erfuhr. Im Spätherbst 2016 wurde er von den Behörden aufgelöst und zerstört. Der französische Anthropologe Michel Agier und seine Co-Autor_innen haben 2018 mit dem Band „La Jungle de Calais“ eine herausragende historische, politische und soziologische Analyse des „Jungle“ vorgelegt. Dieser Band liegt nun in deutscher Übersetzung vor und enthält zudem eine ausführliche Vorbemerkung des Politikwissenschaftlers Thomas Müller, „um den Bogen in die Gegenwart zu spannen“. An den hierfür nötigen Recherchen im „Rahmen einer Langzeitbeobachtung in Calais“ hat auch der presserechtlich Verantwortliche der LOTTA, Sascha Zinflou, mitgewirkt.

Prekäre Stadt

Die Autor_innen beschreiben die Entstehung des „Jungle“ im Kontext des spezifischen französisch-britischen Grenzregimes. Für die französische und erst recht für die deutsche Öffentlichkeit neu ist dabei der Ansatz, den „Jungle von Calais“ als Gründung einer prekären Stadt zu verstehen. Das Buch liefert eine einzigartige Beschreibung der Architektur des „Jungles“ mit seinen zeitweise über 10.000 Bewohner_innen, Schulen, Kirchen, Moscheen, rund 70 Restaurants sowie Geschäften und des städtebaulichen Prozesses seiner Entstehung und Ausbaus, der ebenso von der Selbstermächtigung der Migrant_innen, wie auch von den Solidaritätsbewegungen und der nie vollständig abwesenden, in der Regel repressiv gestalteten staatlichen Kontrolle des Siedlungsraums geprägt wurde. Einzigartig dürfte auch die soziologische Beschreibung seiner Bewohner_innen, seines Alltagslebens und seiner Ökonomie sein. Zudem beschreiben die Autor_innen die verschiedensten lokalen und europaweiten Solidaritätsbewegungen, die mediale Rezeption des „Jungles“ als „größtem Slum Europas“ und die politischen Schritte, die 2016 in seiner Zerstörung gipfelten.

Nicht zuletzt analysiert der Band die Strukturen und die Politik der extremen Rechten in Bezug auf den „Jungle“. Demnach agierten mehrere neonazistische und „identitäre“ Gruppen in einem Klima, das unter anderem durch die konservative Calaiser Bürgermeisterin vorgeprägt war. Gleichwohl wenden sich die Autor_innen gegen die medial vermittelte Vorstellung Calais als einer der rechtesten Städte Europas und weisen darauf hin, dass die lokalen Netzwerke solidarischer Gruppen handlungs- und mobilisierungsfähiger waren als die extreme Rechte.

Im Fazit analysieren die Autoren_innen den „Jungle von Calais“ als Prototyp für die Ausdehnung der Grenze zu einem de facto extraterritorialen Grenzraum und als Ort kosmopolitischen Handelns – des sozialen, kulturellen und politischen Lebens von rund zwanzig Nationalitäten von Migrant_innen und zehn Nationalitäten von solidarischen Europäer_innen und der Politisierung der Migrant_innen, die ihre Situation als politischen Konflikt um universelle Menschenrechte verstanden haben.

Michel Agier mit Yasmine Bouagga, Maël Galisson, Carille Hanappe, Mathilde Pette und Philippe Wanneson: Der „Dschungel von Calais“. Über das Leben in einem Flüchtlingslager transcript Verlag, Bielefeld 2020 199 Seiten, 29 Euro

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