Der gesellschaftliche Rechtsruck
Möglichkeitsbedingungen und Auswirkungen der Wahlerfolge der AfD
Spätestens seit 2015 schwirrt der Begriff des Rechtsrucks durch die politische Landschaft Deutschlands. Aber was meint das? Welche politischen und gesellschaftlichen Veränderungen gab es? Was begünstigte die Wahlerfolge der AfD, und wie können wir als Antifaschist_innen damit umgehen?
Ziemlich prompt nach dem „Summer of Migration“ und dem bürgerlichen Lob der „Willkommenskultur“ konnten wir sehr genau beobachten, was „Reaktion“ heißt. Progressive Tendenzen wurden weggewischt, es begann eine mediale und politische De-Normalisierung von Flucht und Migration mit völkisch-nationalistischen und vor allem kulturalistischen Untertönen. Wo vorher von einer „offenen Gesellschaft“ die Rede war, die freilich so offen nie war, kehrten die alten Rufe nach „Leitkultur“, Abschottung und Abschiebung wieder ein. Wir konnten ein politisches Schauspiel beobachten, in dem die konservativ-neoliberale Angela Merkel dem konservativ-traditionalistischen Horst Seehofer gegenübergestellt wurde, als handle es sich um zwei gegensätzliche Pole der Gesellschaft. Der Großteil der bürgerlichen Gesellschaft spielte in diesem Schauspiel mit. Die einen stellten sich hinter Merkel, um sie gegen die Angriffe von rechts zu verteidigen, die anderen attackierten sie mit Seehofer von rechts. Mehr Platz blieb nicht auf der politischen Bühne.
Die Debatte um Flucht und Migration
Das war wohl der drastischste Ausdruck des Rechtsrucks: die Vereinigung des gesamten bürgerlichen Spektrums hinter zwei konkurrierenden konservativen Positionen, die gleichsam zusammen Asylpaket um Asylpaket schnürten. Die taz schrieb 2015, dass Frau Merkel flüchtlingspolitisch linksaußen stehe und es bezüglich dieses Themas keine Politik links der Kanzlerin brauche. Wer an politische Strategien glaubt, wird sagen, dass die Inszenierung dieser Fehde eine Glanzleistung der Union war. Doch wenngleich wir es hier ein Stück weit mit politischen Inszenierungen zu tun haben, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es durchaus politische Differenzen innerhalb des bürgerlichen Lagers gibt. Geht es beispielsweise um Migration, konkurrieren Prinzipien des neoliberalen Migrationsmanagements mit denen der kulturalistisch begründeten Abschottung. Und beide Optionen lassen Räume für die AfD entstehen, die die neue extrem rechte Partei für sich und ihre Anliegen zu nutzen wusste und weiß. Während neoliberale Modernisierungstendenzen in konservativen Spektren der AfD eine plakative Abgrenzung gegen das „Establishment“ vor allem im kulturellen Bereich ermöglichen, eröffnen ihr Normalisierungen völkisch-nationalistischer und rassistischer Positionen innerhalb des Mainstreams diskursive Anschlussmöglichkeiten. Der Rechtsruck fand innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft statt, insofern, als dass Tabus fielen und neue Sagbarkeiten entstanden. Die De-Normalisierung von Migration durch die bürgerlichen Medien schenkte der AfD schließlich das Thema, das sie brauchte. Und die Reformulierung völkischer Positionen in „der Mitte“ machte ihre Positionen normal, sag- und wählbar.
Punkte für die AfD
Dies war sicherlich nicht die einzige Möglichkeitsbedingung für die Wahlerfolge der AfD. Seit etlichen Jahren bemühen sich „neurechte“ Zirkel, vor allem kulturell zu wirken. Sie nennen das „Metapolitik“ oder auch „Kulturrevolution von rechts“. Kontroversen um die Literaten Michel Houellebecq und jüngst Uwe Tellkamp sowie die Präsenz rechter Verlage auf den Buchmessen und im Diskurs weisen darauf hin, dass diese kulturpolitischen Ambitionen Früchte tragen. Skandale werden aktuell nicht mehr von links produziert — was einerseits auf eine Schwäche linker Politik hinweist, andererseits auch auf die Integrativkräfte neoliberaler Politiken, gerade im kulturellen Bereich. Die Systemfrage wird heute wahrnehmbar von rechts gestellt, wobei darüber zu streiten ist, ob diese Opposition tatsächlich fundamental ist.
Die Bedingungen für die Zustimmung zur AfD sind vielfältig. Eine nicht zu unterschätzende ist wohl die bürgerliche Doppelmoral selbst. Mit Verweis auf diese lässt sich für die AfD leicht Politik machen. Im Zuge der durchaus zynischen Syrien-Reise einer AfD-Delegation, die Vertreter des dortigen Regimes traf, warfen Politiker_innen etlicher bürgerlicher Parteien der AfD vor, mit dieser Konsultation Despoten zu stärken. Es war für die AfD ein Leichtes, diese Vorwürfe zu parieren, mit einem kleinen Verweis auf die militärische und politische Zusammenarbeit der deutschen Regierung mit der Regierung Recep Tayyip Erdogans, die jüngst einen Angriffskrieg auf Rojava begann — mit deutschen Panzern. Es gibt etliche Beispiele dafür, dass die AfD durchaus gekonnt den Finger in die Wunde liberaler Politik zu legen vermag. Und was kann der bürgerliche Liberalismus schon darauf antworten, wenn ihm vorgeworfen wird, dass man zwar die Annektierung der Krim durch Russland lautstark verurteilte, während man sich bei der Annektierung Afrins vornehm zurückhielt? Die AfD schlägt ihr Kapital aus der liberalen Politik selbst. Das macht es Liberalen und auch den bürgerlichen Medien so schwer, mit dieser Partei sinnvoll umzugehen.
Dialoge
Die Schwierigkeiten im Umgang sehen wir überall. Während vor 2015 auf die Wortergreifungsstrategien der extremen Rechten mit einem weitgehenden Entzug der „politischen Bühne“ geantwortet wurde, scheint sich dies in der aktuellen Debatte um die AfD zu ändern. In der bundesdeutschen Presse sowie in staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen wird ein Dialog in Erwägung gezogen oder zumindest über die Frage eines Dialogs debattiert. Gerade die Führungspersonen der AfD erscheinen zu den besten Sendezeiten in Talkshows und Politiker_innenrunden, wobei die Einladenden oftmals hoffen, die AfD möge sich in den Diskussionen selbst diskreditieren. Die Motivation, mit AfDler_innen in einen Dialog zu treten, antwortet dabei häufig auf deren Strategie, sich als Opfer des gesellschaftlichen Mainstreams zu inszenieren. Man selbst werde ausgegrenzt, die Presse lüge (nicht nur) bei der Thematisierung von „Rechtsextremismus“, die „Political Correctness“ sei Staatsräson. Dieser Erzählung wollen gesellschaftspolitische Akteur_innen oftmals mit der Dialogoption entgegenwirken — eben „mit Rechten reden“. Damit vollziehen bürgerliche Medien aber auch eine Normalisierung der Partei, auch in der Hoffnung, man könne den einen oder die andere Wähler_in in den Schoß bürgerlicher Politik zurückholen, wenn nur die Argumente die „vernünftigeren“ seien.
Verführer und Verführte
Diese Annahme geht davon aus, dass AfD-Wähler_innen unwissend, verführt, vielleicht ungebildet oder unvernünftig seien. Wir kennen diese These — man nennt sie Deprivationsthese — und weisen sie seit Jahrzehnten zurück. Extrem rechte Überzeugungen und (Wahl-)Verhalten sind kein Ausdruck von Besorgnis oder sozialer Deprivilegierung, sondern Ausdruck gelebter Dominanz. Es geht um die Verteidigung von Vorrechten für Männer, Deutsche, Christ_innen, Heterosexuelle und ja, Reiche. Nicht umsonst kündigte die neue österreichische schwarz/blaue Regierung als nahezu ersten Akt ihres Regierungshandelns die Anhebung der Höchstgrenze der Arbeitszeit auf 12 Stunden täglich und 60 Stunden wöchentlich, steuerliche Entlastungen für Unternehmen und Immobilienbesitzer_innen und einen an die Agenda 2010 erinnernden Umbau der Sozialhilfe an. AfD-Wähler_innen haben sich nicht kurzfristig verlaufen. Seit Jahren zeigen Studien auf, dass die Zahl derer, die in Deutschland ein „geschlossen rechtsextremes Weltbild“ haben, je nach Definition bei zwischen 5 und 20 Prozent liegt. Diese Bevölkerungsgruppe hat in den letzten Jahren in der AfD ihre Partei gefunden. Der Rechtsruck, der im Zusammenhang mit den Wahlerfolgen der AfD thematisiert wird, ist folglich nicht so zu verstehen, dass Teile der Bevölkerung plötzlich „rechts“ geworden sind oder aus bloßer Frustration heraus mit der AfD sympathisieren.
Zukunftsperspektiven
Entsprechend ist auch nicht davon auszugehen, dass der Spuk so ganz bald wieder vorbei sein wird — zumal wir es keineswegs mit einem auf Deutschland beschränkten Problem zu tun haben. Wenn wir uns in Europa und den USA umschauen, wird der bereits angesprochene Machtkampf im hegemonialen Block zwischen nationalistischen Traditionalist_innen und neoliberalen, smarten Modernisierer_innen noch deutlicher — wobei sich freilich beide Tendenzen beim je anderen bedienen. Beide Richtungen trennen sich nicht in „Mitte“ und „extreme Rechte“, sondern ziehen sich quer durch bürgerliche Parteien. Die Normalität, mit der extrem rechte Positionen im deutschen Parlament und in den Landtagen zu hören sind, lässt sich so einfach nicht wieder rückgängig machen. Das gesellschaftliche Tabu, in Deutschland extrem rechts zu wählen, ist Geschichte. Das hat sicherlich etwas von einer Zäsur. Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass ein Chef einer „Tafel“ in Essen offen verkünden und verteidigen kann, „nicht-deutsche“ Neuzugänge nicht mehr aufzunehmen. Das gesellschaftliche Klima lässt das zu. Erstaunlich daran ist nur, dass es öffentlich kaum wer wagte, dies als das zu benennen, was es ist: Rassismus. Dem immer wieder erhobenen Vorwurf, angeblich undifferenziert die „Rassismus-Keule“ zu schwingen, will man offenbar vorbeugen, indem man Rassismus schlicht gar nicht mehr benennt. Und diese Nichtbenennung schafft das gesellschaftliche Klima, in dem Rassist_innen kritiklos agieren können. Der defensive Umgang mit der AfD und ihren politischen Positionen und der zwanghafte Wunsch nach Dialog erscheinen als vorauseilender Gehorsam und sind alles andere als eine Kampfansage an sich immer weiter verbreitende völkisch-nationalistische Standpunkte. Der Rechtsruck hat sich mit der AfD institutionalisiert und wirkt spürbar auch in anderen politischen Spektren . Wer hätte schon vor fünf Jahren gedacht, dass es 2018 ein Heimatministerium geben wird?
Auswirkungen der Misere
Die Folgen dieser Entwicklungen bemerken wir auf vielen Ebenen. Zum einen macht die AfD Druck, vor allem gegen staatlich finanzierte Projekten gegen rechts, die nach und nach Maulkörbe erhalten. Sie sollen nicht mehr uneingeschränkt über die AfD aufklären dürfen, denn es handle sich bei dieser schließlich um eine verfassungsrechtliche, demokratisch gewählte Partei. Wir merken den Einfluss der Partei auf der Straße, etwa bei den Demonstrationen in Kandel, oder in den Parlamenten, und wundern uns kaum noch, wenn im Bundestag etwa verlautbart wird, die vermeintlich unschuldige deutsche Außenpolitik folge nun leider US-amerikanischen und israelischen Interessen. Wir merken es bei Anfragen zum Thema „Linksextremismus“, und wir merken es, wenn die Strategie der AfD auch innerhalb der bürgerlichen Presse so schrecklich gut aufgeht. Ende Januar konnte man in einem Tagesschau-Artikel lesen, dass der 31. Januar ein wahrlich guter Tag für den Parlamentarismus in Deutschland gewesen sei. An diesem Tag nämlich übernahm die AfD die Vorsitze von drei Ausschüssen. Und genau das, so die NDR-Kommentatorin, sei auch gut so, denn nun werde niemand mehr der AfD die Opferrolle abkaufen. Dass sich die AfD dennoch auch weiterhin als Opfer inszeniert, wundert indes nicht, ist es doch eben diese Strategie, die ihr stets Erfolg verspricht. Applaus bekommt sie in diesem Fall nun nicht mehr nur von ihrer Anhänger_innenschaft, sondern auch von den ihr so verhassten Liberalen. Gleichzeitig bemerken wir den Rrechtsruck auch in bürgerlichen Politiken. Die neuen Polizeigesetze wurden eben nicht von der AfD verabschiedet, sondern Bundesland um Bundesland von den restlichen Parteien. Auch die Asylpakete sind keine Erfindungen der AfD, und die angekündigten weiteren Drangsalierungen von Erwerbslosen hat sich die SPD ganz alleine einfallen lassen. Der Rechtsruck findet eben nicht nur in dem Erstarken der AfD Ausdruck, sondern auch in aktuellen Regierungspolitiken. Mitte März wurde Alice Weidel in einem Tagesschau-Interview gefragt, ob es für die AfD nicht parteipolitisch schädlich sei, wenn die neue große Koalition ihre flüchtlingspolitischen Positionen zu weiten Teilen übernimmt. Weidel reagierte recht gelassen und wies darauf hin, dass es noch mehr Positionen der AfD gebe, die es umzusetzen gelte.
Antifaschismus in Zeiten des Rechtsrucks
Wir können damit rechnen, dass antifaschistische beziehungsweise linksradikale Politik generell verstärkt als Feindbild wahrgenommen wird, zumindest dann, wenn sich Antifaschist_innen und andere nicht auf die liberalen Integrationsangebote einlassen, also auf den beschränkenden Rahmen, der der „Opposition“ zugestanden wird: Parteigründungen, Protest, Kritik, vielleicht sogar Ungehorsam. Die Linksextremismusforschung boomt, Publikationsprojekte werden verboten, Strukturen durchleuchtet, und die Justiz macht mit knallharten Urteilen Politik. Mobilität wird schwieriger werden, je weiter die Überwachung fortschreitet, die Präventivhaft ist eingeführt, die elektronischen Fußfesseln als Präventivmaßnahme werden kommen. Das sind alles nicht gerade rosige Aussichten. Auf der anderen Seite winkt das bürgerliche Angebot: Gemeinsam im Kampf gegen die AfD zusammenzuarbeiten. Die Integrationsmaschine läuft und findet hier und da Gewillte, beispielsweise dann, wenn die bürgerlichen Medien in Schutz genommen werden vor den Angriffen der Rechten. Aber warum die rassistischen Äußerungen der AfD über Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, in den Fokus nehmen, wenn nicht gleichsam die in den Fokus genommen werden, die für das Ertrinken verantwortlich sind, für die sich rassistische Äußerungen aber vornehm verbieten?
Dieses Spiel abzulehnen, heißt auch, den Ort der Opposition abzulehnen, die gemeinsame vernünftige Debatte. Es hieße, aus dem liberalen Diskurs „auszusteigen“, einen Ort zu finden jenseits der Mitte samt ihren legitimen Rändern.
Der Punkt, der in den letzten Jahren an die extreme Rechte ging, ist der harte Angriff gegen den Liberalismus. Rechte inszenieren sich als fundamentale, also nicht als immanente Systemopposition. Wenn Rechte einen „Marsch auf Berlin“ ankündigen, so sind sie sich der historischen Dimension dieser Ankündigung wohl bewusst. Sie stellen damit die Systemfrage. Und genau das macht sie attraktiv für all diejenigen, die vom Glücksversprechen der bürgerlichen Gesellschaft kein Glück mehr erwarten. Die AfD ist für gar nicht wenige die Alternative, vielleicht auch, weil keine anderen, tatsächlich fundamentalen Alternativen sichtbar sind.