Ab in die Wüste

Rassismus in Tunesien und die Flüchtlingsabwehr der EU

Tunesiens Präsident Kaïs Saïed bläst zur Jagd auf Migrant*innen, lässt Flüchtlinge in die Wüste deportieren — mit der Folge, dass Dutzende dort verdursten — und schließt einen Flüchtlingsabwehrdeal mit der EU.

Der 21. Februar 2023 war der Tag, an dem Kaïs Saïed auch in Europa Schlagzeilen machte. Tunesiens Präsident hatte den Nationalen Sicherheitsrat zusammengerufen, um gegenüber den Flüchtlingen aus afrikanischen Staaten südlich der Sahara, die sich in seinem Land aufhielten, einen neuen Kurs festzuklopfen. „Horden illegaler Migranten“ seien nach Tunesien eingedrungen, wetterte Saïed; sie hätten „Gewalt, Verbrechen und inakzeptables Verhalten“ eingeschleppt. Schlimmer noch: „Es gibt einen verbrecherischen Plan, die Zusammensetzung der demografischen Landschaft Tunesiens zu verändern“, raunte Saïed; finstere Mächte suchten Tunesien „zu einem gewöhnlichen afrikanischen Land zu machen“ und seinen Charakter als „Mitglied der arabischen und islamischen Welt“ zu zerstören. „Einige Individuen“ hätten sogar „gewaltige Mengen an Geld erhalten, um Migranten von südlich der Sahara zu beherbergen“. Der Präsident schloss seine wüsten Tiraden mit der Aufforderung, es sei nötig, dem Treiben „schnell ein Ende zu setzen“.

Saïeds Auftritt rief national wie auch international heftige Reaktionen hervor. Liberale und linke Spektren in Tunesien waren entsetzt. „Das ist ein rassistischer Ansatz, ganz wie die Kampagnen in Europa“, stellte Romdhane Ben Amor, Sprecher des Forum Tunisien pour les Droits Économiques et Sociaux (FTDES, Tunesisches Forum für die wirtschaftlichen und sozialen Rechte), empört fest. Hocherfreut gab sich Éric Zemmour, extrem rechter Kandidat bei der französischen Präsidentenwahl im Frühjahr 2022: Endlich begännen „die Länder des Maghreb selbst, wegen der Migrationswelle Alarm zu schlagen“, twitterte er. Blankes Entsetzen dagegen erfasste so manchen Migranten: „Ich kann es einfach nicht glauben, dass der Präsident so etwas wirklich gesagt hat“, äußerte ein Mann aus einem Land südlich der Sahara, der seit acht Jahren ganz legal in der tunesischen Hafenstadt Sfax lebte, im Gespräch mit einer Korrespondentin der französischen Tageszeitung Le Monde. Diverse europäische Medien gaben Saïeds Äußerungen erkennbar indigniert wieder.

Miserable Perspektiven

Um die Bedeutung und die Folgen der präsidialen Hetze genauer einschätzen zu können, lohnt es, zunächst einmal ein paar Schritte zurückzutreten und die jüngere Entwicklung wie auch die aktuelle Lage in Tunesien in den Blick zu nehmen. Das Land, in dem um die Jahreswende 2010/2011 mit der Protest-Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi und mit dem Sturz des höchst repressiv herrschenden Langzeitpräsidenten Zine el Abidine ben Ali der sogenannte Arabische Frühling seinen Anfang nahm, galt eine Zeitlang als Hoffnungsträger in Nordafrika, hat aber nie wirklich aus seiner Krise herausgefunden. Ökonomisch dient Tunesien vor allem als Standort für technologisch wenig anspruchsvolle Niedriglohnarbeiten europäischer Unternehmen; Kfz-Zulieferer lassen dort Kabelbäume zusammenstecken, Steiff lässt Plüschtiere für die Kinderzimmer gut betuchter europäischer Familien nähen. Tunesiens Wirtschaftsleistung war 2021 niedriger als 2011; ein Viertel der rund zwölf Millionen Einwohner*innen ist in Gefahr, schon bald nicht mehr genug Nahrung zu haben, zumal die Lebensmittelpreise stark steigen. Die Perspektive? Miserabel.

Der verbreitete Frust über die perspektivlose Lage und über die grassierende Korruption in der tunesischen Politik hat im Oktober 2019 Saïed ins Amt des Präsidenten gespült. Bis dahin vor allem als Verfassungsrechtler bekannt, galt der Quereinsteiger manchen als hoffnungsvoll stimmende Alternative zum politischen Establishment. Die Stichwahl am 13. Oktober 2019 gewann er gegen einen als korrupt geltenden Geschäftsmann mit beeindruckenden 72,7 Prozent. Die Hoffnung, unter seiner Präsidentschaft könnten sich die Dinge in Tunesien zum Besseren wenden, trog jedoch. Die Wirtschaft kam nicht im Geringsten auf die Beine, und die Bevölkerung war auch von Saïeds politischem Kurs bald überhaupt nicht mehr angetan. Der Präsident entließ im Juli 2021 die Regierung und suspendierte das Parlament — ein Schritt, den viele offen als Staatsstreich einstuften. Im Dezember 2022 und im Januar 2023 ließ Saïed Parlamentswahlen abhalten; die Wahlbeteiligung erreichte aussagekräftige 11,4 Prozent. Dem Wahlfiasko folgte eine Welle der Repression; Saïed ließ einflussreiche Oppositionspolitiker inhaftieren, und der Druck auf Gegner des Präsidenten nahm stetig zu.

Anschwellender Rassismus

Deutlich zugenommen hat in Tunesien in den vergangenen Jahren auch der Rassismus. Das Land war das erste in der arabisch-islamischen Welt, das die Sklaverei abschaffte — bereits im Jahr 1846; und dennoch existieren rassistische Ressentiments gegenüber Schwarzen, die einst als Sklavinnen gehandelt wurden, bis heute fort. Bestärkt wurden sie durch den kolonialen Rassismus, der mit der französischen Kolonialherrschaft ab 1881 über Tunesien hereinbrach. Im Jahr 2018 hat Tunis — nicht zuletzt mit Blick auf die schwarzen Tunesierinnen, die mehr als zehn Prozent der Bevölkerung stellen — ein Gesetz verabschiedet, das Strafen für rassistische Diskriminierung vorsieht. Der Erfolg ist jedoch, vorsichtig formuliert, gemischt. In Tunesien leben nach unterschiedlichen Angaben Zehntausende, womöglich sogar eine sechsstellige Zahl an Menschen aus Ländern südlich der Sahara, viele von ihnen mit legalem Aufenthalt — als Studierende, als reguläre Arbeitskräfte –, andere prekär; unter ihnen befinden sich nicht wenige, die eigentlich nach Europa übersetzen wollen, daran aber bisher gescheitert sind. Sie beklagen — wie auch schwarze Tunesierinnen — schon seit Jahren, dass rassistische Übergriffe auf sie zunehmen, dass sie immer öfter beleidigt, angespuckt, auch physisch angegriffen werden. Eine Restaurantbesitzerin in Tunis, die aus Côte d’Ivoire kam und seit 13 Jahren in Tunesien lebte, berichtete Le Monde Anfang Februar 2023, Vermieterinnen erhöhten ihre Mieten, sobald schwarze Interessentinnen auftauchten, durchaus auch mal auf das Doppelte. Ende 2018 wurde mit dem Parti Nationaliste Tunisien (PNT) eine Partei in das dafür vorgesehene Register eingetragen, die Hetze gegen Schwarze als Markenkern hat. Zwar ist sie selbst noch recht schwach; sie trägt jedoch kräftig dazu bei, Rassismus zu schüren — und so kam es, dass Anfang Januar der ehemalige Parlamentsabgeordnete und Minister Mabrouk Korchid es für angesagt hielt, im Interview mit einem bekannten tunesischen Radiosender vom „Großen Austausch“ („Grand Remplacement“) zu schwadronieren. Das war das Stichwort, das schließlich Präsident Saïed am 21. Februar aufgriff.

Mit dem Anschwellen des allgemeinen Rassismus gingen auch immer mehr Attacken auf Flüchtlinge einher, die auf dem Weg nach Europa in Tunesien festsaßen. Flüchtlinge wurden geschlagen, ausgeraubt, aus ihren Wohnungen geworfen — in der zutreffenden Annahme, wer sich ohne legalen Status im Land aufhalte, werde sicherlich nicht die Polizei einschalten. Anfang 2023 startete die PNT eine Online-Petition, die eine Abschiebung aller Flüchtlinge forderte; bis Mitte Februar hatten diese mehr als 50.000 Personen unterzeichnet. Dass die EU Druck auf die tunesischen Behörden ausübte, Flüchtlinge nicht per Boot in Richtung Europa abreisen zu lassen, machte die Lage nicht besser. Bereits 2022 berichteten Flüchtlingshelferinnen, die tunesische Küstenwache greife gegen Bootsflüchtlinge immer häufiger zu brachialer Gewalt. Am 16. Februar 2023 beklagten tunesische Menschenrechtler*innen, binnen einer Woche seien rund 300 Flüchtlinge festgenommen worden. Tags darauf warnte ein Verband von Studierenden aus Ländern südlich der Sahara seine Mitglieder, stets ihre Papiere mit sich zu führen: Die Behörden nähmen es mit Festnahmen und Abschiebungen, abgesehen von der Hautfarbe der Opfer, nicht sehr genau.

Gewalt gegen Flüchtlinge

Das war der Hintergrund, vor dem Saïeds wohl gezielt publizierte rassistische Attacke auf Flüchtlinge aus Ländern südlich der Sahara eine noch viel größere Welle staatlicher wie auch privater Gewalt entfesselte. Als sich in den Tagen nach dem 21. Februar die Berichte über physische Angriffe auf Flüchtlinge zu häufen begannen, versuchte sich Human Rights Watch (HRW) mit Hilfe detaillierter Interviews mit 16 Personen, die aus West- oder Zentralafrika nach Tunesien gekommen waren, einen genaueren Überblick über die Lage zu verschaffen. Von den 16 Personen berichteten 13, sie seien seit dem 21. Februar offen diskriminiert, ausgeraubt oder überfallen worden. Elf waren aus ihren Wohnungen geworfen worden, zwei hatten sie in heller Panik aus eigenem Antrieb verlassen. Von den neun Personen, die zuvor eine Arbeitsstelle besaßen, waren acht fristlos gekündigt worden und hatten auf einen Schlag alle ihre Einkünfte verloren. Fast alle berichteten, sie lebten wegen der vielen Attacken in ständiger Furcht und trauten sich kaum noch auf die Straße. Dies übrigens auch, weil immer mehr Schwarze aufgegriffen und zuweilen abgeschoben wurden, oft auch Menschen, die reguläre Aufenthaltstitel für Tunesien besaßen.

Bereits bis Mai war die Zahl der seit Jahresbeginn Festgenommenen auf 3.500 in die Höhe geschnellt. Besonders betroffen war die Hafenstadt Sfax, mit rund 300.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes, die einerseits der wichtigste Ablegepunkt für Boote mit Ziel Europa ist, andererseits aber auch Anlaufstelle für zahlreiche Armutsflüchtlinge aus den ländlichen Regionen in Tunesiens bitter darbendem Süden. Die Enge in manchen heruntergekommenen Stadtvierteln von Sfax und der Mangel an Erwerbsarbeit trugen alles andere als dazu bei, die Lage zu entspannen. Die Gewalt spitzte sich zu; in der Nacht vom 22. auf den 23. Mai wurde in der Stadt bei einem Überfall von sieben Tunesiern auf ein Gebäude, in dem 19 Flüchtlinge übernachteten, ein Mann aus Benin erstochen. FTDES-Direktor Alaa Talbi berichtete der spanischen Tageszeitung El País, Tausende Schwarze würden verzweifelt versuchen, Tunesien zu verlassen — entweder nach Europa oder, wenn das nicht ging, in ihre Herkunftsländer.

Jagd auf Migrantinnen

Das war der Zeitpunkt, als die Lage endgültig eskalierte. Am 1. Juli begannen tunesische Repressionskräfte, in Sfax und umliegenden Ortschaften willkürlich Schwarze aufzugreifen, darunter auch offiziell registrierte Flüchtlinge mit legalem Aufenthaltsstatus und mindestens zwei Studierende. Sie wurden dabei begeistert unterstützt von zahllosen Privatpersonen. Einwohnermilizen errichteten Barrikaden, um Schwarze aufzuhalten, traten Türen zu Wohnungen von Flüchtlingen ein, zerrten diese aus ihren Häusern. Beobachterinnen berichteten entsetzt, in Sfax werde kaltblütig „Jagd auf Migranten“ gemacht, um die Stadt zu „säubern“. Flüchtlinge wurden, häufig unter Anwendung brachialer Gewalt und unter dem Jubel von Anwohnerinnen, zunächst in Transporter gezerrt und auf Polizeiwachen gebracht, dort dann von Einheiten der Nationalgarde und der Armee in Busse gestopft und an die Landesgrenze verschleppt. Geschätzt 500 fanden sich unversehens in einem Wüstengebiet an der tunesisch-algerischen Grenze wieder, wohl bis zu 1.200 in einer anderen Wüstenregion an Tunesiens Grenze zu Libyen, darunter Kinder und schwangere Frauen.

Von den Schwarzen, die an der Grenze zu Libyen ausgesetzt wurden, wurde rasch bekannt, dass den meisten ihre Mobiltelefone abgenommen worden waren; sie hatten keinerlei Chance mehr, Hilfe zu rufen. Verzweifelt irrten sie bei Temperaturen von bis zu 50 Grad Celsius ohne Schutz, ohne Lebensmittel und ohne Wasser durch die Wüste, wurden auf der Suche nach einem Ausweg immer wieder von tunesischen oder auch libyschen Grenzern zurückgewiesen. Verschiedene private Hilfsorganisationen und der Libysche Rote Halbmond setzten alles daran, ihnen Unterstützung zukommen zu lassen; manchmal gelang das, manchmal erbarmten sich auch libysche Grenzer, oft aber war beim besten Willen kein Durchkommen. Ende Juli fanden Helferinnen im glühenden Sand neben einem verdorrten Strauch die Leiche der 30-jährigen Fati Dosso und ihrer sechsjährigen Tochter Marie; sie waren am 16. Juli in der Wüste ausgesetzt worden und verdurstet. Fotos von ihnen machten auf sozialen Medien die Runde. Bis Ende September wurden insgesamt 27 tote Flüchtlinge in Tunesiens Grenzgebiet zu Libyen gefunden; 73 weitere Flüchtlinge waren noch verschollen.

„Cash for migrants“

Am 16. Juli, während tunesische Repressionskräfte Fati Dosso und ihre Tochter Marie in der sengenden Wüste in den Tod schickten, traf in angenehm klimatisierten Räumen in Tunis, mit Speisen und Getränken bestens versorgt, Team Europe ein. Team Europe, so der PR-Jargon der EU, das waren in diesem Fall Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Italiens ultrarechte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni von den Fratelli d’Italia und der rechtsliberale niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, dessen Regierungskoalition zehn Tage zuvor zerbrochen war — und zwar an nicht zu kittenden Differenzen in der Flüchtlingspolitik. Team Europe hatte in exakt dieser Zusammensetzung bereits am 11. Juni die tunesische Hauptstadt besucht, um dort mit Präsident Saïed, einem Mustervertreter der von der EU stets lauthals gepriesenen demokratischen Werte, etwas Ähnliches auszuhandeln wie zuvor bereits im Jahr 2016 mit dem Musterdemokraten und weltbekannten Wertefreund Recep Tayyip Erdoğan: eiserne Flüchtlingsabwehr gegen einen Batzen Geld.

Konkret: Team Europe unterzeichnete am 16. Juli in Tunis eine Absichtserklärung, die als Gegenleistung für verlässliches Aufhalten von Flüchtlingsbooten die Zahlung von satten 785 Millionen Euro an Tunesien vorsah — „cash for migrants“, so charakterisierten Beobachter feinfühlig den Deal. 105 Millionen sollten direkt in die Flüchtlingsabwehr fließen, 380 weitere Millionen in ein Unterwasser-Stromkabel, das Tunesiens Stromnetz eng an dasjenige der EU anbinden wird; es dient strategischen Zwecken und ist schon lange geplant — doch wenn man die Summe in den „cash for migrants“-Deal einrechnet, sieht dieser halt erheblich besser aus. Ähnlich verhält es sich mit einem Glasfaserkabel, das im Rahmen des Deals aus Südeuropa nach Tunesien gelegt werden soll; die Kosten: 150 Millionen Euro. Man habe „sehr hart gearbeitet“, um „schnell ein starkes Paket zu liefern“, eine „Investition in unseren geteilten Wohlstand, in Stabilität und in künftige Generationen“, lobte sich von der Leyen; Brüssel sprach von einer „umfassenden strategischen Partnerschaft“.

Mitte September schien dann auch ganz praktisch Bewegung in die Sache zu kommen. Medien berichteten aus Sfax, dort habe die Polizei erneut begonnen, Tausende Flüchtlinge aufzugreifen, sie in Busse zu stecken und an verschiedene Orte zu verfrachten. Einige der Orte kenne man nicht, einen recht speziellen aber schon: Al Amra etwas nördlich von Sfax; eine Stelle, von der besonders viele Flüchtlinge in Booten nach Europa aufbrächen. Wurde da ein letzter Schwung auf den Weg gebracht? Wenige Tage später, am 22. September, kündigte die EU-Kommission an, sie werde nun die ersten 127 Millionen Euro an Tunis überweisen; die Regierung dort solle damit unter anderem Boote und Wärmebildkameras kaufen, um künftig effizienter gegen Flüchtlinge einschreiten zu können. Die Dinge gingen offenbar ihren Gang. Wie hatte es doch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell im Oktober 2022 formuliert? „Europa ist ein Garten“, hatte er geäußert: „Alles funktioniert. Es ist die beste Kombination aus politischer Freiheit, wirtschaftlichem Wohlstand und sozialem Zusammenhang, die die Menschheit hat schaffen können.“ „Der Rest der Welt aber“, hatte Borrell ergänzt, „ist nicht wirklich ein Garten.“ Nein, „der größte Teil des Rests der Welt ist ein Dschungel, und der Dschungel könnte in den Garten einfallen.“ Also muss man ihn daran hindern. Das hat, falls alles so läuft, wie es soll, Team Europe in gedeihlicher Kooperation mit Kaïs Saïed getan.

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