PM Cheung

„Der Mord war der traurige Anlass zur Gründung unserer Gruppe“

Zum 20. Todestag von Thomas Schulz

LOTTA sprach mit drei Mitgliedern der ehemaligen „Antifaschistischen Union Dortmund“ anlässlich des 20. Todestag von Thomas Schulz über die Erinnerung an Opfer rechter Gewalt, antifaschistische Gedenkpraktiken und die Geschichte der Gruppe.

Die „Antifaschistische Union Dortmund“ hat sich 2018 aufgelöst. Wie kam es dazu, dass ihr Ende März 2025 zu einer Demonstration in Dortmund aufgerufen habt?

Lara: Das hatte mehrere Gründe: Der wichtigste war wohl der 20. Todestag von Thomas Schulz, der 2005 von einem Neonazi in Dortmund erstochen wurde. Bis 2015 haben wir jährlich eine Demonstration gegen rechte Gewalt organisiert. Doch seither drohte die Erinnerung an die Tat zusehends zu verblassen – auch bei einer jüngeren Antifa-Generation. Daher war es uns wichtig, diese wieder mit einer Demonstration in das öffentliche Bewusstsein zu rücken. Ein anderer Grund war die aktuelle politische Entwicklung: Das Erstarken rechter Bewegungen auf der Straße und in den Parlamenten sowie der um sich greifende antisemitische Wahn haben dazu geführt, dass einige von uns wieder aktive antifaschistische Arbeit machen wollten. Diese Themen spielten ja auch bei der Demonstration eine Rolle, insofern passte es zusammen, dass wir uns an der Or-ganisation beteiligt haben.

Welche Rolle spielte der gewaltsame Tod von Thomas Schulz vor 20 Jahren für euch als Gruppe?

Tobias: Der Mord an Thomas Schulz war der damalige Höhepunkt einer ganzen Reihe von Gewalttaten der Dortmunder Nazi-Szene. Gleichzeitig war es der Moment, in dem uns bewusst geworden ist, dass es nach Auflösung der Antifa-Nord wieder eine organisierte Gruppe braucht, um die Grundlage für linke Räume und Politik in Dortmund zu schaffen. Es war der Ausgangspunkt dafür, dass sich Menschen mit sehr heterogenen Ansichten in einer Gruppe organisiert haben. Die Wahrnehmung, dass es jeden hätte treffen können, derdie gegen Nazis aufsteht, und auch unsere persönlichen Auseinandersetzungen mit Nazis, die wir damals erlebten, waren ausschlaggebend für die Gründung unserer Gruppe.

Sascha: Kurz gesagt, der Mord war also der traurige Anlass zur Gründung unserer Gruppe. Zudem haben uns die Beschäftigung mit dem Gedenken an Thomas Schulz, wie auch die politische und handfeste Auseinandersetzung mit dem Szene-Umfeld des Täters über die Jahre stark begleitet und geprägt.

Es gab von verschiedenen Seiten auch Kritik der Vereinnahmung des Gedenkens an Thomas Schulz. Welchen Charakter hatte die von 2005-2015 jährlich stattfindende „Schmuddel-Demo“ für euch?

Lara: Aus meiner Sicht war der Charakter eine Antifa-Demo, bei der wir versucht haben, die Erinnerung an Thomas Schulz in eine Kritik und Analyse rechter Gewalt und ihrer Verhältnisse einzubetten. Auch wenn es um den Mord an einem Menschen ging, hatten wir weniger die Person Thomas Schulz im Fokus, sondern stärker die Tat als Ausdruck tödlicher rechter Gewalt. Schließlich wollten wir ja gerade keine Glorifizierung seiner Person betreiben. Ich kann ein Stück weit nachvollziehen, dass uns da von außen betrachtet eine Instru-mentalisierung vorgeworfen wurde, aber auf der anderen Seite haben wir das Gedenken an Thomas Schulz ja nicht für andere Themen oder Inhalte „missbraucht“, daher trifft die Kritik aus meiner Sicht nur bedingt zu.

Sascha: Wir hatten zudem nie den Anspruch, das Gedenken an Thomas „Schmuddel“ Schulz exklusiv auszurichten. Die alljährliche Demo wurde weitgehend von unserer Gruppe getragen und sie war Teil unserer politischen Arbeit, ja. Dadurch wurde das Gedenken an den Mord vor allem mit uns in Verbindung gebracht. Es gab aber noch vielfältige weitere Aktionen, wie die regelmäßige Kundgebung an der Kampstraße zum Todestag, provisorisch angebrachte Gedenktafeln, Straßenumbenennungen etc.

Es gab spätestens 2012 einen Paradigmenwechsel, hin zu einer antifaschistischen Gedenkdemo an alle Opfer rechter Gewalt. Wie kam es dazu?

Lara: Ein Auslöser dafür waren die im Jahr zuvor bekannt gewordenen Morde des NSU. Auch in Dortmund wurde ein Mensch, der Familienvater Mehmet Kubaşık, durch den NSU und seine Helfer*innen ermordet. Wir haben auch daraufhin in der Diskussion festgestellt, dass wir die Demonstration nicht mehr allein auf die Person Thomas Schulz beschränken wollten. Stattdessen sollte es stärker um eine Solidarität mit allen Op-fern rechter Gewalt gehen. Gleichwohl blieb der Tod von Thomas Schulz der Anlass für die Demonstration.

Sascha: Ich erinnere mich, dass wir auch Diskussionen um Praktiken wie z. B. Schweigeminuten und Kranzniederlegungen geführt haben. Das sind teilweise Rituale, die Bezüge zu Religion oder Militär haben und da wollten wir neue Wege gehen. Ob dieser Paradigmenwechsel dann aber auch tatsächlich so umfassend wie beschrieben vollzogen wurde und gelungen ist, ist letztlich schwer einzuschätzen.

2015 wurde angekündigt, dass die Demo zum letzten Mal stattfindet, warum?

Lara: Zum einen wurde es tatsächlich für uns zunehmend schwieriger, zeitliche und personelle Ressourcen in die Organisation der Demo zu stecken. Zum anderen wollten wir vermeiden, dass die Demonstration zum Selbstzweck verkommt. Am Ende läuft man Gefahr, eine Demo zu haben, die man aus Tradition veranstaltet, aber nicht mehr sinnvoll gestalten kann. Das bedeutete nicht, dass der Tod von Thomas Schulz damit in Vergessenheit geraten sollte oder rechte Gewalt als Thema abgehakt gewesen wäre. Wir haben es einfach nicht mehr als realistisch betrachtet, die Demonstration in dem gewohnten Maße fortzuführen, und waren der Meinung, dass wir so einen würdigen Abschluss von zehn Jahren Demonstrations-Geschichte schaffen können.

Welche Rolle spielten Perspektiven von Betroffenen rechter Gewalt sowie Angehörigen der Opfer im Kontext der jährlich stattfindenden Demonstrationen?

Tobias: In den ersten Jahren hatten wir Kontakt zu Freundinnen und Angehörigen von Thomas Schulz. Freundinnen haben auch bei den ersten Kundgebungen und Demonstrationen Redebeiträge gehalten. Angehörige wollten sich nicht beteiligen oder erwähnt werden, hatten aber nichts gegen unser Anliegen. Der Fokus der Demonstrationen lag wie schon angemerkt meiner Erinnerung nach nie in erster Linie auf der Person Thomas Schulz. Dazu wussten wir auch zu wenig über ihn und seine Geschichte. Wir hatten ja auch kein Mandat, für ihn oder seine Angehörigen zu sprechen. Es ging um die Tat und den Täter. Zu benennen, dass hier ein Nazi einen politischen Gegner umgebracht hat und aus welchem Klima die Tat erfolgte, das war uns wichtig. Vor allem zu einem Zeitpunkt, an dem rechte Gewalt in der Stadtgesellschaft geleugnet oder kleingeredet und quasi als Rivalität unter Jugendlichen abgetan wurde.

Lara: Grundsätzlich sind uns die Betroffenenperspektiven wichtig gewesen, wir haben diese aber nicht zum Fixpunkt der jährlichen Demonstration gemacht, der Schwerpunkt war ein anderer. Das ist vielleicht auch ein wesentlicher Unterschied zu heutiger Erinnerungsarbeit an Opfer von rechter Gewalt, bei denen die Angehörigen stärker im Zentrum stehen. Diese Möglichkeit bestand zum damaligen Zeitpunkt nicht. Insofern haben wir die Demo stärker auf die Benennung und Analyse rechter Gewalt ausgerichtet.

Sascha: Es gehört auch zu unserer Autonomie als Gruppe, unsere eigenen politischen Narrative und Erinnerungspraktiken zu schaffen. Damit meine ich natürlich nicht, dass man Betroffene und ihre Anliegen ignorieren sollte, aber unabhängig von persönlichen Erfahrungen ging es uns als autonome Gruppe auch darum, unsere Sicht z. B. auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Ursachen für rechte Gewalttaten zu erzählen. Die kann sich an vielen Stellen von denen potentieller Opfer grundlegend unterscheiden. Es geht meiner Auffassung nach bei linksradikaler Erinnerungsarbeit vielmehr darum, eine eigene Herangehensweise zu entwickeln, die über die individuelle Leidensgeschichte hinausgeht und systemische Ursachen in den Blick nimmt.

2006, nur ein Jahr nach dem Tod von Thomas Schulz, wurde Mehmet Kubaşık in seinem Kiosk erschossen. Habt ihr die Demonstration „Kein 10. Opfer“ wahrgenommen und gab es zu dieser Zeit einen Austausch mit migrantischen Gruppen?

Tobias: Ja, klar haben wir das wahrgenommen. Es gab zu dieser Zeit Treffen mit kurdischen und türkischen Linken, weil es zeitgleich auch zu Angriffen auf eine Moschee in der Nordstadt kam. Dort war dann auch die Demonstration ein Thema. Bei der Einordnung der Angriffe waren sich die Gruppen aber nicht einig. Hinzu kam, dass wir auch hier keine engere Zusammenarbeit mit autoritären Organisationen eingehen wollten, mit denen wir keine politischen Gemeinsamkeiten über ein „gegen Nazis sein“ hinaus hatten. Dennoch haben wir den Mord an Mehmet Kubaşık nicht frühzeitig als Tat von Nazis erkannt.

Sascha: Neben den nicht immer einfach zusammenzubringenden unterschiedlichen politischen Ansichten spielen meiner Einschätzung nach auch unterschiedliche Lebenswelten der relevanten Akteur*innen eine Rolle. Menschen, die aus verschiedenen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontexten kommen, haben oft unterschiedliche Prioritäten oder gehen ihre politischen Kämpfe anders an.

Lara: Ich persönlich hab auch Schwierigkeiten mit dem Begriff „migrantisch“, weil der oft sehr pauschal benutzt wird. Es gibt eine riesige Vielfalt innerhalb von migrantischen Communitys, genauso wie innerhalb von Antifa-Gruppen. Nur weil eine Gruppe „migrantisch“ ist, heißt das noch lange nicht, dass sie automatisch dieselben politischen Ziele hat oder dieselben Strategien verfolgt wie eine antifaschistische Gruppe. Da gibt’s viele Überschneidungen, aber auch sehr viele Unterschiede.

Als Gruppe habt ihr in euren Aufrufen immer einen Fokus auf die Kritik der „Dortmunder Zustände“ gelegt. Seid ihr auch in Bündnissen aktiv gewesen?

Lara: Wir sind vereinzelt in Bündnissen aktiv gewesen, die zu bestimmten Themen gearbeitet oder Demos organisiert haben. Wir haben zum Beispiel die „No more Lies“-Kampagne von Antifa-Gruppen aus NRW gegen die Koran-Verteilung von SalafistInnen in Fußgängerzonen unterstützt und waren etwa im bundesweiten Bündnis „Imagine there`s no deutschland“ aktiv, das mit einem eigenen Aufruf zur Demo gegen die Einheits-feierlichkeiten in Bonn 2011 mobilisiert hatte. Was wir allerdings nicht gemacht haben, war die Beteiligung an spektrenübergreifenden Bündnissen zur Verhinderung von Naziaufmärschen. Wir hatten nie Interesse daran, uns zugunsten eines vermeintlich höheren Zieles mit Gruppen zusammenzuschließen, deren Positionen wir kritikwürdig oder problematisch fanden – das galt übrigens auch für die Erinnerung an Opfer rechter Gewalt. Dies betraf z. B. israelfeindliche und antiimperialistische Gruppen, ebenso wie Akteur*innen aus dem bürgerli-chen Milieu. Wir wollten nicht auf unsere Kritik an den „Dortmunder Zuständen“ verzichten, auch nicht an den falsch eingerichteten Verhältnissen, die rechte Ideologien hervorbringen. Wir wollten nicht für ein „Alle gegen Nazis“-Event alle anderen Ideale über Bord werfen, nur um diesen Zielen gerecht zu werden. Das kam natürlich nicht überall gut an.

Tobias: Die bürgerlichen Bündnisse haben sich in Dortmund in den Nuller Jahren eindeutig von autonomen Antifa-Gruppen distanziert und als Gegenmodell inszeniert. Das galt auch für autoritäre linke Parteien – vor allem MLPD und DKP. Ortsnahe Gegenaktionen zu Naziaufmärschen wurden durch diese Zusammenschlüsse nicht organisiert und zugleich unsere Arbeit diskreditiert und erschwert. Das hatte aber nicht den gewünschten Effekt: Je mehr wir von diesen Seiten entweder als böse Linksradikale oder Antideutsche dargestellt wurden, desto größer waren unsere Demonstrationen.

Ihr wurdet als Gruppe häufig als „antideutsch“ gelabelt und habt damit gewissermaßen eine Leerstelle in Dortmund hinterlassen. Wie nehmt ihr die Entwicklung der linken Szene(n) seit dem 7. Oktober 2023 wahr?

Tobias: Diesen Begriff würde wohl nur ein Teil der ehemaligen Gruppe für sich affirmativ reklamieren. Wir waren wesentlich heterogener als das von außen wahrgenommen wurde.

Sascha: Ich würde ebenfalls behaupten, dass es innerhalb eines gewissen linksradikalen Kanons schon eine Vielfalt an politischen Ansätzen gab und wir intern oft intensiv diskutiert haben, wie wir uns positionieren.

Lara: Ich würde schon sagen, dass unsere inhaltliche Ausrichtung häufig die Kritik an Antisemitismus und Antizionismus, die Folie des Postnazismus für die Analyse von Gesellschaft und Ökonomie oder die Orientierung an sozialpsychologischen Erklärungsansätzen – auch in Bezug auf rechte Gewalt – umfasste. Damit hatten wir viele Schnittmengen mit dem, was als „antideutsche Kritik“ bezeichnet wurde, und ich glaube, das war okay für uns. Wir haben uns damit auch von bestimmten Positionen und Haltungen in der Linken abgegrenzt. Das wurde in der Form nach unserer Auflösung meines Erachtens so nicht fortgeführt. Gleichzeitig denke ich, dass in Dortmund durch unsere Arbeit und Kritik eine Art Minimalkonsens in der Antifa-Szene entstanden ist, welcher allerdings auch gerade von sogenannten „roten Gruppen“ torpediert wird. Das antisemitische Massaker der Hamas am 7. Oktober hat bei einigen von uns aber auch nochmal den Willen gestärkt, wieder politisch aktiver zu werden und diese mögliche Leerstelle in Dortmund zu füllen.

Tobias: Ich habe seit dem 7. Oktober sehr mit mir gekämpft, ob ich mich angesichts der antisemitischen Ausfälle von Linken noch selber links nennen kann. Positiv habe ich dabei aber die Dortmunder Antifa-Szene erlebt. Die Solidarität mit den Opfern der Hamas und die Präsenz bei den Kundgebungen gegen Antisemitismus waren ein wichtiges Zeichen. Trotzdem zeigt sich auch in Dortmund, dass der von Lara erwähnte bisher hegemoniale Minimalkonsens, dass israelfeindliche und antisemitische Positionen nicht toleriert werden, weiter verteidigt und durchgesetzt werden muss.

Sascha: So wie ich die Dortmunder Szene wahrnehme, konnten wir glücklicherweise vermeiden, dass sich neue große Trennlinien gebildet haben. Denn die bestehenden Differenzen zwischen den Akteur*innen waren durch die jahrelangen Debatten größtenteils schon geklärt, was geholfen hat, auch weiterhin gemeinsam aktiv zu bleiben, ohne dass sich die Szene in unversöhnliche Lager aufgeteilt hat.

Zurück zu den Demos anlässlich des Mordes an Thomas Schulz: Die Zielsetzung war immer, auch auf die Ak-tualität rechter Gewalt und Verankerung rechter Ideologien in der Gesellschaft hinzuweisen, inwieweit ist das gelungen?

Tobias: In der Lokalpolitik hat sich auch durch unsere Arbeit viel verändert. Wurden rechte Gewalt und Aktionen von Nazis in den Jahren um 2005 herum ignoriert und verharmlost, wandelte sich die Einstellung der Stadtgesellschaft und der Politik hin zu dem Bewusstsein, dass gehandelt werden muss. In den ersten Jahren haben wir das Thema immer wieder erfolgreich platziert und so die Stadt und die Polizei zum Handeln gezwungen.

Sascha: Vor 20 Jahren gab es noch keine spezialisierte Opferberatung, keine Koordinierungsstelle und auch keine spezifischen Handlungskonzepte der Polizei. Nicht, dass wir das alles kritiklos begrüßen, aber es macht schon deutlich, dass Stadtverwaltung, Behörden und Zivilgesellschaft in Dortmund sich anders aufgestellt haben. Selbstkritisch würde ich bezüglich unserer gesellschaftspolitischen Programmatik allerdings ernüch-ternd feststellen, dass wir mit unserer „Szene-Demo“ da kaum irgendwen von unseren Vorstellungen überzeugt haben dürften. Das scheint mir aber ein generelles Vermittlungsproblem der oldschool antifa zu sein.

Vielen Dank für das Interview!

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Antifeminismus

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Linke

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