Drohbrief beim Karneval

Rechte Paramilitärs in Kolumbien

Es ist der 30. Oktober 2022 in Cali, der drittgrößten Stadt Kolumbiens im Südwesten des Landes. Das Viertel Siloé begeht den „Carnaval de Diablitos“. Verkleidet als Teufel und Geister wird auf der Straße gefeiert. Auch Mitglieder des „Tribunal Popular en Siloé“ (TPS) sind dabei. Die zivilgesellschaftliche Initiative arbeitet daran, die Übergriffe und Morde von Polizei und Militär während der großen Sozialproteste von 2021 aufzuklären. Die meisten der Ermordeten lebten in dem marginalisierten Stadtteil Siloé, in dem Armut und Arbeitslosigkeit besonders hoch sind.

Während der Party wird ein Mitglied des Tribunals unerwartet von einem Kind angesprochen. Die beiden kennen sich nicht. Der Junge ist höchstens zehn Jahre alt, steckt dem Aktivisten einen Umschlag zu und verschwindet. Der Brief ist versehen mit dem Logo der Autodefensas Gaitanistas de Colombia (AGC), einem aus rechten Paramilitärs hervorgegangenen großen Drogenkartell. Das Schreiben benennt vier Aktivistinnen und erklärt sie wie auch alle Unterstützerinnen des TPS ab sofort zu „militärischen Zielen“. Die Mitteilung strotzt vor massiven Gewaltandrohungen und Beleidigungen.

Die Morddrohung ist nur ein Beispiel für unzählige Fälle, in denen die extreme Rechte in Kolumbien versucht, soziale Bewegungen einzuschüchtern und ihre Arbeit zu verhindern. Drohschreiben, Überfälle, Entführungen, Attentate — 2022 wurden laut der NGO Front Line Defenders insgesamt 186 Menschen ermordet. Unter den Toten sind Menschenrechtsaktivistinnen, Gewerkschafter­innen, Vertreterinnen indigener Gruppen, Umweltschützerinnen, Journalistinnen, Feministinnen.

Eine Gesellschaft im Krieg

In der von Gewalt geschüttelten Geschichte Kolumbiens sind bewaffnete Strukturen immer relevant gewesen. Bereits 1810 wurde das Land unabhängig von der spanischen Krone. Infolge der erfolgreichen Befreiungskriege unter Simón Bolívar entstand eine Republik. Schon im 19. Jahrhundert bildete sich ein Zwei-Parteien-System heraus, das Kolumbien bis in die Gegenwart prägt. Auf der einen Seite standen die Konservativen. Ihre Macht stützte sich vor allem auf die Großgrundbesitzer, in der Regel vermögende Familien, die oligarchische Strukturen herausbildeten, und auf die katholische Kirche. Dagegen verstanden sich die Liberalen als Vertretung der Bauern und der ärmeren Bevölkerung. Die extrem ungleiche Verteilung von Landbesitz und die große Kluft zwischen arm und reich, die daraus folgt, sind bis heute ein zentrales Konfliktfeld in Kolumbien. In den 1930er Jahren verschärft die Weltwirtschaftskrise die politischen und sozialen Spannungen. Der liberale Präsident López Pumarejo versucht dem mit Verfassungs- und Agrarreformen zu begegnen. Sein Ziel ist es, die halbfeudalen Strukturen und Besitzverhältnisse zu modernisieren, um sie in eine soziale Marktwirtschaft zu überführen. Die Konservativen suchen dies abzuwehren, auch mit Blick auf die sich entwickelnde Kommunistische Partei und die zunehmende gewerkschaftliche Organisierung.

Angeführt werden die Konservativen zu dieser Zeit von Laureano Gómez, der sich offen zu Francisco Franco in Spanien bekennt und sich für Adolf Hitler ebenso begeistert wie für Benito Mussolini. Neben ihnen entstehen in verschiedenen Regionen extrem rechte Zusammenhänge, bilden eine rechte Opposition, orientiert an der spanischen Falange. Sie kooperieren mit den Konservativen und schreiben sich vor allem den Kampf gegen den Kommunismus auf die Fahnen. Ähnlich den italienischen Faschisten gehen auch in Kolumbien Gruppen, von denen sich auch hier eine Schwarze Hemden nennt, im Auftrag der Arbeitgeber gewaltsam gegen gewerkschaftliche Organisierung von Land- und Plantagenarbeiter*innen vor.

La violencia — die Gewalt

Die Gewalt eskaliert, als 1948 Jorge Eliécer Gaitán in Bogotá auf offener Straße erschossen wird. Der Ermordete ist Präsidentschaftskandidat der Liberalen und wird dem linken Flügel zugerechnet. Sofort brechen Unruhen in der Hauptstadt aus; binnen weniger Stunden werden Tausende erschossen. Jetzt beginnt eine Phase, die als „violencia“ (Gewalt) in die kolumbianische Geschichte eingegangen ist. Sie ist von brutalem Terror, Massakern und extremer Gewaltanwendung gekennzeichnet. Zwischen 200.000 und 450.000 Menschen kommen in diesem fast zehn Jahre andauernden Bürgerkrieg zwischen Konservativen und Liberalen ums Leben.

Nun stellen Großgrundbesitzer private bewaffnete Kommandos auf, um ihr Eigentum gegenüber der Landbevölkerung zu behaupten sowie ihren Besitz durch Vertreibung und illegale Landnahme zu vergrößern. Die Kommunistische Partei und große Teile der Liberalen rufen ihre Mitglieder auf, Selbstverteidigungseinheiten zu gründen. In diesen bewaffneten Organisationsstrukturen von Bäuer*innen und Arbeiter*innen liegen die Ursprünge der späteren Guerilla. In einigen Regionen erkämpfen sich Bauernverbände Autonomie und erklären sie zu unabhängigen Republiken.

Instrument der „Aufstandsbekämpfung“

1958 kommt es zu einer Art Burgfrieden. Liberale und Konservative einigen sich, je vier Jahre lang abwechselnd den Präsidenten zu stellen und in den Ämtern zu rotieren. Dieser Pakt hält zwar 16 Jahre, fördert aber Korruption, Seilschaften und Oligarchie innerhalb eines geschlossenen Machtblocks von Liberalen und Konservativen. Soziale Bewegungen, andere Parteien und gesellschaftliche Minderheiten bleiben außen vor. Konflikte werden weiterhin gewaltsam ausgetragen.

1964 geht die kolumbianische Armee in der Republik Marquetalia mit Unterstützung eines US-Aufstandsbekämpfungsteams gegen eine von linken Bauern dominierte Region vor. Dagegen stellen sich mit der sowjetmarxistischen FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens — Volksarmee) und der guevaristischen ELN (Nationale Befreiungsarmee), der maoistischen EPL und der linkspopulistischen M-19 sozialrevolutionäre Guerillabewegungen auf. Sie verstehen sich als Armeen von unten, die Staat und Militär den Krieg erklären — ebenso wie den später entstehenden rechten paramilitärischen Gruppen.

Die kolumbianische Regierung, von der CIA beraten, schafft 1965 mit dem Dekret 3398, das 1968 gesetzlich verankert wird, eine legale Grundlage zur Schaffung paramilitärischer Strukturen. Im Namen der „Aufstandsbekämpfung“ ermächtigt das Dekret die staatlichen Sicherheitskräfte nicht nur, Zivilisten unter ihr Kommando zu stellen, auszubilden und zu bewaffnen; es erlaubt auch die Existenz privater bewaffneter Milizen. Es dient als Instrument zur Ausschaltung politischer Opposition. Unter ihm gedeiht ein „schmutziger Krieg“, der von staatsterroristischen Praxen wie staatlich beauftragten Todesschwadronen ebenso gekennzeichnet ist wie von Straflosigkeit für Staat und Paramilitärs. Zudem verfestigt sich das personelle und strukturelle Geflecht von Polizei, Armee und Paramilitärs.

Zwar wird dieses Gesetz 1982 wieder abgeschafft; die unter ihm entstandenen Verhältnisse aber bleiben in die Gesellschaft eingeschrieben. Insofern, so José Benito Garzón von der Universität de Valle in Cali, sei der ideologische Rahmen des heutigen Paramilitarismus eigentlich die Sicherheitsdoktrin der Armee, bei der es sich eben im Ursprung um eine Aufstandsbekämpfungsdoktrin der Konservativen aus den 1960er Jahren handele.

Von den 1980ern in die Gegenwart

Die heutigen rechten Paramilitärs gehen auf die 1980er Jahre zurück. Damals entstanden verschiedene Strukturen, die gegen Linke und Guerilla vorgingen. Neben der Todesschwadron Acción Americana Anticomunista, die im Umfeld von Polizei und Militär entstand, bildete sich aus dem Drogenmafiamilieu rund um Pablo Escobar die Todesschwadron Muerte a Secuestradores (Tod den Entführern). Sie machte zuerst Jagd auf Entführer*innen von der M-19, die eine Angehörige eines Drogenhändlers in ihre Gewalt gebracht hatten. Schon bald kam es aber zu Entführungen Oppositioneller und zu Morden an der ländlichen Bevölkerung. Der Politikwisenschaftler Raul Zelik verweist darauf, dass es zu regional unterschiedlicher win-win-Kooperation zwischen Drogenhändlerinnen und dem Geheimdienst kam: Der Staat profitierte davon, dass Kartelle gegen die Opposition vorgingen; die Drogenkartelle profitierten davon, dass die Verfolgung gegen sie vernachlässigt wurde.

Gleichzeitig entstanden in ländlichen Regionen im Umfeld von Viehzüchtern und Großgrundbesitzern sogenannte Autodefensas (Selbstverteidiger). Diese gingen gegen Gewerkschafter*innen und Linke vor und schlossen sich in Zusammenarbeit mit Teilen der Drogenmafia von 1997 bis 2006 in den Autodefensas Unidas de Colombia (AUC) zusammen, aus deren Reihen später die AGC entstehen.

Wie rechts sind „rechte Paramilitärs“?

Ideologisch prägend ist der Antikommunismus, verbunden mit einer Abwehr liberaler und demokratischer Politik zu Gunsten eines rechten Konservatismus. Paramilitärs sind eindeutig anti-linke, anti-emanzipatorische Gruppierungen, deren zentraler Feind nach wie vor die als kommunistisch identifizierte Guerilla ist. Weitere rechte Ideologien, wie sie für die extreme Rechte in Europa kennzeichnend sind, spielen eine untergeordnete Rolle. Rassismus ist dort strukturell relevant, wo Paramilitärs gewaltsam territoriale Kontrolle durchsetzen, oft in Gebieten, die indigene oder afrokolumbianische Gemeinden für sich beanspruchen. Deren politische Teilhabe ist in Kolumbien am geringsten; auf einen staatlichen Schutz ihrer Interessen können sie sich in der Regel nicht verlassen. Individuelle rassistische Einstellungen sind selten ein Motiv für paramilitärische Gewalt; auch Menschen mit afrokolumbianischer Abstammung finden sich in den Reihen der „paras“. Hinsichtlich antisemitischer Haltungen ist derzeit nichts bekannt. Dass paramilitärische Gruppen Männerbünde sind, liegt auf der Hand. Rekrutiert, oft unter gewaltsamem Zwang, werden männliche Jugendliche. Homosexualität ist in einigen Gebieten, die von Paramilitärs kontrolliert werden, nicht nur verpönt, sondern de facto verboten. Feministinnen sind oft ein besonderes Feindbild. Bekannt sind viele Fälle, in denen Paramilitärs mit brutaler sexualisierter Gewalt gegen Frauen vorgegangen sind.

Als Gruppierung, die sich als verlängerter Arm von Polizei und Militär herausbildete, sind die Paramilitärs als Kriegspartei auf Seiten der Rechten zu verstehen. Garzón charakterisiert paramilitärische Gruppen daher wie folgt: „Sie sind eine Struktur, die gar keine politischen Ziele hat. Deswegen ist der Begriff rechte Paramilitärs eigentlich falsch. Sondern die Rechten im Land, die ökonomischen Eliten im Land, nehmen sie unter Vertrag, damit bestimmte Gebiete von ihnen kontrolliert werden statt von der Linken oder Basisorganisationen. Sie sind Auftragsmörder, sie sollen Linke und Basisorganisationen ausschalten. Ökonomische Kontrolle bedeutet auch, linke politische Organisationsprozesse zu verhindern oder zu zerschlagen. Insofern ist dieses Gewaltunternehmertum, wie ich es bezeichnen würde, auch Teil eines politischen Projekts. Man kann sagen, das ist der Funktionsmodus der Paramilitärs, ihre Struktur seit den 80er Jahren.“ Ergänzend verweist Zelik darauf, dass die Gewalt der Paramilitärs vor allem Kleinbauern und Bewohner*innen von Armenvierteln trifft, daneben einige Linke aus der Mittelschicht. Er spricht deshalb von einem „Klassenterrorismus“.

Gewaltunternehmerische Praxis

Gegenwärtig müssten paramilitärische Gruppen als Teil eines größeren paramilitärischen Komplexes verstanden werden, erläutert der Friedensaktivist Camilo González Posso. Im Interesse ihrer Auftraggeber geht es um Ordnungsfunktionen, um die Durchsetzung oder den Erhalt territorialer Kontrolle in ökonomisch relevanten Gebieten. Ob Kommunalpolitiker*innen, Umweltschutzgruppen oder Nachbarschaften — potentielle Kritikerinnen werden eingeschüchtert und mundtot gemacht.

Für die Gewalt gegen Aktivist*innen bedeutet dies etwa, so Leonardo González Perafán von Indepaz, dass „die bewaffnete Gruppe zwar die Ermordung eines Aktivisten übernimmt, doch der Tod dieser Person, die sich beispielsweise für die Rückgabe der von Agrarunternehmen geraubten Ländereien oder den Schutz von Wasserquellen vor dem Bergbau einsetzt, oft im Interesse von stramm anti-linken Einzelakteuren beispielsweise innerhalb des Militärs oder lokaler Mächte ist. Diese Akteure zahlen den ’Gefallen‘ der Ermordung mit einem anderen zurück, beispielsweise indem sie ein Auge zudrücken, wenn Drogen durch eine Region geschmuggelt oder illegal Bergbau betrieben werden.“

So erlangen „Paras“ das Sagen in bestimmten Gebieten. Staatliche Strukturen sind dann wirkungslos, teilweise kooperieren sie oder sind vollständig abwesend, gerade in sehr abgelegenen Regionen. Teils übernehmen paramilitärische Strukturen auch soziale Funktionen. Sie bezahlen ihre Mitglieder, versorgen deren Familien, sind Arbeitgeber im wirtschaftlich wichtigsten Sektor des Landes, dem narcotraffico (Drogenhandel). Nach wie vor werden rund 70 Prozent des weltweit gehandelten Kokains in Kolumbien produziert. Der Terror gegen unliebsame zivilgesellschaftliche Akteure ist also nur ein Geschäftszweig des „Gewaltunternehmertums“; Geldwäsche und -verleih, Wettbüros, Schutzgeld, Waffenhandel, Organisation von Gangs in den Städten gehören ebenso dazu.

Kolumbiens erster linker Präsident

Kolumbien erlebt 2021 die größten und längsten Sozialproteste seiner Geschichte. Die Unzufriedenheit richtet sich gegen den rechten Präsidenten Iván Duque Márquez. Medial versucht die Rechte, die Proteste als kriminell zu diffamieren. Auf der Straße gehen Polizei, Militär und „Paras“ mit massiven Repressalien gegen die Kundgebungen vor. In den ersten zwei Wochen der Proteste werden allein in Cali 45 Menschen ermordet, landesweit sind es Hunderte.

Im Juni 2022 kommt es zu einem historischen Ereignis: In der Folge des Protestes wird mit Gustavo Petro erstmals ein linker Kandidat Präsident Kolumbiens. Zudem wird mit Francia Márquez eine Afrokolumbianerin und Basisaktivistin zur Vizepräsidentin. In dem Land, in dem über 60 Jahre lang ein Bürgerkrieg tobte, haben sich beide Großes vorgenommen. Neben dringend notwendigen Reformen in der Sozial- und Gesundheitspolitik ist der paz total, der „vollständige Frieden”, das wichtigste Projekt. Vorgesehen sind Verhandlungen über einen Friedensschluss mit den verbliebenen linken Guerilla-Gruppen wie der ELN, den rechten Paramilitärs und Kartellen sowie einflussreichen kriminellen Banden. Auch der Friedensprozess mit der FARC soll fortgesetzt werden. Ziel ist es außerdem, die Verflechtungen zwischen Staat und „Paras“ aufzulösen.

Das Projekt ist allerdings schnell ins Straucheln geraten. Scheinbar voreilig verkündete die Regierung ein Waffenstillstandsabkommen mit der ELN, die umgehend dementierte. Die Verhandlungen werden derzeit weitergeführt. Anders sieht es mit den Verhandlungen mit den AGC aus. Expert*innen hatten gewarnt, diese könnten nur von kurzer Dauer sein; eine Wiederbewaffnung sei jederzeit möglich und auch sehr wahrscheinlich. Tatsächlich kam es im März 2023 erneut zu bewaffneten Angriffen im Norden Kolumbiens — unter Beteiligung der AGC. Die Regierung kündigte daraufhin die Verhandlungen auf und wies die Sicherheitskräfte an, „alle Militäroperationen“ wieder aufzunehmen.

Wahrheit und Gerechtigkeit

Während die AGC im letztgenannten Fall fraglos involviert waren, stritten sie eine Beteiligung an den Drohungen gegen das TPS offiziell ab. Ob sich bei dem Schreiben andere des AGC-Logos bedient haben, um eigene Zwecke zu verfolgen, ob die AGC Aufträge an Banden oder Auftragsmörder „out­gesourct“ hat, ob sie schlichtweg lügt — diese Fragen bleiben für die Aktivist­*innen des Tribunals in Siloé Spekulation.

Unbeeindruckt von den Drohungen haben sie in einer symbolischen Urteilsverkündung hochrangige Politiker, Militärs, Polizisten des Mordes und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen. Die Drohungen interpretieren sie als Beweis dafür, den Finger in die Wunde gelegt zu haben und in der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit auf dem richtigen Weg zu sein.

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