NSU-Watch NRW

„Ich werde weiterkämpfen — für die Wahrheit und die Gerechtigkeit“

Aynur Satır und die Erinnerung an den rassistischen Brandanschlag in Duisburg 1984

Aynur Satır und ihre Schwester, Rukiye Satır, überlebten schwerverletzt den rassistischen Brandanschlag auf ihr damaliges Wohnhaus am 26. August 1984 in Duisburg. In jener Nacht verloren sie sieben Angehörige. Seit 2019 kämpfen sie und ihre Familie mit Unterstützung der „Initiative Duisburg 26. August 1984“ um Anerkennung des Anschlages als rechten, rassistischen Anschlag und für eine würdige Erinnerung an die Opfer.

Aynur Satır ist fest entschlossen, mit ihrer Stimme als Opfer und Überlebende gehört zu werden. Am 28. April 2022 nimmt sie ihren ganzen Mut zusammen und spricht bei der Online-Veranstaltung „Kontinuitäten des Rassismus — Betroffene berichten“ des Bündnis Tag der Solidarität — Kein Schlussstrich Dortmund, über ihre Erfahrungen nach dem rassistischen Brandanschlag am 26. August 1984 in Duisburg.

Sieben Menschen verlieren ihr Leben

Am 26. August 1984 wird aus rassistischen Motiven ein Haus in Duisburg-Wanheimerort in Brand gesetzt. Sieben Menschen sterben. Döndü Satır (40 Jahre), Zeliha Turhan (18 Jahre), Rasim Turhan (18 Jahre), Songül Satır (4 Jahre), Ümit Satır (5 Jahre), Çiğdem Satır (7 Jahre) und Tarık Turhan (50 Tage) verlieren bei dem Brand ihr Leben. Aynur Satır und ihre Schwester Rukiye Satır können sich nur durch einen Sprung aus dem zweiten Obergeschoss schwer verletzt retten. Ihr Vater Ramazan Satır ist zum Zeitpunkt des Brandes außer Haus und kann nur hilflos zusehen, wie es abbrennt.

Die Polizei spricht am ersten Tag von einem Kabelbrand, wartet den Bericht eines Sachverständigen gar nicht ab. Dem Hinweis auf Schmierereien — ein Hakenkreuz an der Eingangstür des Wohnhauses in der Wanheimer Straße 301 — wird nicht nachgegangen. Auch der Bericht des Sachverständigen, der keinen Zweifel am Tatbestand der Brandstiftung lässt, wird seitens der Politik und Behörden ignoriert. Eine politische Tat wird nicht in Erwägung gezogen. Ein*e Täter*in kann nicht ermittelt werden. Bei diesem Anschlag, der sieben Menschen das Leben kostete, wird nicht mal von Rassismus gesprochen — ein typisches, systematisches und entpolitisierendes Vorgehen in den 1980er Jahren in Deutschland. Nach ein paar Wochen wird nur noch von einem Großbrand gesprochen. Der Anschlag und die Opfer werden vergessen.

Aynur lag drei Monate im Krankenhaus. Erst nach ihrer Entlassung erfuhr sie das Ausmaß des Anschlages und dass sie ihre Mutter, ihre zwei Schwestern, ihren Bruder, ihren Neffen und Schwager verloren hat. Aynur Satır erinnert sich, dass nur ihr Vater sie im Krankenhaus besuchte, ihr aber nichts erzählte. Sie und ihre Familienangehörigen waren traumatisiert, allein gelassen. Auch untereinander sprachen sie kaum über ihren Verlust und ihren Schmerz.

35 Jahre Vergessen

35 Jahre leben die Familien Satır und Turhan mit ihrem Schmerz und mit ihrer Trauer allein. Sie werden nicht ernst genommen, bekommen keine Hilfe und werden mit ihren Traumata sich selbst überlassen. 1993 wird eine Duisburgerin in Zusammenhang mit einem Brand in einem Geflüchtetenwohnheim festgenommen. Sie gesteht den Brandanschlag im Jahre 1984 in der Wanheimer Straße 301. Zwar wird der Fall erneut aufgerollt, bleibt aber für die Familien folgenlos. Wieder wird nicht von Rassismus gesprochen.

Aynur Satırs Kindheit endete im Alter von 13 Jahren. Sie versuchte zweimal, in die Türkei auszuwandern, kehrte jedoch zurück in die Stadt, in der sie aufgewachsen war, aber auch großen Schmerz erfuhr. Nur durch einen Zufall stößt die Sozialwissenschaftlerin Ceren Türkmen 34 Jahre später im Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD) auf den Brandanschlag. Danach gründet sich die Initiative Duisburg 1984, die den Fall gründlich recherchierte.

Aktivist*innen wandten sich nach langer Suche an die Betroffenen, hörten ihnen zu und holten die Namen der Opfer des Anschlags aus der Vergessenheit. Das erste offizielle Gedenken fand am 31. August 2019 in Duisburg-Ruhrort mit Unterstützung anderer Betroffener rassistischer Gewalt sowie antirassistischer Initiativen statt.

Solidarische Vernetzung unter den Betroffenen

Dass Aynur Satır von ihren Erfahrungen berichtet, ist für sie keine Selbstverständlichkeit. Dass sie öffentlich spricht, liegt vor allem an der Unterstützung der Initiative Duisburg 1984, aber auch an Ibrahim Arslan, Überlebender des Anschlages in Mölln am 23. November 1992, und Gamze Kubaşık, Tochter von Mehmet Kubaşık, der am 4. April 2006 vom NSU ermordet wurde. Sie kennen und teilen ihren Schmerz. Mit Ibrahim Arslan hat sie viele Telefongespräche geführt, von Gamze Kubaşık wird sie ermutigt, weiter für sich und ihre Familie zu sprechen. Sie alle teilen die Erfahrungen, dass ihre Perspektiven nicht ernst genommen wurden. Eine wirklich konsequente Aufklärung seitens der Sicherheitsbehörden bleibt aus. Der Rassismus in der hiesigen Gesellschaft wird nicht immer ernst genommen und Konsequenzen lassen auf sich warten. Die Forderungen der Betroffenen bleiben zumeist ungehört.

Bei der Online-Veranstaltung betonen Aynur Satır, Gamze Kubaşık und Ibrahim Arslan, dass Erinnerungsarbeit vor Ort immer mit den Betroffenen stattfinden müsse. Ihre Perspektiven müssen im Mittelpunkt stehen, ihnen sollte zugehört werden. Auch die Bedeutung einer Vernetzung der Betroffenen untereinander sowie der Unterstützer:innen-Initiativen in NRW und ganz Deutschland wird von ihnen betont.

In den letzten Monaten lernt Aynur Satır weitere Betroffene und Angehörige rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt kennen, unter anderem tauscht sie sich mit Talya Feldman, Überlebende des antisemitischen Anschlages von Halle am 9. Oktober 2019, und Malek Ahmad, dem Vater von Amed Ahmad, der am 29. September 2018 nach einem Brand in seiner Zelle in der JVA Kleve, in der er gar nicht hätte sitzen dürfen, starb (siehe LOTTA #73, #77 und #78 ) über ihre Erfahrungen und ihren Kampf um Erinnerung, Gerechtigkeit und Aufklärung aus. Aus dieser Vernetzung sowie der gegenseitigen Solidarität ziehen die Betroffenen Kraft und Stärke.

Kampf um Anerkennung

Aynur Satır kämpft um die Erinnerung an ihre Liebsten, die sie verlor. Ihr Wunsch ist ein würdiges Gedenken der Opfer mit der Stadt Duisburg. Ihre Namen sollen nicht in Vergessenheit geraten. Sie kämpft um Anerkennung. Am ehemaligen Wohnhaus soll eine Gedenktafel angebracht werden und sie wünscht sich ein Mahnmal in der Innenstadt. Vor allem muss der Anschlag als ein rechter, rassistischer Anschlag gewertet werden. Die Familien sind im Gespräch mit der Stadt Duisburg.

Sie weiß, dass sie nicht alleine ist, und gibt in einer Audiobotschaft an die Familie Kubaşık anlässlich des Todestages von Mehmet Kubaşık ebenfalls Stärke und Kraft zurück: „Liebe Familie Kubaşık. Meine Gedanken und mein Herz sind bei Euch. Ich wünsche Euch viel Kraft und Solidarität. Euer Schmerz ist mein Schmerz. Fühlt Euch nicht allein.“

— Ali Şirin ist aktiv im Bündnis Tag der Solidarität — Kein Schlussstrich in Dortmund. In LOTTA #81 erschien ein Interview von ihm mit Gamze Kubaşık. Homepage: www.inidu84.de

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