Mitte/Rechts

Das Verhältnis von Konservativismus und Rechtsaußenparteien

In welchem Verhältnis stehen die Erfolge und der Aufstieg von Rechtsaußenparteien und die Entwicklung des Mainstream-Konservatismus? Radikalisieren sich durch das Erstarken und den zunehmenden Einflussgewinn autoritärer Kräfte die gemäßigten Mitte-Rechts-Parteien oder schrumpfen oder verschwinden sie gar? Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Thomas Biebricher zu seinem neuen Buch.

In welchem Verhältnis stehen die Erfolge und der Aufstieg von Rechtsaußenparteien und die Entwicklung des Mainstream-Konservatismus? Radikalisieren sich durch das Erstarken und den zunehmenden Einflussgewinn autoritärer Kräfte die gemäßigten Mitte-Rechts-Parteien oder schrumpfen oder verschwinden sie gar? Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Thomas Biebricher zu seinem neuen Buch.

Herr Biebricher, in Ihrem neuen Buch mit dem Titel „Mitte/Rechts. Die Internationale Krise des Konservatismus“ beschäftigen Sie sich mit der Krise des Konservatismus und dem Aufstieg von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus. Sie stellen die These auf, dass die Krise des liberalen Konservatismus eine wesentliche Ursache für den Vormarsch von Rechtsaußenparteien darstellt. Lassen sich eindeutige Trennungsmerkmale zwischen liberalem und traditionellem Konservatismus überhaupt ausmachen?

Biebricher: Wenn man etwa auf den deutschen Kontext blickt, dann scheinen mir inhaltlich die Unterschiede zwischen einem Alt-Konservatismus des Kaiserreichs und dem Jung-Konservatismus der Zwischenkriegszeit einerseits und andererseits dem Liberalkonservatismus, der sich in der Nachkriegszeit bis in die 60er und 70er Jahre hinein entwickelt, recht deutlich zu sein. Die Vorbehalte des Alt-Konservatismus gegen Demokratie, Liberalismus und Technik sind in der deutschen Traditionslinie besonders ausgeprägt und die Jungkonservativen verbinden mit diesen Vorbehalten zudem ein geradezu revolutionäres Politikverständnis, dem es weniger um das Bewahren als um die neuschöpfende Überwindung des Bestehenden ging. Mit all dem bricht der gemäßigte Liberalkonservatismus recht überzeugend und setzt sich ins mehr oder weniger zähneknirschende Benehmen mit der liberalen Demokratie, kapitalistisch getriebener technischer Innovation, unter Abschwörung aller umstürzlerischen Phantasien im Namen staatstragender Stabilität.

Politikwissenschaftler*innen wie Chantal Mouffe vertreten dagegen die These, dass es gerade die fehlende Unterscheidbarkeit unversöhnlicher Gegensätze zwischen links und rechts sei, was den Aufstieg des rechten Populismus begünstige. Was halten Sie von dieser These?

Biebricher: Der Aufstieg rechtspopulistischer oder besser autoritärer Kräfte hat eine ganze Reihe von Ursachen, zu denen auch die Neoliberalisierung von nominellen Mitte-Links-Parteien im Zuge des ‚Dritten Weges‘ gehört, die ja einen Aspekt der von Mouffe beklagten Vermittung bezeichnet. Wo alle politischen Akteure in Richtung Mitte streben, entsteht der Eindruck der Alternativlosigkeit. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Österreich, das Land langjährig geradezu institutionalisierter Großer Koalitionen, zu den ersten westeuropäischen Kontexten gehört, in denen eine autoritäre ‚Alternative‘ in Form der damaligen Haider-FPÖ auf der nationalen Bühne Ende der 1999er Jahre reüssieren konnte. Mein Punkt lautet zum einen, dass das Vakuum, das geschwächte oder verschwindende gemäßigt konservative Kräfte hinterlassen, zumeist von Akteuren des rechten Randes gefüllt wird und sie dadurch gestärkt werden, und dass gemäßigt konservative Kräfte durch die Normalisierung autoritärer Positionen und Rhetorik nicht nur mittelfristig sich selbst schwächen, sondern auch deren Aufstieg befördern.

Sie beschreiben den Niedergang des liberalen Konservatismus anhand von drei Beispielen. Ausführlich zeichnen Sie dazu die politischen Entwicklungen in Italien, in Frankreich und in Großbritannien nach. Beim Lesen offenbart sich das ganze Elend des Zerfalls demokratischer Politik und Ethik. Es können Zweifel aufkommen, ob das Ruder angesichts dieser katastrophalen Entwicklungen überhaupt noch umgelegt werden kann. Sehen Sie dazu den liberalen Konservatismus als die letzte Rettung an?

Biebricher: Ich hoffe, es hängt nicht nur am gemäßigten Konservatismus, denn zu allzu großer Zuversicht gibt da das internationale Panorama ja keinen Anlass, wo diese Akteure verschwinden oder sich radikalisieren und die vermeintlichen Brandmauern reihenweise zu bröckeln beginnen, so es sie denn überhaupt gab. Nichtsdestotrotz komme ich in der vergleichenden Betrachtung zu der Schlussfolgerung, dass dieser konservativen Krise keine Zwangsläufigkeit zugrunde liegt. Aber es bedürfte politischen Mutes, politischer Phantasie und eines überzeugenden Führungspersonals, um die gemäßigt konservativen Kräfte wieder in die Spur zu bringen.

Weshalb haben Sie gerade diese Länder herangezogen und nicht etwa Beispiele aus Skandinavien oder Osteuropa? Oder dem nur noch zum Kopfschütteln führenden Wiederaufstieg der österreichischen FPÖ unter Herbert Kickl?

Biebricher: Es sind drei westeuropäische Fälle, weil dadurch die Vergleichbarkeit gegeben ist, was anders wäre, wenn etwa ein post-kommunistisches Land dabei wäre, weil hier die Zäsur von 1989 eine ganz andere Bedeutung hat. Diesen Gemeinsamkeiten stehen aber auch gewichtige Unterschiede gegenüber, etwa was das Regierungs- und Wahlsystem, aber auch die jeweiligen konservativen Traditionen angeht. Das heißt, es ließ sich so überprüfen, ob es Dynamiken und Erklärungsfaktoren gibt, die sich trotz all dieser Unterschiede in allen drei Fällen antreffen lassen und so auch — prima facie — verallgemeinerbar sind, was aber nur ansatzweise der Fall ist. Die drei Länder gehören darüber hinaus zu den einflussreichsten europäischen Ländern. Deswegen hat das, was hier passiert, noch einmal eine andere gesamteuropäische Signifikanz als die Verschiebungen im österreichischen Parteiensystem. Wobei die Entwicklungen dort — die ich im Übrigen durchaus besorgniserregend finde, da man dort ja fest davon auszugehen scheint, dass der nächste Kanzler Herbert Kickl heißt — zudem auch schon Gegenstand einer Vielzahl von Studien sind.

Aufmerksamen Leser*innen sind Sie als profunder Analytiker des Neoliberalismus bekannt, in Ihrem neuen Werk findet sich hingegen weniger wirtschaftliche Analyse als beschreibende Schilderung des Politikbetriebs. Stimmt der Spruch „It’s the economy, stupid!“ nicht mehr?

Biebricher: Es stimmt, dass der Schwerpunkt hier ein etwas anderer ist, wobei Austeritätspolitik, Finanzkrise, das neoliberale Erbe der Thatcher-Ära, aber auch die marktliberale Ausrichtung beim frühen Front National, der Lega Nord und natürlich Forza Italia ja durchaus behandelt werden. Ich finde die Frage aber auch deshalb interessant, weil eine Verschiebung, die sich zumindest in Frankreich und Großbritannien sehr gut beobachten lässt, tatsächlich die des Konflikt-Terrains in Richtung einer Kulturalisierung beziehungsweise einer ‚Entökonomisierung‘ gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ist, die vor allem von rechtskonservativen Akteuren betrieben wird. Ich führe das unter anderem darauf zurück, dass konservative Parteien zunehmend Schwierigkeiten haben, sich wirtschafts- und finanzpolitisch von tendenziell neoliberalisierten Mitte-Links-Parteien erkennbar abzusetzen. Hinzu kommt, dass die Wirtschafts- und Finanzpolitik eben auch immer wieder hohe politische Kosten verursacht, wenn man sich etwa an einer (neoliberalen) Rentenreform versucht, bei der sich vor Macron schon eine ganze Reihe von konservativen Präsidenten und Regierungschefs eine blutige Nase geholt haben. Die Politik des Kulturkampfes ‚kostet‘ dagegen wenig, verspricht Aufmerksamkeit und Empörungspotential und sie bietet Konservativen Zugang zu Milieus, die etwa die Tories nie für ihre Austeritätspolitik wählen würden, aber für deren harte Haltung in der Migrationspolitik, das Brexit-Versprechen, die Kontrolle zurückzugewinnen („Take back Control“), und die Bekämpfung einer vermeintlichen „Cancel Culture“. Gerade für sich radikalisierende Konservative scheint daher zu gelten: It’s the culture, stupid!

Zurück zu Ihren Länderbeispielen im Buch: Während Sie den Zerfall der ehemaligen Volksparteien in Italien ausführlich beschreiben, sieht man in Ihren Beschreibungen der Entwicklungen in Großbritannien, dass sich dort die konservative Partei mit innerer Radikalisierung bislang am Ruder gehalten hat. Was schließen Sie aus diesen unterschiedlichen Entwicklungen?

Biebricher: Das belegt noch einmal, dass wir es in den diversen Fällen mit Entwicklungen zu tun haben, die keineswegs uniform verlaufen, sondern auch durch teils höchst kontingente und kontextspezifische Faktoren geprägt sind — mit Blick auf Großbritannien eben durch die ungewöhnlich ausgeprägte europapolitische Konfliktlinie und den Brexit. Der triumphale Wahlsieg Boris Johnsons 2019, bei dem auch Hochburgen der Labour Party in Mittel- und Nordengland gewonnen wurden, erklärt sich ja ein gutes Stück weit durch den Brexit-Effekt: Gerade die Labour-Wahlkreise, in denen mehrheitlich für den Austritt gestimmt wurde, votierten nun für die Tories, mutmaßlich um sicherzustellen, dass dieser Austritt nun auch vollzogen würde. Aber dennoch sind die Tories in einer veritablen Krise, die auf die Selbstradikalisierung im Zuge des Brexits, die Auseinandersetzung mit der UK Independence Party (UKIP) und die damit einhergehenden parteiinternen Kämpfe zurückzuführen ist. Die ersten zählbaren Belege liegen seit Anfang Mai vor, als die Tories eine recht herbe Niederlage bei den Kommunalwahlen einstecken mussten. Der Abstand zwischen Labour und Tories in den Umfragen, der am Ende von Liz Truss’ kurzer Katastrophen-Amtszeit bei etwa 30 Prozentpunkten lag, ist zwar mittlerweile etwas geschrumpft, aber man braucht schon viel Optimismus, um auf einen Tory-Sieg bei den nächsten Wahlen zu setzen. Und falls es tatsächlich zum Machtverlust kommen sollte, prognostiziere ich, dass sich das auto-destruktive Potential, das sich bei den Tories aufgebaut hat, mit voller Kraft entlädt — mit unbestimmtem Ausgang für die Partei.

Gerade aus Ihren Beschreibungen über die Entwicklungen in Italien und Frankreich fällt auf, dass der Rechtstrend dort einhergeht mit dem Niedergang linker Parteien. Spielt das nicht auch eine große Rolle für den rechtspopulistischen Aufstieg?

Biebricher: Dies gehört ganz sicherlich zu den Erklärungsfaktoren. Ich bin allerdings der Meinung, dass dem Niedergang der Sozialdemokratie mit all ihren Folgen schon mehr als genug Aufmerksamkeit zuteil geworden ist, wohingegen die Rolle von Mitte-Rechts-Parteien in diesem Prozess in meiner Wahrnehmung noch nicht ausreichend gewürdigt beziehungsweise problematisiert wurde. Ein Aspekt, den man im Hinblick auf den Niedergang und die Transformation linker Parteien übrigens nicht übersehen darf, ist die Tatsache, dass sich beispielsweise in den skandinavischen Ländern auch die sozialdemokratischen Parteien stärker auf Migrationspolitik und kulturelle Themen fokussieren, was auch dort Wasser auf die Mühlen der Rechten leitet.

In Ihrer ausführlichen Einleitung sowie im Schlussteil gehen Sie auch auf die Entwicklungen in Deutschland ein, im Hauptteil nicht: Warum? Wegen Ihrer vorhergehenden Bücher oder weil Sie die getroffene Länderauswahl für wichtiger als die politischen Entwicklungen in Deutschland halten?

Biebricher: Tatsächlich habe ich mich ja vor nicht allzu langer Zeit ausführlich mit der Entwicklung des deutschen Konservatismus auseinandergesetzt. Mir ging es nun gerade darum, diese Analyse und die damit einhergehende Diagnose einer Erschöpfung des deutschen Konservatismus in einen größeren Kontext einzuordnen — und womöglich auch zu relativieren. Denn bei allen Krisenerscheinungen, die sich auch hier verzeichnen lassen, steht die deutsche Christdemokratie im internationalen Vergleich ja immer noch gut da. Und bei aller berechtigten Kritik und Sorge über eine Radikalisierung sind die entsprechenden Tendenzen bislang im Vergleich zu dem, was in Großbritannien, Frankreich und Italien passiert ist, noch überschaubar — wobei ich das keineswegs kleinreden will.

Abschließend noch die Bitte um einen Blick in die Glaskugel in Bezug auf Deutschland: Laut Prognosen steht die AfD bei den anstehenden Wahlen in Ostdeutschland hoch im Kurs. Hält nach Ihrer Einschätzung das christdemokratische Versprechen eines Cordon sanitaire gegenüber der Rechtsaußenpartei? Kann Friedrich Merz überhaupt noch als liberaler Konservativer eingeordnet werden? Lassen sich Ihre Thesen zur internationalen Krise des Konservatismus eigentlich auch auf Deutschland übertragen?

Biebricher: Mit Blick auf die Landtagswahlen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen im kommenden Jahr schwant mir nichts Gutes. Das dürfte auch zum Problem für Merz werden, da mit einer weiteren Rechtsdrift der dortigen CDU-Landesverbände zu rechnen ist, die sich immer stärker der AfD annähern werden. Merz wird das meiner Ansicht nach nicht verhindern können — vielleicht sogar stillschweigend gutheißen. Es wird sich dann zeigen, ob der Vorsitzende — im Gegensatz zu seiner Vor-Vorgängerin Annegret Kramp-Karrenbauer über ausreichend Autorität verfügt, um den Nicht-Kooperationsbeschluss — jedenfalls was Regierungskoalitionen und Duldungen angeht — durchzusetzen. Bekanntlich gibt es in den dortigen Landesverbänden durchaus Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Verbots einer Zusammenarbeit mit der AfD. Wo genau Merz selbst steht, vermag ich nicht zu sagen. Was ich aber feststelle, ist, dass er bis jetzt nicht in der Lage war, der Partei eine halbwegs klare Ausrichtung in die eine oder andere Richtung zu geben. Und angesichts dieser Unbestimmtheit, die sich ja auch als Teil eines Erschöpfungssyndroms verstehen lässt, ist es trotz der komfortablen Umfrageergebnisse der CDU auf Bundesebene und einem sehr wahrscheinlichen Sieg der CSU bei den bayrischen Landtagswahlen dieses Jahr nicht ausgeschlossen, dass auch die Union mittelfristig von Schwindsucht und Selbstradikalisierung bedroht ist. Aber wie gesagt: Auch wenn es genug Anlass zur Besorgnis gibt, sehe ich keinen Grund für Fatalismus.

Vielen Dank für das Interview!

*Prof. Dr. Biebricher ist Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Politische Theorie. Seit 2022 Heisenberg-Professor für Politische Theorie, Ideengeschichte und Theorien der Ökonomie, Neoliberalismus in Theorie und Praxis, die Europäische Union, Konservativismus.
Neueste Buchveröffentlichung: Mitte/Rechts: Die internationale Krise des Konservatismus. Berlin: Suhrkamp 2023.

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„The social contract is broken“

Über Abolitionismus, die Verbundenheit von Kämpfen und Alternativen zur Polizei

Nach dem Mord an Mouhamed Lamine Dramé durch die Dortmunder Polizei am 8. August 2023 (vgl. LOTTA #88, S. 8) rückten nicht nur die Opfer tödlicher Polizeigewalt (siehe LOTTA #78) in den Fokus, es gründete sich auch eine lokale „Defund the Police“-Gruppe, die Fragen nach emanzipatorischen Alternativen zur Polizei stellt. „Defund the police Dortmund“ sprach für LOTTA mit Vanessa E. Thompson und Daniel Loick, den Herausgeber*innen des Readers „Abolitionismus“. Abolitionismus bezeichnet sowohl einen theoretischen Ansatz als auch eine politische und soziale Bewegung, die die Überwindung staatlicher Gewaltinstitutionen wie Gefängnis und Polizei fordert und alternative Praktiken erprobt.