„Dreckschweine“ im „planwirtschaftlichen Superstaat“

Die AfD im Jahr vor der nächsten EU-Wahl

Eineinhalb Jahre vor der nächsten EU-Wahl steigen bei der AfD die ersten Bewerber:innen im Wettrennen um aussichtsreiche Listenplätze in die Startblöcke. Dabei muss die Partei bangen, ob sie überhaupt offiziell in den Kreis der extrem rechten Parteien in Europa aufgenommen wird. Faktisch gehört sie zwar dazu, doch nicht alle möchten sich mit der AfD öffentlich sehen lassen.

Eineinhalb Jahre vor der nächsten EU-Wahl steigen bei der AfD die ersten Bewerber:innen im Wettrennen um aussichtsreiche Listenplätze in die Startblöcke. Dabei muss die Partei bangen, ob sie überhaupt offiziell in den Kreis der extrem rechten Parteien in Europa aufgenommen wird. Faktisch gehört sie zwar dazu, doch nicht alle möchten sich mit der AfD öffentlich sehen lassen.

Etwas mehr als ein Jahr vor den im Frühjahr 2024 stattfindenden Europawahlen ist das AfD-interne Gerangel eröffnet. Die Mandate in Brüssel sind lukrativ. Und das gegenseitige Misstrauen in der Partei groß. Wenn Bundesvorstandsmitglied Maximilian Krah also dieser Tage durch die Lande tingelt, dann, so wird gemutmaßt, sicher vor allem, weil er eine Rückkehr in die Parlamentssessel in Brüssel und Straßburg anpeilt. Ein „Flügel“-Freund arbeitet an der Fortsetzung seiner Karriere. Die Krah-Anhänger haben auch eine Ahnung: Wenn in diesen Tagen der Bundestagsabgeordnete Norbert Kleinwächter zu einer Veranstaltung „Eine bessere Zukunft für Europa“ lädt und die Herren Nicolaus Fest, Gunnar Beck, Alexander Wolf und Frank-Christian Hansel kommen, dann vermuten sie, dass die Verlierer parteiinterner Machtkämpfe nur die Werbetrommel für ihre sogenannte „Werteliste“ rühren und sich mit ihr einen Platz im EU-Parlament sichern wollen. Die AfD ist für sie unwirtlich geworden. Da wächst bei angeblich „Gemäßigten“ die Hoffnung, in Brüssel, weitab vom Schuss, überwintern zu können.

Glaubt man den Umfragen dieses Winters, würde die Gruppe der AfD-Abgeordneten im EU-Parlament wachsen. Bei 14 oder 15 Prozent wird die Partei bundesweit notiert. 2019 hatte sie mit 11,0 Prozent elf Mandate erreicht. Hoffnung schöpft die AfD zudem aus Wahlresultaten in anderen europäischen Ländern. In Frankreich kam Marine Le Pen im zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahl auf 41,5 Prozent, ihr Rassemblement National (RN) bei der Wahl der Nationalversammlung auf 18,7 Prozent. Die Schwedendemokraten erzielten 20,5 Prozent und haben ihr Ziel erreicht: Erstmals regiert in Stockholm eine Rechtskoalition, die von ihrem Votum abhängig ist. In Italien ist ein extrem rechtes Bündnis an der Macht, das sich auf ein Wahlergebnis von 43,8 Prozent und eine satte Mehrheit in beiden Parlamentskammern stützen kann. Wurden bisher mit Polen und Ungarn nur zwei EU-Staaten von Rechtsaußen regiert, so hat sich dieser Einfluss inzwischen deutlich ausgedehnt.

Chronischer Streit

Doch es bleiben Probleme für die AfD. Da ist zum einen der chronische interne Streit. In der laufenden Wahlperiode hatte er zur Folge, dass zwei ihrer anfangs elf EU-Abgeordneten das Weite suchten. Erst ging im Mai 2021 der Heidelberger Lars Patrick Berg. Er sehe keine Basis mehr, „weiter für eine konservative, bürgerliche AfD“ zu kämpfen, ließ er wissen und begründete seine Entscheidung konkret mit dem kurz zuvor gefassten Pro-„Dexit“-Beschluss des AfD-Bundesparteitags. „Töricht“ sei der Aufruf zum Austritt aus der EU, meinte Berg. Zwar benötige die EU dringende Reformen, doch sie bleibe „unser bestes Vehikel zur Erzielung von Sicherheit und Wohlstand“. Bei den Liberal-Konservativen Reformern fand er eine neue politische Heimat. Anfang 2022 ging dann auch AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen. Auch er hatte im Vorfeld seines Abgangs immer wieder Zweifel am Sinn eines Austritts Deutschlands aus der EU geäußert. Unter den verbliebenen neun Abgeordneten herrscht offenbar ebenfalls wenig Eintracht. Öffentlich warf Nicolaus Fest, nach Meuthens Abschied zum AfD-Delegationsleiter aufgestiegen, Mitte letzten Jahres seinem Fraktionskollegen Krah ein „grob fraktionsschädigendes Verhalten in Form der wiederholten Verletzung von Treue- und Loyalitätspflichten“ gegenüber der Fraktion Identität und Demokratie (ID) vor. Krah habe „den politischen Erfolg unserer ID-Partner wie auch den Verbleib der AfD in der ID-Fraktion unmittelbar gefährdet“. Sein Vergehen: Krah soll sich vor der französischen Präsidentschaftswahl nicht für die Rassemblement National-Kandidatin Le Pen, sondern für deren rechten Konkurrenten Éric Zemmour ausgesprochen haben. Krah witterte eine parteiinterne „Intrige“, konnte aber nicht verhindern, dass ihn die eigene Fraktion für einige Monate suspendierte.

Dass ausgerechnet Fest als neuer Delegationsleiter Meuthen beerben und damit das Verdikt gegen Krah verkünden konnte, war im Übrigen eher überraschend gekommen. Wenige Wochen vor seiner Wahl war er unfreiwillig in die Schlagzeilen geraten. In einer WhatsApp-Gruppe der AfD-Abgeordneten hatte er über den kurz zuvor verstorbenen EU-Parlamentspräsidenten David Sassoli notiert, er sei „ein Antidemokrat, eine Schande für jede parlamentarische Idee“ gewesen. Fests Nachruf klang so: „Endlich ist dieses Dreckschwein weg!“

Exit-Forderungen

Ein noch weit größeres Problem stellt für die AfD die „Dexit“-Forderung dar. Bei einem Parteitag im April 2021 hatte eine große Mehrheit der Delegierten für eine Verschärfung des Programms zur Bundestagswahl votiert und formuliert: „Wir halten einen Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union und die Gründung einer neuen europäischen Wirtschafts- und Interessengemeinschaft für notwendig.“ Die Vehemenz, mit der die EU die „Transformation zum planwirtschaftlichen Superstaat“ in den letzten Jahren vorangetrieben habe, lasse die AfD erkennen, dass sich ihre „grundlegenden Reformansätze“ in dieser EU nicht verwirklichen lassen würden. Das traf die Stimmung an der Parteibasis, die schon länger raus aus der EU wollte.

Doch die Karawane der europäischen Rechtsaußenparteien, von denen viele zuvor ebenfalls ein Ende der EU oder zumindest nationale Abgänge gefordert hatten, war längst weitergezogen. Einige von ihnen hatten noch nie etwas von nationalen Exits gehalten, nicht zuletzt weil die Aussicht auf Milliardenzahlungen aus dem doch eigentlich verhassten Brüssel verlockender erschien als jede nationalistische Klarheit. Andere Parteien hatten erkennen müssen, dass sich vollmundige Exit-Forderungen an den Wahlurnen doch nicht wie gewünscht auszahlen. Wieder andere waren zu der Einsicht gelangt, dass die langsamere Lädierung von Rechtsstaatlichkeit, Medien- oder Minderheitenrechten innerhalb der Institution EU wirksamer sein kann als das Verlangen nach einem radikalen Bruch mit ihr. Und nicht zuletzt — so die Hoffnung — kann der Verzicht auf Exit-Forderungen Türen öffnen, wenn es um die Beteiligung an Regierungen auf nationaler Ebene geht.

Als jedenfalls EU-Rechtsaußenparteien, von denen in Brüssel einige der ID-Fraktion angehören, andere der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) und wiederum andere fraktionslos sind, 2021 und 2022 mehrere Anläufe für mehr Einigkeit starteten, musste die AfD außen vor bleiben. Sie wurde schlicht nicht eingeladen zu den Treffen in Budapest, Warschau und Madrid sowie zur Unterzeichnung einer von 16 Parteien getragenen „Erklärung zur Zukunft Europas“. Zwischen Ungarn und Polen, Frankreich und Italien halbwegs tragbare Kompromisse beispielsweise zur Russland- oder zur Wirtschaftspolitik zu finden, war schwer genug — zusätzlich die AfD mit am Tisch zu haben, das wäre eine Überforderung gewesen.

AfD-Exit?

Ein „No-Go“ sei der Dexit-Beschluss, sagte Katalin Novak, Vizechefin der ungarischen Fidesz-Partei. Wer die EU verlassen wolle, komme nicht für eine Zusammenarbeit in Frage. „Auch wir waren mal für einen Frexit“, sagte Jérôme Rivière vom Rassemblement National und empfahl den französischen Weg zur Nachahmung: „Aber wir sind reifer geworden.“ Keiner im Bündnis habe eine Exit-Position. Hermann Tertsch von der spanischen Vox prophezeite: „In naher Zukunft wird es wohl keinen Platz für die AfD in dieser Gruppe geben.“ Zdzislaw Krasnodebski von der polnischen PiS-Partei erkannte Differenzen auch in anderen Fragen: „Wenn ich die Bismarck-Lobreden von Alexander Gauland höre oder so manche Äußerungen von Björn Höcke, dann bin ich skeptisch, dass die Partei in naher Zukunft so weit ist.“ Verstörend sei aus polnischer Sicht auch das Russland-Bild der Partei: „Wir können nicht akzeptieren, dass jemand Putin verehrt.“

Die AfD hatte sich also gründlich isoliert im Kreise der eigentlich doch Gleichgesinnten. Ende März 2022 versuchten die AfD-Europaabgeordneten, sich wieder in die Diskussion über eine Neuformierung der Rechtsaußenparteien in der EU einzuschalten. Sie organisierten eine Veranstaltung zum Thema „Konservative Allianzen in Europa — Motor der EU-Reform: Position und Pläne der AfD für eine künftige neue konservative Allianz im EU-Parlament“. „Das erklärte Ziel vieler konservativer Parteien im EU-Parlament ist eine größere und damit schlagkräftigere Fraktion nach den nächsten Wahlen. Das ist auch für uns als AfD-Delegation der Schwerpunkt unserer Arbeit in den kommenden zwei Jahren“, erklärte Fest nachher. Von einem deutschen Austritt aus der EU war in dem Bericht der Partei über das Treffen nicht mehr die Rede.

„Maximaler Schadensfall“

Vor dem Riesaer Parteitag im Sommer 2022 schlug auch der Brandenburger AfD-Landesvorstand Alarm. So „nötig und nachvollziehbar“ der „Dexit“-Beschluss gewesen sei, so habe er doch dazu geführt, „dass auch programmatisch der AfD nahestehende Parteien anderer EU-Staaten gegenüber der AfD auf Distanz gehen und dieser zunehmend die Möglichkeit genommen wird, Europapolitik auf EU-Ebene konstruktiv und kritisch mitzugestalten“, hieß es aus Potsdam. Der AfD drohe die „internationale Isolation“ — der „maximale Schadensfall“: „Nicht nur wäre die AfD auf europäischer Ebene faktisch jedweder Handlungsmöglichkeit beraubt — auch dem politischen Gegner in Deutschland würde ein solcher Ausschluss der AfD aus der europäischen Parteiengemeinschaft wirkungsvolle Argumente in die Hand geben. Dem dann zweifellos kolportierten Narrativ, die AfD sei für die anderen europäischen konservativ-rechten Parteien zu rechts, wäre argumentativ kaum entgegenzuwirken.“ Die AfD müsse hingegen ein Teil der Bewegung für die Gründung „einer vereinten konservativ-rechten Fraktion im EU-Parlament“ sein. Ausstieg aus der EU oder „Reform“ der EU? Die Brandenburger AfD wollte die Quadratur des Kreises: „Mit zwingender Notwendigkeit“ müsse die Bundes-AfD eine Erklärung im Namen der Partei veröffentlichen, „welche den Einklang und die Vereinbarkeit des Dexit-Beschlusses mit der Reformoffenheit und Bereitschaft zur konstruktiven Mitarbeit in Brüssel erklärt und betont“. Ein entsprechender Antrag wurde freilich beim vorzeitig abgebrochenen Bundesparteitag im vorigen Jahr dann gar nicht erst behandelt.

Doch auch der Parteinachwuchs machte Druck. Die Junge Alternative fordere den AfD-Bundesvorstand auf, sich für eine Mitgliedschaft in der europäischen Identität und Demokratie Partei (IDP) einzusetzen, beschloss ein Bundeskongress Mitte Oktober in Apolda. Zugleich solle die AfD-Spitze „die Kontakte zu anderen rechtspatriotischen Parteien, die nicht der ID-Fraktion und ID-Partei angehören, intensivieren und mit diesen konstruktiv zusammenarbeiten“. Wichtig dabei sei zu betonen, „dass der Dexit-Beschluss der AfD nicht im Widerspruch zu einer solchen konstruktiven Zusammenarbeit steht“. Einmal mehr: Kreise gehören bei der AfD quadriert.

PS: AfD-Delegationsleiter Nicolaus Fest, dem parteiintern Ambitionen auf eine Rückkehr auf die Kandidatenliste nachgesagt werden (siehe oben), ist einem Medienbericht zufolge mittlerweile nach Kroatien umgezogen. Das gehört zwar ebenfalls zur EU — einer Wiederwahl ist der Umzug freilich nicht förderlich.